Pädagogik und Rechtswissenschaft im Gespräch
Band 1 - Interdisziplinäre Brückenschläge
Arnold Köpcke-Duttler
Als fünf seiner Schüler ohne Erlaubnis das Schulgebäude verlassen hatten, kam es mit ihrem Lehrer Doktor Bökh zu einer Diskussion über die Hausordnung. Der Lehrer fragte, warum sie in die Stadt hinunter gehen mussten, und erfuhr, dass sie einen von anderen Schülern gefangenen Klassenkameraden befreit hatten. In sachlicher Beurteilung hielt der Lehrer fest, dass die Schüler ohne Erlaubnis fort gegangen waren und dass dafür als Strafe eine Ausgangsentziehung für vierzehn Tage üblich war.
Erich Kästner lässt dann gegen diesen sachlichen Standpunkt der Legalität den Lehrer sich selbst ins Wort fallen und die näheren Begleitumstände und Hintergründe berücksichtigen. Außer Frage stehe es, dass der Gefan-gene habe befreit werden müssen, so dass ihr Vergehen nur darin bestehe, keine Erlaubnis eingeholt zu haben. Von hier aus wandte der Lehrer die Schuld nun gegen sich selbst: „Mit abgewandtem Gesicht sagte er: ‚Wa-rum habt ihr mich denn nicht gefragt? Habt ihr so wenig Vertrauen zu mir?’ Er drehte sich um. ‚Dann verdiente ja ich selber die Strafe! Denn dann wäre ich an eurem Fehler schuld!’“
Im Rahmen dieses Schuldialogs akzeptieren die Schüler die Umkehrung der Schuld nicht einfach hin, sondern konfrontieren Doktor Bökh mit ihrer Logik: „Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder konnten Sie unsere Bitte abschlagen; dann hätten wir Ihrem Verbot zuwiderhandeln müssen. Oder Sie konnten uns wirklich fortlassen; und wenn dann jemanden etwas zugestoßen wäre, hätte man Sie dafür verantwortlich gemacht. Und die anderen Lehrer und die Eltern hätten auf Ihnen herumgehackt.“
Der Lehrer wiederum beruhigte sich nicht bei dieser Entlastung und nannte die Schüler verantwortungssüchtig. Er ließ ihnen die heiß ersehnte Strafe zukommen und entzog ihnen einen Ausgehnachmittag, der Hausordnung, die alle beachteten als eigene Regel, Genüge zu tun. Zugleich lud er für den der Strafe gewidmeten Nachmittag die Schüler zu sich ein; diese nahmen die in sich aufgehobene Strafe freudig an.
Dieses Spiel der Selbstaufhebung der Strafe und dieses Finden einer neuen Verständigung zeigen, wie gedankenlos sowohl die Mechanik der äußerlichen Bestrafung als auch die der von außen bewirkten Entschuldigung sind. Wie anregend dieses Gespräch, dieser Schuld-Dialog, für Juristen und PädagogInnen sein kann !
Mit einem enthusiastischen Kritiker der Bestrafung beginnt dieses Buch, zudem mit Gedanken eines berühmten Juristen zur öffentlichen Erziehung. Damit ist der Weg des schwierigen Gesprächs zwischen der Pädagogik und der Rechtswissenschaft geöffnet. Auch die anderen Wegzeichen bis hin zu „Horkheimer und Schopenhauer. Solidarität des Lebens“ und „Ökologische Demokratie und soziale Menschenrechte“ zeigen Verbindungen zu einigen meiner Tätigkeiten als Rechtsanwalt und Hochschullehrer der Pädagogik auf. Erwähnt sei hier nur meine Mitarbeit im Trägerverein der „Erich-Kästner-Schule“, eines Sonderpädagogischen Förderzentrums in Kitzingen, und im Vorstand des Montessori-Landesverbands Bayern als Geschäftsführer.
Auf dem Weg in diese Schule ist der schöne Gedanke Erich Kästners ein-gelassen von einem Bildhauer und vielen Kindern:
Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.
Die meisten dieser Abhandlungen sind in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entstanden, leicht überarbeitet worden. Durch Brücken werden sie in diesem Buch jetzt miteinander verbunden.
Ein zweiter Band soll unter dem Titel „Rechtswissenschaft und Pädagogik im Gespräch“ erscheinen.