Spektrum Spezial – Modelle für die Erde
Mit Daten in die Welt von morgen blicken
Im Trott des geordneten Alltags vergisst man leicht, wie überwältigend komplex die meisten Vorgänge auf der Welt sind. Bereits das Wetter der nächsten Tage ist so schwer vorhersehbar, dass die Menschen über Jahr¬hunderte versucht haben, mit Bauernregeln ein wenig Struktur im atmosphä¬rischen Chaos zu finden.
Ganz zu schweigen von Abläufen über weitaus größere räumliche und zeitliche Skalen. Solche Veränderungen lassen sich nicht durch naive Beob¬achtungen der Jetztzeit ablesen, sondern werden nur durch detektivisches Sammeln und Auswerten verschiedenster, über Jahrhunderte bis Jahrmillio¬nen entstandener Spuren nachweisbar. Viele Vorgänge waren in der Fachwelt lange umstritten. Beispielsweise erlebte Alfred Wegener nicht mehr die Anerkennung seiner Anfang des 20. Jahrhunderts publizierten Theorie zur Kontinentaldrift. Heute lernen wir von der Plattentektonik schon in der Schule. Ebenso waren jahrzehntelange Messungen und Modellierungen nötig, bis sich die Feststellung etabliert hat, dass die Erde durch die seit der Industriali¬sierung zusätzlich ausgestoßenen Treibhausgase dramatisch wärmer wird.
Die Erkenntnisse zum Klimawandel in einen erdgeschichtlichen Zusam¬menhang zu stellen und mit ausgefeilten Simulationen in die Zukunft zu extrapolieren, erfordert ungeheure gemeinsame Anstrengungen aller wissen¬schaftlicher Disziplinen. Geologische Befunde erlauben Rekonstruktionen der Klimabedingungen vergangener Zeitalter (S. 20), ökologische Bestands¬aufnahmen zeigen deren Auswirkungen (S. 6), und trickreiche mathematische Algorithmen (S. 28) schreiben zusammen mit sozioökonomischen Rahmen¬bedingungen mögliche Entwicklungen für den Rest des Jahrhunderts fort (S. 36). Wie überall in der Wissenschaft bleiben Unsicherheiten. Welche Fortschritte die Fachleute dabei machen, mit ihnen umzugehen, zeigt exem¬plarisch die Verbesserung der Wettervorhersage, die schon lang nicht mehr auf Bauernregeln angewiesen ist. Ein Ausblick auf das Wetter in einer Woche ist heute ähnlich zuverlässig wie ein Drei¬-TageBericht aus den 1980er Jah¬ren – wiederum dank verbesserter Modelle. Allmählich dringen die Prognosen in Zeithorizonte vor, die früher als praktisch unmöglich galten (S. 42).
Aber sogar in unserer engmaschig überwachten Welt treten unvorherseh¬bare Extremereignisse auf. Immerhin geben mehr und mehr Phänomene ihre Geheimnisse langsam preis. Sogar die besonders zerstörerischen und noto¬risch überraschenden Vulkanausbrüche könnten sich über subtile Signale ankündigen (S. 56). Dennoch werden wir eine gewisse Portion Chaos stets hinnehmen müssen. Und das ist gut so – schließlich beflügelt nichts die Wissenschaft so sehr wie das Unerwartete.