Stifters Ungarn in der Erzählung Brigitta
Sabine Eickenrodt
Die ungarische Puszta, Heide und Steppe wurden in der Stifter-Forschung vielfach ins Zeichen des Erhabenen gestellt. Dagegen blieb bisher weitgehend unbeachtet, dass Stifters Ästhetik der Ödnis einen zentralen Topos der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts aufnimmt: Ungarn galt vielen als Terra incognita, als weißer Fleck auf der Landkarte westlicher Zivilisation; als Land, das jenseits der Porta Hungarica nahe Pressburg, bei Theben, lag und asiatischen Steppen oder afrikanischen Wüsten vergleichbar sei. In (sozial-)politischer Hinsicht wurden die Magyaren in der Reformzeit der 1830er/40er Jahre als zurückgebliebene Nation betrachtet, die sich in „todesähnlicher Erstarrung“ befinde.
Der vorliegende Beitrag setzt hier an und bietet eine Wiederlektüre der beiden Fassungen von Stifters Erzählung Brigitta unter neuen Vorzeichen: Das zentrale Interesse gilt der Funktion der fiktiven Orte Uwar und Maroshely im Kontext von Ungarns Gründungslegende und Geschichte, von Überlieferungen und Wertungen. Zum anderen werden die bisher kaum untersuchten Eigennamen in der Erzählung – Stephan Murai und Stephan Bathori – in ihrer historischen und narrativen Bedeutung ernst genommen. Die detaillierte Spurensuche dieser Lektüre zeigt, dass Stifters ‚Kartographie‘ einer strategischen Desorientierung folgt und sich als hochgradig unzuverlässiges Erzählen erweist. Nicht nur werden historische Zeitebenen, Oppositionen und Himmelsrichtungen systematisch auf dem Schauplatz der Sprache vermischt, sondern auch die Orts- und Eigennamen eröffnen einen weiten Assoziations- und Deutungsraum. Das vorrevolutionäre Ungarn wird in der Brigitta zum narrativen Prüfstein eines ‚neuen Reichs‘. Dessen Konturen erscheinen in der Utopie eines zivilisierten „Europas im Kleinen“.