Das Maß aller Dinge

Das Maß aller Dinge von Fuchs,  Peter
In den letzten anderthalb Jahrhunderten beobachten wir ein grandioses Auflösungsspiel: Mit dem Tode Gottes ging der Tod des Menschen einher. Was der Mensch sei, worin er seine Identität finde, was er zu bedeuten habe, diese uralte Frage, kann nur noch im Modus der Ironie gestellt werden, mit einem Augenzwinkern, das auf die Unbeantwortbarkeit, das Anachronistische der Frage verweist. Was in Theorien an Auflösungsvermögen verkraftet werden kann und muß, findet in der Welt, die durch Theorie rekonstruiert werden soll, eine Parallele: Was der Mensch sei (zu sein hat), ist nicht einmal menschen- und lebensweltlich eine ›klare Kante‹. In den Humankatastrophen der letzten hundert Jahre wird er zu einer verfeuerungsfähigen Biomasse. Man kann kaum den Eindruck gewinnen, daß sich daran etwas wirklich geändert hat. Es wird Tag für Tag hekatombenweise gestorben, gemordet, gefoltert. Der Mensch wird (gleichsam operativ) definiert als das Wesen, das man (und das sich selbst) töten kann – durch Hunger, Krankheit, Folter, Mord und Krieg, namenlos, zahllos, heute hier, morgen dort. Man könnte sich denken, daß die Lehre vom Menschen, die Anthropologie, ihren Grund verliert und eigentlich zur ›Thanatologie‹ konvertieren müßte. Und dank Gentechnologie erscheint am Horizont die Vision, der Mensch sei nicht mehr jemand, der nach dem Bilde eines Gottes geformt sei, sondern nunmehr jemand, der in den Stand versetzt wurde, sich ein ›machbares‹ Bild von sich selber zu schaffen, die Exemplare der humanen Population so zu formatieren, daß sie (wie von ungefähr) dem alten Ideal der ›Kalokagathia‹ entsprechen: tugendhaft, schön, alters- und behinderungslos, krankheits-, rausch- und drogenfrei, angemessenen Verstandes – eine Idee der Devianzausmerzung, könnte man sagen, die Idee einer leid- und schicksalsfreien ›Ruhewelt‹, einer Re-Animation des Paradiesgedankens ohne Adam und ohne Eva. Was kann man heute zur ›Form‹ des Menschen verantwortlich und präzise sagen, wenn doch ebendiese Form (wenn sie jemals Form war) so vollkommen aus der Form gegangen ist? Wie kann man es so sagen, daß das Ergebnis der Überlegungen im Doppelsinne des Wortes ›dämpfungsfrei‹ bleibt? Ohne humanisierende Dampfwolken und ohne schonende Abfederung? Ohne Sentimentalität und feuchtes Ziehen im Kopf? Die Antwort liegt nahe. Man kann es mit jener gewohnheitsmäßig unsentimentalen, im Kern durch und durch ironisch-realistischen Theorie versuchen, die seit ihrem Start ohne die Referenz auf den Menschen auskommt: der von Niklas Luhmann geprägtem Systemtheorie, die das, was das ehrwürdige Wort des Menschen bezeichnen sollte, auflöst in ein Kompendium aufeinander bezogener, aber differenter ›Phänomenalitäten‹ wie Systeme und Operationen, wie Körper, Gehirn, Psyche, Bewußtsein, und last but not least: Kommunikation. Es gibt in dieser Theorie keinen terminologischen Ort, der als begriffliche Behausung des Menschen gelten könnte. Und es ist gerade diese Enthaltsamkeit, die die stupende Leistungsfähigkeit der Systemtheorie begründet hat, die an die Stelle eines kompakt-opaken Wortes den Umgang mit Differenzen setzt. Man kann heute nicht mehr ernsthaft davon absehen, daß das Beobachtete Moment der Operation Beobachtung selbst ist. Was als ›Welt‹ in der Beobachtung anfällt, fällt als Beobachtetes an, ein Umstand, der auch dazu führt, daß der Beobachter in jeder Beobachtungsoperation nicht als der Beobachter auftritt, der die Operation exekutiert, sondern selbst nur als Beobachtetes, wenn und soweit er bezeichnet und dadurch unterschieden wird. Ähnliches hat man in der phänomenologischen Tradition gemeint, als man sagte, daß Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas sei, so daß man zwar dieses Etwas registrieren könne, nicht aber (oder eben ungeheuer mühsam) den Zuwegebringer des Etwas, nämlich das Bewußtsein selbst. Eine Theorie, die dies einkalkuliert und sich dennoch des Menschen annimmt, kann also nur beobachten, wie der Mensch beobachtet wird. Sie langt nicht an beim Menschen, sie berührt ihn nicht. Sie bezeichnet die Formen (insofern sie an einem Rückblick interessiert ist), die zu verschiedenen Zeiten das ausmachten, was dann als der Mensch intellektuell plausibel verhandelbar war. In der Theorie spricht man in diesem Zusammenhang von der Beobachtungstechnik zweiter Ordnung, für die gilt, daß sie nicht mehr Dinge und Weltgegebenheiten bezeichnet, sondern die Unterscheidungen, die die Projektion dieser Dinge und Gegebenheiten inszenieren. Jener Rückblick könnte freilich nur äußerst selektiv geschehen. Schließlich ist immens viel geschrieben worden (und wird noch immens viel geschrieben) über die Frage des Menschen, die alles andere als erledigt und abgetan erscheint. Deswegen ist es eine texttechnische Entscheidung, nahezu unverzüglich mit der Beobachtung des Menschen durch diese Theorie statt mit Retrospektiven auf vergangene Konzepte des Menschen zu starten, die in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen. Es geht also nicht um die sorgsame Rekonstruktion vergangener Formen des Menschen, also auch nicht darum, ein weiteres Mal einen Defiliercours vor den großen Namen der Philosophie und der Anthropologie zu veranstalten. Das alles hat – gewiß – sein Recht und seine Zeit, aber hier soll die Frage im Zentrum stehen, was diese Theorie – wenn überhaupt – mit dem Menschen anzufangen weiß. Die Frage lautet also genau: Welche besondere Erzählung kann diese Theorie aus dem Zusammenhang ihrer Begriffe generieren, wenn sie gefragt wird: Wie hältst du es aber mit dem Menschen?
Aktualisiert: 2022-12-08
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