Theodizee der Freiheit
Hegels Philosophie des geschichtlichen Denkens
Wilm Hüffer
Der Abschied von der Geschichtsphilosophie ist zum Ritual geworden. Nicht nur dies ist paradox. Auch der Gegner ist ein falscher. Es wird nicht Geschichtsphilosophie, sondern immer wieder der Popanz einer allenfalls philosophisch bemäntelten Geschichtsschreibung aus den Häusern des Wissens komplimentiert. Oft findet sich für ihn auch ein Name: Hegel.
Der jedoch hatte anderes im Sinn. Seine Geschichtsphilosophie ist erst in zweiter Linie eine Deutung der Geschichte. Primär ist sie Philosophie des geschichtlichen Denkens: Sie zeigt, weshalb vernünftiges Denken immer geschichtlich verfasst ist – erklärt also die Bedeutung von Geschichte, statt selbst nur eine Geschichte zu erzählen.
Hegels Ergebnis kann sich sehen lassen: Geschichtliches Denken ist konstitutiv für Autonomie. Ein autonomer Lebensentwurf verlangt, die eigenen Erwartungen aus der geschichtlichen Entwicklung der gemeinsamen Lebensformen zu erschließen. Wer das erklärte Recht hat, dies zu tun und dem eigenen Urteil zu folgen, ist frei.
Nur eines hat Hegel die geballte moderne Skepsis eingetragen: die Behauptung, dass sich das Bewußtsein für die geschichtliche Konstitution der Freiheit seinerseits stringent geschichtlich entwickelt habe. Dies mag fragwürdig bleiben. Die Analyse der Bedeutung geschichtlichen Denkens weist Hegels Geschichtsphilosophie gleichwohl als unüberholte reflexive Leistung aus.
Inhalt: Zur Einführung
I. Die Wiederkehr der geschichtsphilosophischen Frage. § 1. Die Verdeckung des Philosophischen in Hegels Geschichtsphilosophie – § 2. Hegels Kritik am unreflektierten Selbstverständnis der Geschichtsschreibung – § 3. Aporien des metaphysischen Hegel-Bildes – § 4. Probleme des hermeneutischen Hegel-Bildes –
§ 5. Ansätze zu einer Destruktion der Hegel-Historisierung – § 6. Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Zweck geschichtlichen Denkens
II. Die Konstitution geschichtlicher Praxis. § 7. Das Problem der »Vernunft in der Weltgeschichte« – § 8. Grundbegriffe »vernünftigen« Denkens – § 9. Formale Charakteristika handlungsleitenden Wissens – § 10. Das hermeneutische Problem geschichtlicher Rekonstruktionen – § 11. Die narrative Struktur geschichtlicher Rekonstruktionen – § 12. Die Post-hoc-Erklärung geschichtlicher Entwicklungen
III. Die Konstitution geschichtlichen Denkens. § 13. Geschichtsphilosophie als Frage nach dem Zweck geschichtlicher Praxis – § 14. Die Abbildung der »vernünftigen« Welt im geschichtlichen Erfahrungsraum – § 15. Die Konstruktion handlungsleitender Erwartungen aus der Geschichte – § 16. Substitution der ›Erwartung‹ durch »Machbarkeit« der Zukunft? – § 17. Kontinuität als Substrat handlungsleitender Erwartungen – § 18. Geschichte als ›Rechtfertigung‹ des »vernünftigen« Willens zur Kontinuität
IV. Die praktische Relevanz geschichtlichen Denkens. § 19. Geschichte und
die Autonomisierung individuellen Handelns – § 20. Aporien des subjektivistischen Autonomieverständnisses – § 21. Das geschichtlich artikulierte Selbst-
interesse – § 22. Autonomes Handeln als »Selbstzweck« – § 23. Die Verschränkung von Selbstinteresse und Willen zur Kontinuität – § 24. Geschichtliche
Orientierung vs. abstraktes Gewissen – § 25. Geschichtliche Orientierung als Motor realer Kontinuität – § 26. Die Verfassung als flexibler Rahmen geschichtlicher Orientierung
V. Das Ende der »Weltgeschichte«. § 27. Freiheit als geschichtlich entwickeltes Autonomiebewußtsein – § 28. »Weltgeschichte« als praktizierte Selbstbefreiung – § 29. Der Abschied vom ›weltgeschichtlich‹ fundierten Autonomiebewußtsein – § 30. Abschied von Hegel – Aporie der Geschichtswissenschaften
Siglen- und Literaturverzeichnis