„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, so lautet ein allgemein bekanntes Sprichwort. Im Hinblick auf die Geschichte des geteilten Deutschlands und der DDR mag dieser Spruch auf den ersten Blick eher für diejenigen Gültigkeit haben, die eng mit dem sozialistischen Regime zusammengearbeitet haben oder ihm als Helfershelfer
dienlich waren. Doch auch für diejenigen, die Opfer dieses Systems waren und nach wie vor unter Ängsten und Bedrohungen leben – was mir als Westdeutsche zunächst gar nicht so bewusst war – ist dieser Spruch z. T. auch zutreffend. So erzählten einige Zeitzeugen, dass nach wie vor Stasi-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ihren ehemaligen Opfern unverblümt mit Vergeltung drohen, sollten sie auf die Idee kommen, sie zu verraten. Den Verantwortlichen sei daran gelegen, ihre Taten im Verborgenen zu halten.
Allerdings gibt es auch Menschen, denen trotz alledem an Aufklärung und Aufarbeitung liegt, Menschen, die den o. g. Spruch umkehren würden in „Schweigen ist Silber, Reden ist Gold“. Einige von ihnen, denen besonders Schlimmes widerfahren ist, sind fest entschlossen, ihren Beitrag zu leisten, damit möglichst viele Bundesbürger, Westdeutsche wie Ostdeutsche, erfahren, was damals in der DDR geschehen ist. Das erscheint ihnen umso nötiger, als heute oft versucht wird, die DDR-Vergangenheit zu verniedlichen und zu verharmlosen. Die Rheinische Post vom 9. Oktober 2014 zitiert in diesem Zusammenhang den Theologen und ehemaligen DDR-Oppositionellen Erhart Neubert, der konstatierte: `„Der SEDStaat vertrieb Millionen Menschen, brachte Hunderttausende in die Gefängnisse, einige Tausend Todesopfer sind zu beklagen, weitere zigtausend litten an außerrechtlicher Verfolgung und Benachteiligung“ ´. In dem Artikel heißt es weiter: „25 Jahre nach dem Mauerfall ist die Sicht auf die DDR verschwommen. Eine oberflächliche Verniedlichung greift um sich. Gräueltaten des Regimes geraten in den Hintergrund. Experten fordern einen wachen Blick auf die Zeit.“ Zu dieser „schleichenden Verharmlosung, die irgendwann Konsens“ werden könne, „darf es allerdings nicht kommen“.
Einer der hier zu Wort kommenden Zeitzeugen, Andreas Freund, beklagt sich über die „Mauer des Schweigens“, die in der Zeit seiner Heim- und Gefängnisaufenthalte bei den Bewohnern der früheren DDR herrschte, eine Mauer errichtet auf dem Fundament aus Angst, Misstrauen, Feigheit und Kollaboration. Im ersten Band der Gedankensteine habe ich die Erinnerungen von Mönchengladbacher Zeitzeugen aufgeschrieben, die über ihre Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus berichteten. Im vorliegenden zweiten Band kommen Zeitzeugen aus ganz Deutschland zu Wort, die damals in der DDR gelebt haben, aber auch Westdeutsche, die ihre Verwandten im Osten besucht oder ihnen gar zur Flucht verholfen haben. Sie alle berichten von ihren persönlichen Erfahrungen in oder mit der DDR. Genau wie der erste Band ist dies ein „Geschichtenbuch“, kein „Geschichtsbuch“. Das rein subjektiv Erlebte steht im Vordergrund und deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass einzelne historische Details nicht mehr genau in Erinnerung geblieben sind. Wichtiger ist, dass aufgrund der Schilderung persönlicher Erlebnisse Geschichte auf eine spannende, authentische Art und Weise vermittelt wird, lebendig und nachvollziehbar.
Die Geschichten habe ich teilweise aufgenommen oder Auszüge aus bereits vorhandenen persönlichen Manuskripten gewählt. Es war mir wichtig, den Sprachstil eines jeden Einzelnen möglichst zu belassen, das „Erzählen“, nicht die sprachliche Vollkommenheit soll hier im Vordergrund stehen. Ich habe daher versucht, lediglich einige syntaktische oder stilistische Änderungen vorzunehmen, damit die Erzählungen so authentisch wie möglich bleiben. Änderungen, Ergänzungen oder Anmerkungen in den Auszügen aus Manuskripten habe ich durch Kursivsatz kenntlich gemacht. Viele Fotos und Dokumente, u. a. aus den Stasi-Akten, geben ebenfalls einen interessanten Einblick in jene Zeit. Die Berichte werden durch einzelne Themenkapitel unterbrochen, zu denen sich die Zeitzeugen geäußert haben, um einen Ausschnitt aus dem täglichen Leben in der DDR zu schildern: Schule und Erziehung, Freizeit und Feste, Reisen, Religion, Erfahrungen mit Staat und Stasi, Empfindungen beim Bau und beim Fall der Mauer sowie Erfahrungen im Verhältnis mit Ost- und Westdeutschen.
Zu einer starken Demokratie gehört die ehrliche und umfassende Aufarbeitung unserer Vergangenheit. Das gilt sowohl für die Zeit des Nationalsozialismus als auch für die Zeit der DDR-Diktatur. „Schweigen ist Silber, Reden ist Gold.“ So sehen es die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, und dafür bin ich ihnen dankbar. Nach diesem Motto handelte im Übrigen auch Wolf Biermann, als er sich im letzten Jahr auf Einladung Norbert Lammerts anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls explizit an die Partei Die Linke wandte: „Und ich weiß ja, dass die, die sich Linke nennen, nicht links sind, auch nicht rechts, sondern reaktionär, dass diejenigen, die hier sitzen, der elende Rest dessen sind, was zum Glück überwunden ist.“
Mönchengladbach, im September 2015
© Sabine Schwiers