Schnee im Mai
Erzählungen
Kseniya Melnik, Hella Reese
Magadan, im äußersten Nordosten Russlands: In neun miteinander verbundenen Erzählungen, die zwischen 1958 und 2012 spielen, fängt Kseniya Melnik das Leben an der Peripherie ein. Eindringlich und einfühlsam erzählt Kseniya Melnik etwa von der achtzehnjährigen Olga, die aus enttäuschter Liebe das südlich-warme Stawropol gegen die eisigen Winde von Magadan eintauscht, von einem Pensionär im amerikanischen Exil, der sich nach dem unerwarteten Anruf seines einst besten Freundes die gemeinsame Vergangenheit schönlügt, und von Sonja, deren Großvater ihr die Geschichte von der gefährlichen Freundschaft mit einem verfemten Sänger anvertraut, die ihn ins Gefängnis hätte bringen können. Und von Tanja, die Ende der siebziger Jahre mit der reizvollen Möglichkeit spielt, auf ihrer Durchreise in Moskau einen Seitensprung mit einem italienischen Fußballspieler zu wagen – und angesichts der unverhofften Möglichkeit, ihrer Familie so etwas Exotisches wie Bananen mitbringen zu können, durch das Schlangestehen das Rendezvous versäumt. In einer anderen Geschichte erkennt die kleine Alina, die wegen ihrer häufigen Migräneanfälle zu einer fragwürdigen Heilerin gebracht wird, dass nicht alles so ist, wie es scheint – und dass die vermeintlich böse Hexe auch bloß mit Wasser kocht.
Kseniya Melnik macht spürbar, wie sehr uns der Ort unserer Herkunft prägt und wie wenig zugleich die menschlichen Sehnsüchte an einen bestimmten Ort gebunden sind. Changierend zwischen ironischer Distanz und mitfühlender Sympathie für ihre Charaktere fängt sie jene Momente des Lebens ein, in denen unverhofft Schönheit, Lebensfreude, Hoffnung aufblühen. Magadan mag zwar in Russlands Fernem Osten liegen, aber seine Bewohner könnten unsere Nachbarn sein.