„Die Evangelien sind voller Widersprüche!“ ist eine von vielen falschen Behauptungen, mit denen der Durchschnittskatholik immer wieder von Seiten Andersgläubiger konfrontiert wird. Manche der Vorwürfe oder falschen Vorstellungen klingen sehr plausibel, etwa: „Das Gewissen sagt mir, was wahr oder unwahr, richtig oder falsch ist“. Und am Stammtisch hört man Aussprüche wie: „Der Pfarrer soll nicht über den Teufel predigen, das ist lieblos!“, oder „Die Kirche hat bestätigt, daß Außerirdische existieren!“
Alle diese Punkte und noch viele mehr berücksichtigt Karl Keating in seinem Buch 'Was Katholiken wirklich glauben'. Er spricht damit nicht nur Andersgläubige an, sondern vor allem auch die Katholiken, die häufig überfragt oder überfordert sind, wenn sie ihren eigenen Glauben erklären sollen bzw. wollen. Kurz, prägnant und trotzdem sehr detailliert zeigt Keating, was dieKirche lehrt und warum. Im Anschluß finden Sie eine Leseprobe aus Keatings soeben erschienenem Buch, welche auf die folgende irrige Ansicht eingeht:
'Wir sollten zusehen, daß wir den Rosenkranz loswerden, weil er ein Hindernis für die Ökumene darstellt'
Eine verständliche Einschätzung, jedoch nicht korrekt. Der Rosenkranz kann sogar eine echte Brücke zwischen getrennten Christen sein, wenn er richtig erklärt wird.
Um damit anzufangen: Jeder weiß, daß der Rosenkranz existiert. Wenn Sie fragen würden, welche Dinge die Katholiken am meisten symbolisieren, würden die Leute wahrscheinlich sagen: „Das Kreuz und der Rosenkranz natürlich!“ Wir sind vertraut mit den Bildern, die mit dem Rosenkranz einhergehen: die sich leise bewegenden Lippen einer alten Frau, die ihre Perlen durch die Finger gleiten läßt, der überdimensionale Rosenkranz, den eine Ordensfrau im Habit an der Seite trägt, und seit neuestem den oft rein dekorativen Rosenkranz, der am Innenspiegel des Autos hängt.
Die Gebete, aus denen der Rosenkranz besteht, sind ganz biblisch. Das erste, das Glaubensbekenntnis, gibt einfach einen Überblick über den Glauben, wie er von den Katholiken und den meisten Protestanten angenommen wird. Das Vaterunser, auch Herrengebet genannt, ist streng biblisch (Mt 6, 9-13). Das nächste Gebet im Rosenkranz, das Gebet, das wirklich die Mitte der Andacht ist, ist das Gegrüßet seist du, Maria (Ave Maria). Im kompletten Rosenkranz-psalter von fünfzehn Gesätzen wird es 153 Mal gebetet. Vielleicht ist das einfach zufällig genau die Anzahl der Fische, die die Apostel fingen, als Jesus sie geheißen hatte, ihre Netze auszuwerfen (Joh 21, 11). Oder ist es geradezu gefügt?
Weil das Ave Maria ein Gebet zu Maria ist, meinen viele Protestanten, es sei unbiblisch. In Wirklichkeit ist gerade das Gegenteil der Fall. Sehen wir es uns an.
Das Gebet beginnt: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.“ Dies ist nichts anderes als der Gruß des Engels, wie er bei Lukas 1, 28, steht. Der nächste Teil lautet: „Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.“ Ein weiteres, direktes Zitat aus der Bibel, diesmal das Loblied Eli-sabets auf Maria, als diese ihre Cousine besuchte, die mit Johannes dem Täufer schwanger war (Lk 1, 42). Die Tradition hat diesen zwei Versen den richtigen Namen der „Frucht deines Leibes“ hinzugefügt, dieser lautet „Jesus“. Das gibt uns den ersten Teil des Ave Maria, und er ist ganz biblisch. Dieser Teil des Gebets wurde mindestens schon im 12. Jahrhundert als Gebetsformel verwendet. Die jetzige Form wurde erst 1568 festgesetzt.
Der nächste Teil des Ave Maria stammt nicht aus der Bibel. Er lautet: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Befassen wir uns mit den ersten zwei Worten. Man sollte meinen, gegen das „Heilige Maria“ sollten keine Einwände zu erheben sein, doch einige Protestanten haben Vorbehalte dagegen und sagen: Maria war eine Sünderin wie wir alle. Andererseits geben sogar sie zu, daß Maria von Gott in besonderer Weise begnadet war. Wenn außer Christus selbst irgend jemand verdient, heilig genannt zu werden, so wäre das gewiß Maria.
Jene Protestanten und viele andere Christen werden aber dennoch Einwände haben, Maria den Titel „Mutter Gottes“ zu geben. Es genügt wohl, wenn ich sage, daß der Titel nicht bedeutet, daß Maria älter als Gott ist. Er bedeutet, daß die Person, die von ihr geboren wurde, eine göttliche Person war, nicht eine rein menschliche Person. Jesus ist eine Person, die göttliche, doch er hat zwei Naturen, die göttliche und die menschliche. Maria empfing und gebar nicht nur die menschliche Natur Jesu, sondern den ganzen Gottmenschen, den menschlichen und göttlichen.
Die heikelste Zeile ist die letzte: „Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Viele Protestanten meinen, eine solche Bitte lasse darauf schließen, den Vers bei 1 Tim 2, 5 zu verwerfen: „Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus.“ Die Lösung in diesem Punkt hängt von dem Verständnis ab, daß Christus, der der Mittler ist, seine Mittlerfunktion so ausüben kann, wie er es wünscht. Schließlich erlaubt er uns, füreinander Fürsprache einzulegen. Katholiken sagen, daß Christen sowohl im Himmel als auch auf Erden füreinander beten können. Die meisten Protestanten sagen, daß wir dies nur auf Erden tun könnten. Aber wenn Christen im Himmel für diejenigen auf Erden beten können, so kann gewiß Maria, die herausragende Christin, jetzt für uns beten, und wir können sie um ihre Fürsprache bitten.
Das vierte Gebet, das sich im Rosenkranz findet, ist das Gloria oder Ehre sei dem Vater. Der Name kommt direkt vom ersten lateinischen Wort des Gebetes und bedeutet Ehre. Es ist ein kurzer Lobpreis, in den alle Christen einstimmen können. In der westlichen Kirche wird er seit dem 7. Jahrhundert verwendet und wird für gewöhnlich am Ende jedes Psalms im Brevier gebetet. Das letzte Gebet des Rosenkranzes ist das Salve Regina oder „Sei gegrüßt, du Königin, Mutter der Barmherzigkeit“, der nach dem Ave Maria am häufigsten gebetete Lobpreis auf Maria. Er wurde gegen Ende des 11. Jahrhunderts verfaßt.
Natürlich werden jene Protestanten, die Bedenken gegen das Ave Maria haben, überwiegend aus den gleichen Gründen Bedenken gegen das Salve Regina haben. Die anstößigste Zeile für sie ist wohl die dritte, in der wir Maria „unser Leben, unsre Wonne und unsre Hoffnung“ nennen, eine Zeile, die daraus hervorgeht, daß wir Maria als die Mutter des Erlösers ehren – und anerkennen, daß dieMenschwerdung ohne ihr „Ja“ zum Engel Gabriel nicht geschehen wäre. Sie sagen: Aber diese Worte sollten an Jesus gerichtet sein, nicht an seine Mutter! Aber sie lesen mehr in die blumige Sprache des Mittelalters hinein, als die Sprache verlangt.
Sie erheben keinen Einwand, wenn der junge Mann zum Mädchen seiner Träume sagt: „Du bist die Liebe meines Lebens“, obwohl, wenn man streng ist, die wirkliche Liebe unseres Lebens – wenn der Begriff übertrieben wörtlich aufgefaßt wird – Gott sein sollte, nicht ein anderer Mensch. Doch die Protestanten haben keine Einwände gegen die Sprache der Romantik, weil sie wissen, was gemeint ist. Aus demselben Grund sollten sie keine Einwände haben, wenn Maria mit Koseworten als „unser Leben, unsre Wonne und unsre Hoffnung“ charakterisiert wird.
Jedes der fünfzehn Gesätze des Rosenkranzes ist einem Geheimnis gewidmet, das das Leben Jesu oder seiner Mutter betrachtet. Hier verweist das Wort Geheimnis auf eine Glaubenswahrheit, nicht auf etwas Unbegreifliches. Die fünfzehn Geheimnisse sind in drei Fünfergruppen aufgeteilt: die freudenreichen, die schmerzhaften und die glorreichen Geheimnisse. Für gewöhnlich versteht man unter „Rosenkranz beten“ einen Satz von fünf Geheimnissen, nicht das Beten aller fünfzehn Geheimnisse. Werfen wir einen Blick auf die Geheimnisse.
Zuerst müssen wir verstehen, was sie sind. Sie sind Meditationen. Wenn die Katholiken die zwölf Gebete sprechen, die jeweils ein Gesätz des Rosenkranzes bilden, meditieren sie über das Geheimnis, das mit diesem Gesätz verknüpft ist. Wenn sie lediglich die Gebete sprechen, ob laut oder leise, dann entgeht ihnen der ganz entscheidende Punkt des Rosenkranzes. Er ist nicht einfach ein Hersagen von Gebeten, sondern ein Beten, das getragen wird von der Meditation über das Leben Christi und seiner Mutter. Kritiker, die nichts vom meditativen Teil wissen, sagen, der Rosenkranz sei langweilig, voll sinnloser Wiederholungen und bedeutungslos. Ihre Kritik hat Gewicht, wenn man den Rosenkranz auf eine solche leere Formel beschränkt. Die Meditation über die Geheimnisse ist es, die dem Rosenkranz seine Kraft und seine bleibende Bedeutung gibt.
Die freudenreichen Geheimnisse sind folgende: die Verkündigung (Lk 1, 26-38), der Besuch bei Elisabet (Lk 1, 40-55), die Geburt Jesu (Lk 2, 6-20), die Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2, 21-39) und das Wiederfinden des Kindes Jesus im Tempel (Lk 2, 41-51).
Dann kommen die schmerzhaften Geheimnisse: die Todesangst im Garten Getsemani (Mt 26, 36-46), die Geißelung (Mt 27, 26), die Dornenkrönung (Mt 27, 29), das Tragen des Kreuzes (Lk 23, 26-32) und die Kreuzigung (Lk 23, 33-46).
Die abschließenden Geheimnisse sind die glorreichen: die Auferstehung (Lk 24, 1-12), die Himmelfahrt (Lk 24, 50-51), die Herabkunft des Heiligen Geistes (Apg 2, 1-4), die Auffahrt Mariens in den Himmel und ihre Krönung.
Mit Ausnahme der letzten beiden ist jedes Geheimnis ausdrücklich biblisch. Es gibt sogar Rosenkranzversionen nach der Heiligen Schrift, bei denen je ein Bibelvers mit jedem Ave Maria mitgebetet wird. Es stimmt, daß die Himmelfahrt und Krönung Mariens nicht in der Bibel zu finden sind, aber sie stehen nicht im Widerspruch zu ihr.
Es ist kein Wunder, daß heutzutage viele Katholiken den Rosenkranz wieder als Andachtsform aufgreifen, sobald sie seine biblische Grundlage und seinen Wert als Meditation über das Leben Christi und seiner Mutter verstanden haben. Sogar manche Protestanten zeigen ihr Interesse an ihm, was darauf schließen läßt, daß diese Andachtsform, wenn sie richtig verstanden und dann erklärt wird, eine echte Brücke zwischen Katholiken und Protestanten sein kann.