Religion und gesellschaftliche Konflikte heute

Religion und gesellschaftliche Konflikte heute von Agan SVD,  Polykarp Ulin
Gegenwärtig macht die Mobilität von Menschen so viele kulturelle Kontakte möglich, dass die Frage nach Zugehörigkeiten und Identitäten von Individuen und Gruppen neu aufgeworfen werden muss. Das Hin-einwachsen in eine interkulturelle Umwelt ist damit unvermeidbar, kann aber auch aufgrund ständiger Berührung Konflikte hervorrufen. Die Hu-manwissenschaften sind deshalb aufgefordert, sich neu zu orientieren und sich auf die Grundlage kompetenter Gegenwartsanalyse zu stellen. Diese Neuorientierung bedarf jedoch einer ständigen Prüfung und kritischen Durchsicht, um einer vorurteilsfreien Darstellung ihrer Normbildung näherzukommen. Prozesse gesellschaftlicher, sozialer und religiöser Normbildung in einer Situation, die immer mehr von Konflikten und Auseinandersetzungen als Folge von Globalisierung in allen Aspekten des Lebens geprägt ist, gehen Hand in Hand mit der Bildung neuer Identitäten, die sich so ausformen, dass lokale und globale, traditionale und moderne Elemente situationsgerecht miteinander verwoben werden. Diese neuen Identitäten lassen sich nicht mehr adäquat als in sich geschlossene Monaden auffassen, sondern vielmehr als „multiphrenic identity“ (Kenneth J. Gergen), eine Modellierung von Identitäten als Netzwerk aus kognitiven und affektiven Dispositionen des Wahrnehmens, Urteilens und Handelns. Die Akademie Völker und Kulturen St. Augustin ist sich dieser aus der „multiphrenic identity“ erwachsenen Konflikte bewusst und sieht für die Entwicklung von Religion und Theologie mit normativem Anspruch, etwa in Gestalt einer Friedensethik, das Ineinandergreifen gesellschaftlicher Bedingungen als eine wichtige Voraussetzung. Das vorliegende Buch unserer Reihe beschäftigt sich deshalb mit der Frage nach Religion, gesellschaftlichen Konflikten und Theologie im Allgemeinen sowie nach den konkreten religiös-gesellschaftlichen Konflikten in unterschiedlichsten Ländern im Besonderen. Im Rahmen einer zielgerichteten Durchführung dieses Rahmenthemas widmet sich der erste Beitrag von Prof. Dr. Heinz-Günther Stobbe zum einen der problematischen ambivalenten Rolle von Religion und Theologie bei politischen und gesellschaftlichen Konflikten, zum anderen aber auch der Rolle von theologisch begründeten Glaubensüberzeugungen bei der Konfliktbearbeitung. Die Theologen und Theologinnen der großen Religionen spielen bei diesen Konflikten und deren Bearbeitung eine große Rolle. Sie „sind gehalten, miteinander mit Leidenschaft dar-über nachzudenken, welche fundamentalen Prinzipien und Basisnormen wir als Menschen akzeptieren müssen, um Vielfalt in Einheit und Einheit in Vielfalt, um in Frieden und Gerechtigkeit wahrhaft miteinander leben zu können“. Ein weiterer Beitrag von Dr. Dr. Johannes Harnischfeger lenkt unseren Blick auf den Schwarzen Kontinent, besonders auf das „Krankheitssymptom“ Boko Haram in Nigeria, das auch als weltweites Phänomen in Betracht gezogen werden soll. Seit einigen Jahren mehren sich terroristische Anschläge in Nigeria. Verantwortlich für die Anschläge ist häufig die radikal-islamische Sekte Boko Haram, die seit Ende 2010 den Namen „Verband der Sunniten für den Aufruf zum Islam und für den Dschihad“ trägt. Ihr Kampf für eine strikte Form der Scharia richtet sich einerseits gegen die korrupten staatlichen Akteure, andererseits aber auch gegen die christlichen Kirchen, was dazu führt, dass die Mitglieder der Gruppe in den Medien häufig als „Christenjäger“ bezeichnet werden. Aufgrund der komplexen Gemengelage in Nigeria ist es schwierig vorauszusehen, ob der ersehnte Frieden in naher Zukunft Wirklichkeit werden wird. „Mit einem Abkommen, das die Feindseligkeiten zwischen Nigerias Regierung und den Rebellen beendet, ist jedoch nicht zu rechnen, selbst wenn Boko Haram durch den Abnutzungskrieg mit der Armee weiter geschwächt werden sollte. Möglich aber ist, dass die Organisation in kriminelle Banden zerfällt, für die die religiöse Mission nur noch ein Vorwand ist, um zu plündern und Geld zu erpressen.“ Mehr Grund für Hoffnung auf Frieden gibt Leif Seibert, Mitarbeiter am „Center for the Interdisciplinary Research on Religion and Society“ (CIRRuS) in Bielefeld, in seinem Beitrag über die Glaubwürdigkeit als religiöses Vermögen im bosnisch-herzegowinischen Friedensprozess. Der Friedensvertrag von Dayton, der unter der Leitung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton im November 1995 nach zähen Verhandlungen ausgehandelt und am 14. Dezember desselben Jahres in Paris unterzeichnet wurde, setzte dem vierjährigen Bürgerkrieg im heutigen Bosnien-Herzegowina ein Ende. In den vergangenen 18 Jahren ist zwar das Gewaltniveau in dieser Region erheblich zurückgegangen, aber der Frieden bleibt weiterhin brüchig. Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung, wenn wir unseren Blick auf die Tatsachen richten, dass in der neuen Entwicklung immer mehr für die „konsensfähige Autorität“ plädiert wird und immer mehr „Misstrauen gegen ideologische Konstrukte (Populismus)“ entsteht. Dieses „spricht für eine anti-fundamentalistische Haltung“. Der brüchige Frieden zeigt sich am deutlichsten in den gewaltsamen Konflikten im Nahen Osten, der „zu den unruhigsten und konfliktreichsten Regionen der Welt“ zählt, wie Prof. Dr. Dirk Ansorge in seinem Beitrag zeigt. Der Nahostkonflikt, der zu sechs Kriegen zwischen dem am 14. Mai 1948 gegründeten Staat Israel und einigen seiner Nachbarstaaten geführt hatte, holt nicht nur die direkt beteiligten Akteure, sondern auch vor allem die Länder und Organisationen des Nahost-Quartetts, nämlich die USA, Russland, die EU und die UNO, ins Boot. In Deutschland gehört die Einschätzung der Rolle des Staates Israels im Nahostkonflikt zu den wohl mit am emotionalsten und heftigsten diskutierten politischen Fragen. Spielen in Konflikte verwickelte Religionen – Judentum, Christentum und Islam – eine wirksame friedensfördernde Rolle oder vermindern sie eher die Kompromissfähigkeit der in diesen Konflikt verwickelten Parteien? Mit seinem Beitrag möchte Prof. Ansorge uns einerseits auf das Verhältnis von Religionen, Identität und Konflikt, andererseits aber auch auf die Instrumentalisierung von Religionen in gewaltsamen Konflikten aufmerksam machen. Der letzte Beitrag von Dr. Polykarp Ulin Agan SVD kreist auch um das Verhältnis von Religionen, Identität und Konflikt, und zwar im Kontext seiner Heimat Indonesien unter dem Aspekt des Konfliktes zwischen den Säkularisten und Islamisten. Seit der Unabhängigkeit Indonesiens im Jahre 1945 steht die Frage nach dem Verhältnis von Politik, Religion und Zivilreligion ständig zur Debatte. Es geht meistens um die Unterscheidung zwischen den Vorstellungen von einem „Islamischen Staat“ und einem „Staat auf der Grundlage der edlen Ideale des Islams“. Es ist eine Tatsache, dass in Indonesien religiöse Angelegenheiten oft zu staatlichen gemacht werden, sodass Interessenkonflikte nicht vermieden werden können. Zu fragen ist bei der ganzen Problematik hinsichtlich des Themas „Religionen und gesellschaftliche Konflikte heute“ allerdings: Sind Religionen Kriegstreiber oder Friedensstifter? Sind sie gesellschaftliche Integrations- oder Konfliktfaktoren? Es gilt, nach dem Wesen von Religion(en) zu fragen, um den Blick auf die Problematik von Religion(en) und Kultur(en) sowie Religion(en) und Identitätsstiftung zu eröffnen. Es ist nicht unmöglich, dass sich dabei praktische Entwicklungen von Strate-gien der Konflikttransformation offenbaren, die die weltliche Zivilgesellschaft sowie die religiösen Gemeinschaften zu einer Welt zusammenführen können – einer Welt, die mehr Frieden verspricht als Unfrieden stiftet. Da leider die Konflikte in unserer Zeit keineswegs weniger geworden sind, sondern sich vielmehr noch verstärkt und erweitert haben, leisten die Vorträge in dieser Reihe im Rahmen der Kultur des Friedens und der Bewusstseinsbildung einen wesentlichen Beitrag, gerade weil die Gedanken und Hintergrundinformationen, die in den verschiedenen Vorträgen geboten werden, weithin wichtig sind.
Aktualisiert: 2023-02-07
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