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„Der Wald braucht uns nicht“
Frank Quilitzsch hat sich für sein neues Buch intensiv mit der Natur befasst
• Thüringische Landeszeitung, 13 Oct 2021,
• Von Gerlinde Sommer
Hagen Dargel – hier mit seiner Brackenhündin Bessi – spielt eine wichtige Rolle in Frank Quilitzschs neuem Buch „Wilhelm, wie sieht der Wald wieder aus!“
Ein Jahr lang hat sich Journalist Frank Quilitzsch immer wieder in die Natur begeben: Er ließ den Schreibtisch hinter sich, um herauszufinden, was getan werden muss, um den Wald im Lande zukunftsfest zu machen. Jetzt liegt das Ergebnis seiner Recherchen in Buchform im Verlag Tasten & Typen aus Bad Tabarz vor: „Wilhelm, wie sieht der Wald wieder aus!“ist eine interessant zu lesende Bestandsaufnahme.
Quilitzsch berichtet über den Werdegang seines jüngsten Vorhabens – und die Ausdauer, die er an den Tag legte: „Ich war von Februar 2020 bis März 2021 unterwegs und bin vielen tollen Menschen begegnet, nicht nur Förstern, sondern auch Waldarbeitern, Zapfenpflückern, Baumschulmeistern, Jägern und privaten Waldbesitzern, die gemeinsam den großen Waldumbau voranbringen.“Er wisse jetzt, wie der Wald klimaresistenter werden kann und warum die Baum-dnaanalyse betrieben wird. Quilitzschs zentrale Erkenntnis lautet: „Der Wald braucht uns nicht. Aber wir brauchen den Wald – als Holzlieferanten, Sauerstoffspender, Co2und Wasserspeicher und nicht zuletzt zur Erholung. Daher sind Baumforschung und Waldumbau für uns ein Überlebensprojekt.“
Auf 346 Seiten lernen die Leser jene Menschen kennen, die sich unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln um den Wald sorgen und sich um seine Zukunft kümmern. Quilitzsch erläutert: „Irgendwann werden selbst verheerende Winterstürme, Starkregenereignisse und Sommertage mit Temperaturen von über 40 Grad als ‘normal’ gelten. Natürlich hat es in der Erdgeschichte schon immer Kalt- und Warmzeiten gegeben, aber der menschengemachte Klimawandel galoppiert mit einer besorgniserregenden Dynamik.“Und stellt fest: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir an manchen Orten bald anstelle eines geschlossenen Waldes nur noch einzelne Bäume und Sträucher sehen. Thüringer mediterrane Landschaften!“
Gut gelaunt tritt Hagen Dargel ins Freie, saugt die kühle Luft ein und erklärt, dass dies das typische Thüringer-wald-wetter sei, wie er es von früher kenne: ein bisschen neblig, dunstig und feucht. Genau wie die Fichte es brauche. Nach einem weiteren tiefen Atemzug sagt er: „Wir fahren am besten zum Kickelhahn, dem Hausberg der Ilmenauer. Können Sie mir in Ihrem Auto folgen? Nein, Allradantrieb brauchen Sie da nicht…“
Der für den Frauenwälder Forst zuständige Leiter ist ein Hüne von ein Meter sechsundneunzig, mit gepflegtem weißen Backenbart und listigen Jägeraugen. Brille mit Goldrand? Nun, selbst ein Waldmensch muss heutzutage viel vorm Computer hocken. Dafür hat sich Dargel, weil es morgens in den Kammlagen ziemlich klamm ist, zwei Jacken übereinander gezogen: die alte und die neue Forstuniform, und auf dem Kopf – doch, das gibt’s noch! – sitzt ein grünes Filzhütchen mit silbernem Thüringer Wappenabzeichen.
Er steigt in seinen schwarzen Suzuki und eilt voraus.
Im Rückspiegel entschwindet das prachtvolle, mit hellgrauem Schiefer verkleidete Gebäude, das mit seinen Holzbalustraden und der Freitreppe an ein Jägerhotel erinnert. So habe ich mir ein Thüringer Forstamt immer vorgestellt. Auch der Name gefällt mir: Allzunah.
Es geht es immer tiefer in dichten, immergrünen Nadelwald
Der Suzuki saust den Waldweg entlang und biegt am Ende auf eine breite Asphaltstraße ab. Ihr folgen wir ein paar Kilometer. Ich habe Mühe, den Anschluss zu halten. Nach einer Viertelstunde stoppen wir zwischen hohen, säulenartig nebeneinander wachsenden Fichten an einer Weggabelung.
Dargel öffnet den Kofferraum, und seine braune Jagdhündin springt ins Freie.„komm, Bessi! An die Leine!“bessi fügt sich, wenngleich ihr die Gängelung gar nicht behagt. Die einjährige Tiroler Brackenhündin springt hin und her und schnappt sich ein Stöckchen.
Wir gehen ein Stück auf dem Wanderweg, der im großen Bogen um den Kickelhahn herum führt, dem mit 861 Metern höchsten Berg des Ilm-kreises. Ich schließe, weil es frischer ist, als ich nach der gestrigen Tour dachte, den Reißverschluss meiner dünnen Regenjacke.
Woher Bessi kommt, weiß ich schon mal. Und Herrchen?
Dargel ist Thüringer. Er wurde in Erfurt geboren und ist im Rieth, in der nördlichen Plattenbausiedlung, aufgewachsen. Obwohl dort weit und breit kein Wald ist, hatte er schon als Kind den Wunsch, Förster zu werden. „Warum? Ich weiß noch, dass ich oft in den Steigerwald gefahren bin, weil ich den Förster kannte. Bei ihm habe ich in den Schulferien gearbeitet und nach dem Abi ein Praktikum gemacht.“Dargel wollte Forstwissenschaft in Tharandt studieren, wo aber zehn Bewerber auf einen Studienplatz kamen. Wenn du eine Chance haben willst, musst du drei Jahre zur Armee gehen und in die Partei eintreten, erklärte man ihm. „Okay, wenn man das Studium unbedingt wollte, dann hat man das halt gemacht.“Im Frühjahr 1989 wurde er im Thüringer Forstbetrieb eingestellt und übernahm das Revier in
Gehren. „Waldreiche Gegend, Höhenlage, wunderbar. Ich kannte das Gebiet um Ilmenau vom Skifahren.“
Aufstieg in der nach der Wende umstrukturierten Forstverwaltung „Ich war ja mit dem Thüringer Wald schon länger vertraut, hatte bei Oberförster Wilhelm in Oberhof ein Studentenpraktikum absolviert“, erzählt Dargel. 2005 kam er nach Allzunah, von wo er die zusammengelegten Amtsbereiche Ilmenau und Schmiedefeld leitet.
Da ist Dargel nun seit 15 Jahren, doch die so sehr geschätzte Waldruhe will nicht wieder einkehren. „Bis Kyrill herrschten geordnete Verhältnisse“, erinnert er sich. „Man konnte einen Plan machen und ihn ungestört umsetzen. Es gab immer ein bisschen Sturm, und es gab den Borkenkäfer. Aber es gab auch Jahre, da hatten wir hier oben, am Rennsteig, so wenig Befall, dass wir dachten, der Käfer gehört auf die Rote Liste.“
Dargels Erfahrungen mit dem Orkantief Kyrill decken sich mit jenen seiner Amtskollegen Wilhelm, Uth und Marbach. Doch hier wütete der Sturm in einem kulturgeschichtlich bedeutsamen Gebiet. Der von Goethe geheiligte Kickelhahn wurde nach Strich und Faden gerupft. 280.000 Festmeter Bruchholz fielen im Staatswald an, fast das Dreifache des üblichen Jahreseinschlags. Allein im Revier Kickelhahn waren es 75.000 Festmeter. Während der Förster schildert, wie er sich am Tag nach dem Sturm mit der Säge zum Forstamt durcharbeitete, wo sie wegen Stromausfall bei Kerzenlicht das weitere Vorgehen berieten, zerrt Bessi ungeduldig an der Leine. „Aufräumen, aufräumen, aufräumen“, sagt Dargel, „war die Devise. Und wir mussten uns überlegen, was mit den Kahlflächen geschehen sollte…“Er schaut nach unten und murmelt: „Ja, Bessi, ich weiß. Das kennst du alles schon.“
Ich auch. Deshalb lenke ich das Gespräch auf den jungen Wald, der am Hang oberhalb des Panoramawegs heranwächst. „Laut Waldgesetz musste hier schnell wieder aufgeforstet werden“, erzählt der Forstamtsleiter. „Wir waren aber der Meinung, wir gucken erst mal, was kommt.“
Anderswo haben sie viel gepflanzt, mal 40 Hektar, mal 80 Hektar im Jahr. „Nach ein paar Jahren waren wir eigentlich fertig, sagten uns jedoch: Jetzt kennen wir uns mit dem Pflanzen aus, also machen wir weiter. Jetzt machen wir mehr Waldumbau.“
In den Höhenlagen des Forstamts wurden sogar wieder Fichten gepflanzt, allerdings aus eigenem Saatgut. „Die passen sich genetisch an die herrschenden Bedingungen an. Durch intensives Bejagen ist es uns gelungen, auf vielen Flächen Naturverjüngung von Eberesche und Birke zu bekommen, die dann relativ schnell einen Vorwald gebildet hat. Darunter sind dann Buche, Bergahorn und andere Laubbaumarten angeflogen, so dass wir dort gar nicht pflanzen mussten.“
Pflanzen oder auf Verjüngung warten, das muss laut Dargel von Standort zu Standort entschieden werden. Bei den Spätfrostschäden setzt er auf die Selbstheilungskräfte der Natur.
Aber auch da ändert sich gerade einiges. „Am 24. Juni, das haben wir mal gelernt, kommt der Johannistrieb. Die Knospen treiben noch mal aus. Wenn die Pflanzen so jung und vital sind wie hier, überstehen sie die Fröste und passen sich an. Aber in diesem Jahr hat es auch alte Bäume getroffen. Denen geht es wie uns Menschen: Im Alter fällt es schwerer, sich auf Veränderungen einzustellen.“
Der große Mann schiebt sich den Hut in die Stirn und blinzelt gegen die Sonne. „Das Problem mit dem Klimawandel ist: Wir werden von den Ereignissen überrollt und laufen momentan nur hinterher.“
Worüber sich Dargel freut: Um den Kickelhahn herum gibt es nur wenige Borkenkäfer-inseln. Das habe man den erfahrenen Förstern zu verdanken, die einen Befall schnell aufspüren und eindämmen. Letztlich sei das auch ein Personalproblem. Dort, wo ein Revier längere Zeit unbesetzt bleibe, breite sich der Schädling in Windeseile aus. Und wenn zudem noch Waldarbeiter fehlten, wachse die Lücke zur Fläche.
Mancher alte Buchenbestand stammt wohl noch aus Carl Oettelts Zeit
Beim Blick über die Bergwiesen in Richtung Stützerbach kommt Dargel auf seinen berühmten Vorgänger Carl Christoph Oettelt zu sprechen. Der Ilmenauer Wild- und Forstmeister habe hier schon vor 250 Jahren Saatversuche mit verschiedenen Baumarten gemacht, also Waldumbau betrieben. Auch wenn dies nicht akribisch dokumentiert sei, ist Dargel fest davon überzeugt, dass mancher alte Buchenbestand noch aus Oettelts Zeit stammt.
Auf dem Rückweg zu den Autos sagt er: „Wir glauben, den Wald gut zu kennen. Doch dann überrascht er uns plötzlich. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nach Kyrill haben wir hier Flächen komplett bepflanzt. Die sehen jetzt nach 13 Jahren genauso aus wie die, die wir sich selbst überlassen haben. Wenn mich Kollegen fragen, warum wir überhaupt gepflanzt haben, sage ich: Weil wir es damals noch nicht wussten.“Der Wald, ein ewiges Mysterium?
Dargel wiegt den Kopf. „Vielleicht wissen wir nur noch nicht genug über ihn.“
Der Mann mit den zwei Forstjacken zieht eine nüchterne Bilanz: „Das Problem ist nicht der Wald. Der Wald passt sich an und erneuert sich. Das hat er immer getan. Wir wissen aber, wie lange das dauert. Bis die Bäume nachgewachsen sind, fehlt uns das Holz. Es fehlt die natürliche CO2- und die Wasserspeicherung. Wir befinden uns hier im Bereich der Talsperre Schönbrunn, die Zehntausende Menschen mit Trinkwasser versorgt. Wenn das alles nicht mehr funktioniert, ist unsere Existenz gefährdet.“
Hagen Dargel lotst mich nach Allzunah zurück und eilt mit seinem Suzuki zur Dienstberatung nach Erfurt. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg zum Forstamt Schönbrunn.