Otmar Schissel von Fleschenberg – Bernhard Seuffert
Ein ungewöhnlicher Gelehrtenbriefwechsel aus der Germanistik am Beginn des 20. Jahrhunderts
Hans-Harald Müller
Der spannungsreiche Briefwechsel zwischen Otmar Schissel von Fleschenberg (1884-1943) und Bernhard Seuffert (1853-1938) gibt den Blick frei auf ein Alleinstellungsmerkmal österreichischer Germanistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während die Germanistik im Deutschen Reich eine weltanschauliche Literaturwissenschaft als ‚Geistesgeschichte‘ favorisierte, suchten Schissel und Seuffert sie als formorientierte poetische Kunstwissenschaft zu konzipieren, auf die sich heute wieder das internationale Interesse der Literaturtheorie richtet. Der von Hermann Hettner beeinflusste international renommierte Grazer Ordinarius Seuffert trat behutsam für seine Ideen ein, der von seinem Grazer Lehrer Hugo Spitzer geprägte Innsbrucker Privatdozent Schissel genialisch und radikal: er forderte eine gänzlich neue ‚Allgemeine Literaturwissenschaft‘. Diese sollte sich nicht länger an Nationalliteraturen orientieren, sie sollte Literaturtheorie und Literaturgeschichte trennen und in ihren Mittelpunkt die Analyse der künstlerischen Komposition des Einzelwerks stellen. Die Geschichte des europäischen Romans von der Spätantike bis zur Romantik wollte Schissel daher nicht in Gestalt nationaler Romangeschichten erzählen, sondern als Abfolge verschiedener Formtypen des europäischen Romans systematisch rekonstruieren.
Bernhard Seuffert wurde 1924 in Graz emeritiert. Schissel erhielt als erster deutschsprachiger Germanist 1918 in Innsbruck das Lehrgebiet „Allgemeine Literaturwis¬senschaft“ zugewiesen.