»Nur der Unsinn gibt der Zukunft Inhalt« – Futurismus und Wort-Bild-Kunst der russischen Avantgarde in Tiflis 1917–1921
Vera Faber
Mit der Oktoberrevolution und dem Kampf um eine neue Kunst ging die fast vollständige Auflösung des russischen Futurismus einher. Während dieser in der Sowjetunion eine vereinnahmende Wiederauferstehung als Agitationskunst erlebte, fand seine ursprüngliche Form im menschewikischen Tiflis mit der Gruppe »41°« eine radikale, vielseitige und produktive Fortführung, die hier erstmals unter dem Aspekt ihrer Intertextualität umfassend erschlossen wird: Besonderes Augenmerk wird auf die Wort und Bildkunst gelegt, die theoretisch proklamiert und poetisch realisiert wurde.
Igor’ Terent’ev nimmt dabei aufgrund seiner konzeptionellen Arbeiten und konsequenten Ablehnung von Logik und Sinn eine zentrale Position ein. Wenngleich seine poetischen Werke nicht immer durch Originalität oder Ästhetik bestechen – und im Sinne ihrer antikünstlerischen Ausrichtung auch gar nicht sollten –, so läßt sich an ihnen doch gut veranschaulichen, wie die proklamierten Verfahren in die poetische und typographische Praxis umgesetzt wurden. Neben Terent’ev (1892–1937) – der dem stalinistischen Terror zum Opfer fiel – setzte sich 41° aus dem einstigen Kubofuturisten Aleksej Kručenych (1886–1968) sowie Il’ja Zdanevič (1894–1975), einem früheren Mitglied der Künstlervereinigung »Eselsschwanz«, zusammen. Kručenych entwickelte in diesem fruchtbaren Umfeld in Tiflis seine Zaum’-Arbeit konsequent weiter. Zdanevič durchlief einen Entwicklungsprozeß vom reinen Theoretiker zum vielseitigen Wort-BildKünstler, dessen typographische Arbeiten auch international große Beachtung fanden. Der wechselseitige Einfluß der drei Künstler werden ebenso aufgezeigt wie auch die Analogien, die zum Schaffen von Vertretern metalogischer Strömungen in Westeuropa bestehen.