Werke / NASAMECU
Der gesunde und kranke Mensch gemeinverständlich dargestellt.
Michael Giefer, Georg Groddeck
‚Dieses Buch handelt vom gesunden und kranken
Menschen. Es gibt meine persönlichen Meinungen
wieder, es erhebt nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.
‚
Natura sanat, medicus curat (NASAMECU), die Natur
heilt, der Arzt behandelt, ist einer von Groddecks Leitgedanken
in seiner ärztlichen Tätigkeit. In diesem 1913
für ein breites Publikum verfaßten Werk, das nach einer
Vortragsreihe, die er in Baden-Baden gehalten hatte,
entstanden ist, will der Autor die Ängste vor dem Leben
und dem Erkranken mildern, indem er aufklärerisch
und erzieherisch den menschlichen Körper und
die Vorgänge in ihm beschreibt. Er will dem Menschen
Vertrauen zu der Kraft seiner menschlichen Natur geben.
Krankheiten sollten nicht als Feinde betrachtet
werden, denn ‚Kranksein ist nichts andres als leben, als
der Versuch des Lebens, sich veränderten Bedingungen
anzupassen, es ist nicht ein Kampf des Körpers mit der
Krankheit, sondern eine ordnende Tätigkeit‘.
Obwohl sich der Stand der medizinischen Wissenschaft
ständig ändert, in den letzten hundert Jahren seit Erscheinen
des Buches viele Erkenntnisse dazugewonnen
wurden und es vielleicht keine Ewigkeitswerte beinhaltet,
wie es eine Besprechung von damals behauptet,
hat es bis heute für Kranke und Gesunde wie auch für
Ärzte einen Wert behalten, da es das Wirken der Natur
und die Begrenztheit des ärztlichen Wirkens thematisiert.
Gleichermaßen an Laien wie Ärzte gerichtet weist
Groddeck auf die Notwendigkeit der Einbeziehung der
gesamten Lebensbedingungen des Erkrankten bei der
Behandlung hin, die Beachtung der psychosozialen Bedingungen
– wie wir heute sagen –, betont die Auswirkung
der wirtschaftlichen und wohnlichen Verhältnisse
für Gesundheit und Krankheit.
Die Groddecksche Darstellung der Abläufe im menschlichen
Körper, die regulären wie die reparativen, lösen
beim Leser immer wieder Staunen über das bis heute
unerklärliche Wunder des Lebens und der natürlichen
Heilungsprozesse aus. Groddecks Werk ist aber keine
Propagierung der sogenannten Naturheilverfahren,
sondern die Heilverfahren der Natur sollen erkannt
und künstlerisch vom Arzt angewandt und gefördert
werden. Die Mittel zur Behandlung sind für ihn weit
gestreut, sollen dem einzelnen Erkrankten gemäß genutzt
werden.
Zwei weitere Absichten, die Groddeck mit seiner Schrift
verfolgte, waren der Kampf gegen die übermäßig naturwissenschaftlich
orientierte Medizin, die den Menschen
mehr und mehr aus dem Blickfeld verlor, sowie
die wachsende staatliche Einfl ußnahme auf die ärztliche
Tätigkeit und das Arzt-Patienten-Verhältnis.
In diesem Werk lassen sich manche Schritte Groddecks
zu seiner späteren psychodynamischen Behandlungsweise
erahnen, auch wenn er die Psychoanalyse zunächst
nur eingeschränkt akzeptiert. Die Verknüpfung
von Leib, Seele und Umwelt und deren Wechselwirkung
aufeinander wird hier aber schon deutlich spürbar.