Geschichten von Menschen und Tieren
Was bleibt
“Die Sommersonne schien warm auf die Waldlichtung und die alten Buchen glänzten in ihrer frischen, grünen Kleidung.” So beginnt eine der Geschichten des alten Kinderbuchs. Doch die beschriebene Idylle ist bedroht, sie muss unter Aufbietung aller Kräfte verteidigt werden.
Mit einem Idyll beginnt auch der Bericht der Großmutter, Elisabeth Schaefer-Kyburg, die das Buch durch die Zeiten gerettet hat; Dinge und Erinnerungen, Treibgut aus einer zerbrochenen Zeit. Sie beschreibt den letzten friedlichen Morgen vor Beginn des Ersten Weltkriegs: Schwäne auf dem Gartenteich des Landhauses, ein Gärtner muss instruiert werden, dabei die stete Sorge um ‘Baby’, die einjährige Tochter Eleonore. “Die Kleine ist sehr lebhaft, und damit sie mir nicht weglief, hatte ich sie als Pferdchen angespannt.”
Doch all das wird mit einem Mal gegenstandslos. Die Nachricht von der bevorstehenden Kriegserklärung Deutschlands geht wie ein Riss durch das bisherige Leben und lässt wenig von dem zurück, was vorher war. Die Schaefers sind deutsche Kaufleute in Russland, in dritter Generation. Nun steht die Familie auf der falschen Seite der Geschichte und ist der allgemeinen Willkür ausgesetzt. Freunde, Nachbarn, Kunden und Angestellte für die meisten Menschen in ihrem Umfeld sind sie zu Feinden geworden. Viele brechen, um sich selbst zu schützen, den Kontakt zur Familie ab. Man gehört nicht mehr dazu, nirgendwo.
Deutsche Männer gelten als Zivilgefangene und werden in Lagern interniert, die Besitztümer werden geplündert und verwüstet.
“Die Einrichtung wurde zerschlagen, Bücher und Noten auseinandergerissen, das Klavier mit Beilen und Säbeln vernichtet, vieles gestohlen. Es geschah alles in solch einer Hast, dass dieser es nur zu verdanken ist, dass einiges gerettet werden konnte.”
Woher kommt plötzlich dieser Hass, diese Verachtung und Gewalt? Was hat man den Leuten angetan, war man zu unachtsam, zu selbstvergessen in seinem persönlichen Glück? Vielleicht ist es eine unpersönliche Wut auf das Andere, auf alles Unbestimmte, das einen lauernd bedroht, wie die Wölfe in den Wäldern.
Die zurückgebliebenen Frauen befinden sich unter Beobachtung und sehen sich verdeckten und offenen Drohungen ausgesetzt. Schließlich gibt Elisabeth ihre Gesangskarriere auf – am Mariinski-Theater sollte sie die Elsa im Lohengrin singen – und verlässt ihre Heimatstadt St. Petersburg, um ihrem Mann ins Lager zu folgen. Ihre Mutter, Olga von Berg, folgt mit Tochter Eleonore nach. Elisabeth ist damals 23 Jahre alt.
Das ist der Auftakt zu einer langen Reise durch Krieg und Revolution, voller Schrecken und Entbehrungen, die sie bis nach Sibirien führt, und die nichts unverändert lässt, allem voran die Reisenden selbst. Als Elisabeth sechs Jahre später zurückkehrt, hat sie ihren Mann und ihr jüngstes Kind verloren. Und Petersburg, das muss sie schmerzhaft erfahren, ist ihr keine Heimat mehr. “So sehr ich mich gefreut hatte, als ich Petersburg sah, so glücklich war ich nun, es für immer zu verlassen. Es war dort alles nur Enttäuschung.” So reist sie weiter nach Deutschland, ihre neue, unbekannte Heimat.
Im Fluchtgepäck führt sie ein Kinderbuch mit, das schon von ihrer Mutter stammt. Und sie hat es noch, als ein weiteres Mal die Welt in Trümmern liegt.
Als ihr Enkel Albert aufwächst, erzählt sie ihm die russischen Geschichten, die er nicht lesen kann, während er sich in die Illustrationen vertieft. Sie handeln alle von Tieren und viele von der fragilen Beziehung zu den Menschen. Wie weit können Tier und Mensch sich annähern, vielleicht sogar verstehen, und wo liegen die Grenzen der gegenseitigen Akzeptanz? Oft wird das Verhalten der Tiere mit menschlichen Wertmaßstäben gemessen und entsprechend belohnt oder bestraft.
Die Faszination, die das Buch auf den Enkel auslöst, wird noch verstärkt durch die Zeugenschaft der Großmutter, die sich tatsächlich gegen Wölfe verteidigen musste in den sibirischen Kriegswintern. Damals wurde auch sie misstrauisch beäugt, ob sie, die Feindin, wohl zahm bliebe. Täglich musste sie um den Status der Duldung bangen, der einzig das Überleben möglich machte. Nur eine der Geschichten in dem Buch hat kein Tier zum Helden, die vom Wolf. Mit einer gefürchteten Bestie konnte oder wollte man nicht mitfühlen.
Was sich dem Enkel Albert besonders einprägte, waren die wunderbaren Lithographien, die in Stuttgart gedruckt wurden zu einer Zeit, als die Welt nach Osten noch ebenso offen war wie in andere Himmelsrichtungen auch. Und er begann sich zu fragen, wie wohl die Bilder weitergingen, dort wo sie unbestimmt blieben, etwa in der Höhle hinter dem entlaufenen Sklaven und dem Löwen.
Jahre später kamen andere Fragen hinzu: Wie die Bilder zu den Geschichten aussehen könnten, die im Buch bilderlos geblieben sind, und wie sich die hochwertigen Lithographien mit dem Medium Photographie stimmig ergänzen ließen. Diese Fragen beantwortet A.T. Schaefer mit dem vorliegenden Buch. Es ist eine Hommage an die Illustrationskunst und an die kleinen, nebensächlichen Dinge, in denen die Wucht der Geschichte spürbar bleibt. Dinge und Erinnerungen, Treibgut zerbrochener Zeiten.
© Tobias Dusche 2021