Rechtsunkenntnis und Schadenszurechnung
Helmut Koziol
Es wird davon ausgegangen, dass Gesetze unabhängig von der Kenntnis des Normadressaten wirksam sind; die Verantwortlichkeit für eine Gesetzesverletzung und damit die Zurechnung eines Schadens hingegen schuldhafte Gesetzesunkenntnis des Täters voraussetzen. Die mit diesem Standpunkt verknüpften Fragen fanden erstaunlich geringe Aufmerksamkeit. Es wurde etwa nicht erörtert, was unter den von § 2 ABGB angesprochenen »gehörig kundgemachten Gesetzen« zu verstehen ist: Ist damit der – stets auslegungsbedürftige – Wortlaut der Gesetze gemeint? Oder auch die durch Auslegung, Analogie, teleologische Reduktion oder Ableitung aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gewonnen Regeln? Es erstaunt ferner, dass etwa im Bereich der Haftung von juristischen Sachverständigen und im Amtshaftungsrecht Verschulden verneint wird, wenn die Rechtsansicht des Täters vertretbar war; im allgemeinen deliktischen Bereich hingegen ein überaus strenger Verschuldensmaßstab angelegt wird oder die Haftung sogar ohne jegliche Prüfung einer schuldhaften Rechtsunkenntnis bejaht wird. Letzteres ist inbesondere in den kritischen Situationen der Fall, in denen rasche Entscheidungen erforderlich sind. Kaum Beachtung findet es schließlich, dass das Erfordernis der verschuldeten Rechtsunkenntnis für die Schadenszurechnung dazu führt, dass die schadenersatzrechtlichen Regeln ihrer Wirksamkeit beraubt werden, wenn sie dem Schädiger schuldlos unbekannt waren. Im Bereich der Verschuldenshaftung entstünde daher bei ernsthafter Prüfung der Vorwerfbarkeit der Rechtsunkenntnis eine Lücke im Güterschutz, die wegen der durch die Normenflut hervorgerufenen weitgehenden Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rechtskenntnis beträchtlich wäre. Der Konflikt zwischen den gegensätzlichen Prinzipien der Geltung der Gesetze unabhängig von deren Kenntnis und der Zurechenbarkeit eines Schadens nur bei Verschulden bedarf daher dringend einer befriedigenden Lösung.