Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet
OPEN FOR MAINTENANCE – WEGEN UMBAU GEÖFFNET
Open for Maintenance ist keine Ausstellung. Es ist ein Handlungsansatz für eine Baukultur jenseits der vorherrschenden Ausbeutung von Ressourcen und Menschen. Im Fokus stehen gebrauchte Materialien von über 40 verschiedenen Länderpavillons der Kunstbiennale 2022 sowie ein breites Netzwerk venezianischer und deutscher Initiativen. Durch den behutsamen Umgang mit dem, was bereits materiell, sozial und urban vorhanden ist, macht der Deutsche Pavillon Prozesse der räumlichen und sozialen Sorgearbeit sichtbar, die normalerweise dem Blick der Öffentlichkeit entzogen sind.
Open for Maintenance ist eine Instandbesetzung des Deutschen Pavillons „as found“, das heißt samt der Arbeit Relocating a Structure der Künstlerin Maria Eichhorn für die Kunstbiennale 2022. Kunst- und Architekturbiennale werden auf diese Weise erstmals räumlich und programmatisch miteinander verwoben. Die neuen baulichen Eingriffe orientieren sich an lokalen Bedarfen und umfassen eine inklusive Rampe, einen ökologischen und diskriminierungsfreien Sanitärraum, einen Versammlungsraum, eine Teeküche, ein Materialdepot und eine Werkstatt. Die Interventionen bestehen aus dem gesammelten Material der Kunstbiennale 2022 und greifen neben der Ressourcenfrage auch Themen der gesellschaftlichen und räumlichen Inklusion auf.
Open for Maintenance verwandelt den repräsentativen Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Gruppen werden von hier aus Studierende und Auszubildende des Handwerks im Rahmen des sechsmonatigen Werkstatt-Programms Maintenance 1:1 soziale Infrastrukturen in Venedig pflegen, reparieren und instand(be)setzen. Das Entwerfen mit dem Unplanbaren in materieller und partizipativer Hinsicht eröffnet optimistische Gestaltungsmöglichkeiten für die Architektur und trägt zugleich zu ihrer Erneuerung als soziale Praxis bei.
DIE RAMPE
In Kooperation mit FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER + Goethe-Institut / Performing Architecture, Rebiennale / R3B
1938 baute der Architekt Ernst Haiger den 1909 errichteten Bayerischen Pavillon entsprechend der NS-Ideologie zu einer Monumentalarchitektur um. Seitdem prägen vier mächtige, kannelierte Pfeiler in der dorischen Ordnung den Portikus, den man über fünf Stufen betritt. Der Bau ist Träger einer Architekturideologie, die von Überlegenheit, Herrschafts- und Machtanspruch kündet. Alle, die nicht der Norm entsprechen, sind ausgeschlossen. Dies ist nicht nur politisch und kulturell gemeint, sondern auch ganz physisch: Der hier angewendete Klassizismus hat sich immer schon den gesunden – im Nationalsozialismus am rassistischen Idealbild orientierten – Körper zum Maßstab genommen. Andere Formen der Körperlichkeit wurden negiert.
Open for Maintenance versteht die Reparatur bestehender Bausubstanz auch als Möglichkeit einer baulichen und ideologischen Korrektur, die die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen sowie ableistisch diskriminierter Körper ins Zentrum rückt. Die temporäre Umgestaltung der Eingangssituation des Deutschen Pavillons mit einer halbkreisförmigen Erschließungsrampe erleichtert sowohl Besucher*innen mit Mobilitätseinschränkungen als auch Reinigungskräften, Aufsichten und Handwerker*innen mit schwerem Gerät den Zugang. Die inklusive Rampe umschließt ein neues öffentliches Podium, das zur Eröffnung von der mixed-able FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER in Kooperation mit dem Programm-Partner Goethe-Institut aktiviert wird.
DAS MATERIALDEPOT
In Kooperation mit Rebiennale / R3B, Concular
Nach jeder Biennale werden, verborgen vor den Augen der Besucher*innen, tonnenweise Ausstellungsmaterialien mühsam von Hand, per Sackkarre und Boot durch Venedig bewegt. Nur ein Bruchteil davon wird weitergenutzt. Nicht zuletzt wegen nicht vorhandener Lagerflächen und hoher Logistikkosten – ein bekanntes Problem des zirkulären Bauens – landet das meiste Abbruchmaterial auf Müllhalden oder dem Wertstoffhof. Hier setzt der Beitrag Open for Maintenance an: Die Übernahme von Maria Eichhorns Arbeit Relocating a Structure für die Kunstbiennale 2022 direkt nach der Finissage ermöglichte den sofortigen Zugang und die Nutzung des Deutschen Pavillons als Materialdepot. Mit großem körperlichen Einsatz konnte in Kooperation mit Rebiennale / R3B Material aus über 40 verschiedenen Länderpavillons und Ausstellungen gerettet werden. Diese „Spolien“ der vorangegangenen Biennale werden Teil der baulichen Eingriffe im Deutschen Pavillon, die vollständig aus den gesammelten Resten umgesetzt sind. Mithilfe einer neugeschaffenen digitalen Datenbank, die in Kooperation mit Concular entsteht, werden die inventarisierten Materialien während der Laufzeit der Architekturbiennale im Rahmen des Werkstatt-Programms Maintenance 1:1 für die Weiterverarbeitung verfügbar gemacht.
DIE WERKSTATT
In Kooperation mit Sto-Stiftung, AIT-Dialog, Rebiennale / R3B, Hochschulen, Ausbildungsbetrieben
Die profitgetriebene Architekturproduktion ist auf Neubau statt Reparatur, auf Wachstum statt auf Erhalt ausgerichtet. Sie steht in krassem Widerspruch zu dem, was angesichts aktueller Krisen ökologisch und gesellschaftlich geboten ist. Reparatur – des Systems und der Bausubstanz – wird somit zur unumgänglichen politischen und entwerferischen Praxis. Bereits heute sind mehr als 50 Prozent der europäischen Architekturprojekte Umbau- und Sanierungsmaßnahmen. In Zukunft wird das Machen von Architektur vor allem Reparieren bedeuten. Doch Reparatur bedarf des Wissens, der Werkzeuge und Fähigkeiten, die in einer voll ausgestatteten, allen Besucher*innen offenstehenden Werkstatt im Deutschen Pavillon bereitgestellt werden. Im Mittelpunkt steht die Ermächtigung der Menschen, damit sie ihre (gebaute) Umwelt instand halten können. Ein Werkstatt-Programm mit internationalen Initiativen, Universitäten und Ausbildungsstätten schafft den Sprung in die Praxis und über die Grenzen der Biennale hinaus: In kollaborativen Projekten werden kleinere Reparaturarbeiten in und um Venedig durchgeführt. Anhand konkreter Eingriffe lernen die Beteiligten, dass in der Reproduktion des Raums die soziale Frage untrennbar mit der ökologischen verknüpft ist.
DER WASCHRAUM
In Kooperation mit Arbeitsgruppe Sanitärwende (Eawag, finizio – Future Sanitation, KanTe – Kollektiv für angepasste Technik, klo:lektiv, IGZ – Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau, urin*all u. a.), Agriluska, IDRO Group
Um den Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion verwandeln und vor Ort arbeiten zu können, wird die bisher fehlende Sanitärinfrastruktur in den Pavillon integriert. Über diesen pragmatischen Ansatz hinaus setzt der neue Waschraum zentrale Themen einer „sanitären Wende“ um: Auf ökologischer Ebene ist ein wasserbasiertes Sanitärnetz angesichts der zunehmenden Dürreperioden nicht länger tragbar. Besonders in Venedig, wo keine Kanalisation existiert und Fäkalien in den meisten Fällen ungeklärt in die Lagune gespült werden (lediglich ein kleiner Anteil der Gebäude verfügen über Klärgruben), bedarf es alternativer Lösungen, die den Wasserverbrauch drastisch reduzieren und den Stoffkreislauf schließen. Open for Maintenance setzt einen barrierefreien Prototyp für wasserlose Toiletten sowie ein Unisex-Urinal in Verbindung mit einem Urin-Reaktor ein. In Zusammenarbeit mit dem biologischen Landwirtschaftsbetrieb Agriluska im Veneto werden die Abfälle kompostiert und anschließend als Dünger verwendet (die Flüssigstoffe werden direkt im Reaktor zu Dünger verarbeitet). Auf gesellschaftspolitischer Ebene geht es im Zusammenhang mit einer solchen elementaren Bedürfnisbefriedigung wie dem Toilettengang, der Körperpflege sowie den zugehörigen Infrastrukturen der Instandhaltung und Reinigung jedoch auch um Fragen der Gerechtigkeit hinsichtlich Gender, Be_hinderung, Race und Klasse. Durch eingebaute Vorrichtungen zum Wickeln, Waschen und Reinigen wird Sorgearbeit näher thematisiert.
DIE TEEKÜCHE
In Kooperation mit Assemblea Sociale per La Casa, Centro Sociale Rivolta, ConstructLab, Haus der Materialisierung, Institute of Radical Imagination + S.a.L.E. Docks, Kotti & Co, Laboratorio Occupato Morion, Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco
Maintenance ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen spielen bei Erhalt und Pflege baulicher und sozialer Infrastrukturen eine wesentliche Rolle. Um sich auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen und zu organisieren, ist ein niedrigschwelliges Angebot an Orten der Kommunikation und der kollektiven Fürsorge von entscheidender Bedeutung. Die Teeküche von Open for Maintenance übernimmt die Rolle einer solchen kommunikativen Schaltzentrale. Hier wird das breite zivilgesellschaftliche Netzwerk des Projekts mit all seinen ökologischen, stadtpolitischen und sozialen Forderungen gespiegelt. Anhand von Plakaten, Flugblättern und weiteren gesammelten Kommunikationsmitteln von Initiativen aus Venedig und Deutschland wie Assemblea Sociale per la Casa, Centro Sociale Rivolta, Laboratorio Occupato Morion oder Institute of Radical Imagination sowie Bellevue di Monaco, Haus der Materialisierung und Kotti & Co werden die sozialen Kämpfe um das Recht auf Stadt und das Recht auf Wohnen im Original wiedergegeben und gebündelt.
DER VERSAMMLUNGSRAUM
In Kooperation mit Haus der Materialisierung, Crclr Haus (Concular, Die Zusammenarbeiter, Impact Hub Berlin, LXSY Architekten, TRNSFRM)
Open for Maintenance vermittelt keine überraschende Erkenntnis: Es ist weithin bekannt, dass der Bausektor mehr als 40 Prozent zur globalen CO2-Emission beiträgt; dass Wohnraum in urbanen Ballungsräumen zunehmend unbezahlbar wird, auch aufgrund der Touristifizierung, die im Falle Venedigs gerade durch die Biennale weiter verschärft wird; dass die sozialen und ökologischen Folgen dieser Entwicklungen jene ohnehin vulnerablen und marginalisierten Gruppen zu spüren bekommen, die auf der ganzen Welt (räumliche) Sorgearbeit leisten, den Bestand pflegen und instand halten. Es ist entscheidend, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Die aktuellen Krisen der Architektur sind nur durch neue Formen des Zusammenarbeitens von Architekt*innen, Handwerker*innen, Ingenieur*innen, Künstler*innen, Forscher*innen und der Zivilgesellschaft lösbar. Der Versammlungsraum im Deutschen Pavillon schafft ein Angebot für diesen Austausch. Hier können aber auch Besucher*innen das Gesehene und Erfahrene spielerisch reflektieren: indem sie aus Restmaterialien der Kunstbiennale nach Schnittmustern von Haus der Materialisierung eine Tragehilfe produzieren oder anhand des von LXSY Architekten gemeinsam mit Impact Hub Berlin und Concular entwickelten Brettspiels Trivial Circuit die komplexe Neuordnung des Planungsprozesses beim zirkulären Bauen nachvollziehen, die die herkömmlichen Leistungsphasen hinterfragt und ökologische und soziale Aspekte in den Mittelpunkt stellt.
Der Deutsche Pavillon macht mit dem Medium der Architektur die Maintenance-Arbeit an der Disziplin sowie am baulichen und sozialen Bestand erfahrbar. Die positive Bezugnahme auf den Begriff der Maintenance im Titel stellt sich in die Tradition einer feministischen Kunstpraxis, die den Stellenwert der alltäglich ausgeübten reproduktiven Sorgearbeiten für den Erhalt von Gesellschaften betont. Das kuratorische Konzept übersetzt den Begriff der Maintenance im Sinne architektonischer Praxen des Pflegens, Reparierens und Instand(be)-setzens, die stets von den bestehenden materiellen und sozialen Netzwerken ausgehen und in ihrer Wartung, Ertüchtigung und Transformation auf eine Wiederaneignung beziehungsweise Verstetigung dieser Strukturen zielen.
Der Beitrag bezieht sich bewusst auf Venedig als Austragungsort der Biennale, um an diesem Fallbeispiel die Notwendigkeit eines „doppelten Bewusstseins“ in der Architektur, wie Lesley Lokko es in ihrem Konzept The Laboratory of the Future für die 18. Architekturbiennale gefordert hat, zu demonstrieren: Die Architektur muss stets die konkreten Problemlagen vor Ort und deren globale Zusammenhänge im Blick haben. Ein konkretes Beispiel: Die Bevölkerungszahl Venedigs nimmt stetig ab. Viele Menschen können sich das Leben in der Lagunenstadt nicht mehr leisten. Das Problem der Verdrängung hängt mit der Kommerzialisierung des städtischen Raums durch Massentourismus, Biennalen und Event-Industrie zusammen. Zunehmend verschwinden mit dem Alltagsleben auch gemeinwohlorientierte Netzwerke der sozialen und materiellen Maintenance aus der Stadt. Gleichzeitig bilden sich aufgrund dieser Missstände eine Vielzahl an Initiativen, die sich der Probleme tatkräftig annehmen, etwa die Assemblea Sociale per la Casa (ASC), die die Praxis der Instandbesetzung aktualisiert. Denn trotz der Verdrängungseffekte stehen in Venedig über 2.200 Wohnungen der öffentlichen Hand leer und verfallen. Die ASC besetzt solche Wohnungen und setzt sie mit gebrauchtem Material der Biennalen instand, um sie anschließend an bedürftige Familien und Wohnungssuchende zu vergeben. Sie erhält damit die urbane Struktur und stabilisiert das soziale Gefüge. Damit steht sie in der Tradition der historischen Instandbesetzungen, wie wir sie etwa aus den 1980er-Jahren aus Berlin kennen. Diese Praxis, die sich im Rahmen der IBA Alt im Programm der behutsamen Stadterneuerung offiziell verstetigte, hat wesentlich zum Erhalt der historischen Bausubstanz und der gewachsenen Gemeinschaften beigetragen. Ansässigen Initiativen wie der ASC dient der Deutsche Pavillon als eine solidarische Plattform. Die gemeinschaftlichen Interventionen im Pavillon und im städtischen Raum sind dabei nicht lediglich als Kritik an den Biennalen als Format und der Architektur als Disziplin gemeint. Vielmehr legt der praxisbezogene Ansatz die Vielzahl an möglichen Handlungsoptionen zu Umbau und Gestaltung einer inklusiven und sozialökologisch nachhaltigen Stadt und Architektur offen und betont dabei die Chancen und Potentiale der anstehenden Aufgaben. Die Freude, sich mit Gleichgesinnten an diesen abzuarbeiten, steht im Zentrum des deutschen Beitrags für die Architekturbiennale 2023.
DANKSAGUNG
Der deutsche Beitrag für die 18. Architekturbiennale hat sich zu einem internationalen Projekt mit über 100 Beteiligten entwickelt. Ohne ihr Vertrauen und ihren Einsatz wäre Open for Maintenance nicht möglich gewesen. Dafür möchten wir uns bei allen bedanken, die sich engagiert und das Projekt unterstützt haben. Es sind zu viele, um einzelne hier hervorzuheben, die ausführlichen Nennungen und Danksagungen finden sich am Ende des Heftes. Doch ohne die fantastischen Teams von ARCH+, SUMMACUMFEMMER und BÜRO JULIANE GREB hätten wir das Projekt nicht umsetzen können: Elke Doppelbauer, Nora Dünser, Mirko Gatti, Anna Hugot, Sascha Kellermann, Beatrice Koch, Daniel Kuhnert, Arno Löbbecke, Victor Lortie, Vittorio Romieri, Barbara Schindler und Finn Steffens. Ihnen gebührt unser besonderer Dank.
Text: Anne Femmer, Franziska Gödicke, Juliane Greb, Christian Hiller, Petter Krag, Melissa Makele, Anh-Linh Ngo, Florian Summa