Über die Liebe (De amore)
Ein Lehrbuch des Mittelalters über Sexualität, Erotik und die Beziehungen der Geschlechter
Andreas Capellanus, Fidel Rädle
In drei Büchern beschreibt der Autor, ein in der Kanzlei des französischen Königs tätiger Kleriker, in mittelalterlichem Latein, hier in heutiges Deutsch übersetzt, das Phänomen Liebe, freilich nicht die christlich empfohlene Nächstenliebe (lateinisch „caritas“), sondern die erotische Liebe („amor“), zu der die Antike mit ihrem klassischen Liebeslehrer Ovid viel Raffiniertes zu sagen hatte, während die kirchliche Lehre seit jeher vor ihr warnte. Das Einzigartige dieses scholastisch argumentierenden Lehrbuchs ist nun, daß Andreas Capellanus, der sich als erfahrener Kenner seines Gegenstandes ausgibt, über mehr als drei Viertel seines Werks sachlich, d. h. psychologisch aufgeklärt, und zumindest scheinbar affirmativ von der weltlichen, sprich „höfischen“ Liebe und ihren christlich doch nur schwer zu vermittelnden Regeln („praecepta“) handelt. Die erotische Liebe gilt ihm als Ursprung alles Guten in der Welt. Sie allein ist die Macht, die den Menschen erzieht und adelt, und demnach verfehlt, wer sich ihr verweigert, sein Leben. Mit dem aus Ovids „Ars amatoria“ geschöpften Wissen beschreibt der Autor die psychischen Mechanismen der Liebe, ihr ständiges Wachsen und Abnehmen, woraus sich jeweils die Techniken zu ihrer Steigerung bzw. zu ihrer Rettung ableiten lassen. Berühmt geworden ist seine Unterscheidung zwischen der mit Vorzug empfohlenen „reinen Liebe“ („amor purus“), die bis zur pettingartigen Berührung der nackten Geliebten geht, und der durchaus gutgeheißenen „gemischten Liebe“ („amor mixtus“), die den Beischlaf einschließt. Vollends herausfordernd ist das in logischer Strenge diskutierte und von der höchsten Instanz eines Liebeshofes gebilligte Prinzip, wonach wahre Liebe nur außerhalb der Ehe möglich sein soll. Daraus ergibt sich die für die christliche Zeitgenossenschaft denkbar anstößige Konsequenz des legitimierten Ehebruchs.Derartiges also lehrt ein wissenschaftlich ausgebildeter Kleriker im 12. Jahrhundert. Die kirchliche Reaktion ließ erstaunlich lange auf sich warten, aber sie kam: im Jahre 1277 wurde der Traktat in Paris als der christlichen Morallehre widersprechend verurteilt. Damit waren freilich nur seine beiden ersten Bücher gemeint, denn im dritten Buch hatte Andreas bereits selber seine frivole Liebeslehre widerrufen und die erotische Liebe als Sünde, als Unzucht („luxuria“), bewertet. Dieses dritte Buch trägt den Titel „Verwerfung der Liebe“ („De reprobatione amoris“) und enthält eine böse Abrechnung mit der Liebe, vor allem aber mit deren sozusagen physischer Voraussetzung, den Frauen. Die Forschung, die lange Zeit ratlos vor diesem eklatanten inneren Bruch gestanden hatte, erkannte immer deutlicher die ironische bzw. parodistische Qualität der eben nur scheinbar vorbehaltlosen Empfehlung weltlich-höfischer Liebe im Hauptteil des Werks, dessen schillernder Charakter gleichwohl bestehen bleibt und nach wie vor seinen eigentümlichen Reiz ausübt.Nach der unzulänglichen und von der Forschung zu Recht verworfenen „Übersetzung“ H. M. Elsters (1924) liegt hier die erste vollständige moderne deutsche Übersetzung des Traktats „De amore“ von Andreas Capellanus vor, der im hohen und späten Mittelalter über mehrere Jahrhunderte in ganz Europa neugierig rezipiert und in die Volkssprachen übertragen wurde.