Ovids Orpheus
Jörg Döring
Was Ovid im zehnten Gesang seiner Metamorphosen beschrieben hat, beschreibt Jörg Döring noch einmal. Das ganze Orpheus-Schicksal, teils von Ovid mitgeteilt, teils von seinem „Koautor“ Orpheus selbst gesungen, buchstabiert Döring, seinerseits Koautor der beiden, Episode für Episode durch. Im Unterschied zu sämtlichen früheren Kommentatoren geht er davon aus, daß jede Zeile, jedes Szenario seine Bedeutung hat. Unterm Strich schneidet Ovid bei seinen Kommentatoren schlecht ab. Irgendwie scheint er keine Ahnung gehabt zu haben: von Trauer nicht, von Mitleid nicht, ebensowenig vom ehelichen Liebesglück und von der Umsetzung dieser Sujets in Gesang. Aus dem „hohen erzählerischen Tempo“ hingegen, das die Orpheus-Episode kennzeichnet, gewinnt Döring die lakonische Pointe: „So kurz wie die Liebe selbst währt auch deren Erzählung“ und, darf man hinzufügen, auch diese Studie. Sie hätte leicht zu einem dicken Buch breitgewalzt werden können. So aber besticht sie durch den Verzicht auf Redundanz und Jargon und vermag es dennoch, Orpheus als Trauerschicksal und seine Kunst als Bearbeitung einer Verlusterfahrung knapp und unprätentiös zu veranschaulichen.