Have a seat

Have a seat
Have a seat please! oder Zwischen den Stühlen Eugène Ionesco gilt als der Erfinder des Absurden Theaters. Exemplarisch für dieses Genre ist das Zweipersonenstück „Die Stühle“. Ein betagtes Ehepaar, das völlig isoliert lebt, stellt den Raum voller Stühle, auf denen die Gäste Platz nehmen. Es sind Personen, die in ihrem gemeinsamen Leben mehr oder weniger wichtige Rollen gespielt haben. Diese Gäste jedoch – es ist eben ein Zweipersonenstück – sind für die Zuschauer unsichtbar. Für ihre szenische Realität sorgen die Ansprachen, die von dem Paar an sie gerichtet werden und – die Stühle. Das Wort Stuhl kommt etymologisch von „Gestell“. Etwas wird gestellt, aufgestellt, höher gestellt, um für einen Gegenstand oder eine Person Platz zu bieten. Im Wort „Dachstuhl“ findet sich noch diese Bedeutung: das dachtragende Gestell. Das französische Wort „chaise“ und das englische „chair“ kommt vom griechischen „cathedra“. Das ist der in Kirchen erhobene Sitz des Bischofs, von dem dieser „ex cathedra“ die Heilslehre verkündet. Dem Stuhl eigen ist also das Erhöhte. Eine höher gestellte Person nimmt Platz auf einem Stuhl, während die anderen am Boden sitzen oder stehen. So hält eine Technik Einzug in die menschliche Versammlungsordnung, die eine augenscheinliche Hierarchie ermöglicht. Martin Heidegger, bekannt für seine eigenwilligen Lesarten antiker griechischer Begriffe, übersetzt das platonische „techné“ als „Gestell“. Die Technik, so interpretiert er nun das deutsche Wort, sei zwischen den Menschen und die Welt gestellt, sie stelle gleichsam den Menschen in die Technik hinein und macht ihn von ihr abhängig. Sind wir von Stühlen abhängig? Wenn wir weder stehen noch auf dem Boden sitzen wollen, ja. Zum Vorsitz, zum Ansitz, zum Nachsitzen brauchen wir Stühle. Zum Auf- und Absitzen taugt auch ein Pferd. Aber auch auf dem Stuhl können wir rittlings sitzen. Wenn das Design ausschließlich optisch bestimmt und mithin unergonomisch ist, ist das oft die einzige Möglichkeit, eine mehrstündige Sitzung ohne nachhaltige physische Schäden zu absolvieren. Design widerspricht mitunter energisch dem Gebrauch. Möbel jedoch sind Gebrauchsgegenstände und dienen einer bestimmten Nutzung. Gutes Design sollte dies berücksichtigen. Die Gestaltung eines Stuhls orientiert sich an seiner Funktion. Schreibtischstühle sehen anders aus als Stühle an einem Esstisch, das Chorgestühl einer Kirche unterscheidet sich von der Bestuhlung eines Theater oder Konzertsaales. Stapelstühle bewähren sich bei raumsparender Aufbewahrung, beweglich sind Klapp-, Kinder- und Liegestühle, sie geben auch wie der Kniestuhl eine bestimmte Körperhaltung vor oder verlangen eine solche wie etwa der Lehnstuhl oder Stühle, die der medizinischen Behandlung dienen, wie beim Zahnarzt oder Gynäkologen. Eine Variante ist der lehnenlose Stuhl oder Hocker. Er dient dem kurzzeitigen Absetzen oder, je nach Konstruktion, dem Pianisten oder zum Draufsteigen, wie der von Max Bill geschaffene Ulmer Hocker. Künstlerisch gestaltete Stühle können sich freilich über Nutzung und Ergonomie hinwegsetzen und mit Formgebung und Material die Technik des Stuhls und die Haltung des Sitzens kommentieren. Matthias Blindow ist gelernter Schreiner. Bei seinen Sitzgelegenheiten verwendet er Holz, das seine organische Herkunft nicht verschweigt. Geometrisch geformtes Metall bildet den Kontrapunkt zum aus dem Stamm gewachsenen Material. Die Objekte laden zum Platznehmen ein – auch zu zweit nebeneinander oder einander gegenüber – ohne Bequemlichkeit zu verheißen. Sandra Böhm stellt ihre Hocker aus Pappmaché her. Die einfache Produktionsweise liefert wenig Gewicht, leichte Transportfähigkeit und kommode Stabilität. Ihre fragile Leistenbank dagegen stellt eine Zumutung dar für jeden, der auf der Suche ist nach einem Sitzplatz. In der Anmutung irgendwo zwischen Barren und Guillotine, erscheint die Konstruktion als gebrauchsabgewandtes Gerät mit ironischem Einschlag. Andreas Brandolini, Architekt und Diplomingenieur, ist Traditionalist. Seine Sitzmöbel könnten ohne weiteres in einer Bauernküche oder im Landgasthof stehen. Massiv, stabil und rustikal formuliert das Holz seine Einladung: Hier lass dich ruhig nieder! Armlehne und Lederkissen verkünden veritable Gemütlichkeit. Rudolf Schwarz ist Maurer, Architekt und Schäfer. Als KunstSchäfer hat er seinen Bliesgauhocker entworfen. Sieben verschiedene Hölzer von Waldbäumen oder Bäumen auf Streuobstwiesen im Biosphärenreservat Bliesgau bilden das Material. Im Jugenddorf-Berufsbildungswerk Homburg-Schwarzenbach werden diese Möbel gefertigt. Jedes ist ein Unikat und wird von dem Jugendlichen, der es gebaut hat, handsigniert. Handwerk, Design und Natur sind im Gleichgewicht und gewährleisten problemloses Sitzen. Samy R. R. Vermeulen ist Stahlbauschlosser und schreckt vor dem harten, kalten Material auch dann nicht zurück, wenn es ums Sitzen geht. Zunächst jedoch ist der Blick angesprochen. Sei die Anmutung technisch-maschinell oder animalisch-organisch, in jedem Fall gilt: Das Auge sitzt mit. Vor jeder Möglichkeit des Gebrauchs sind diese Stühle Kunstobjekte. Elke Weingardt recycelt. Sie flicht aus in Streifen geschnittenem Verpackungsmaterial Flächen, die sie zu Würfeln formt. Möglicherweise ist der Tetra Pak-Karton stabil genug, eine sitzende Person zu tragen. Doch darauf kommt es nicht an. Hier präsentiert sich Wegwerfmaterial, Wohlstandsmüll in neuer, Aufsehen erregender Gestalt. Martin Wilmes macht uns ein U für einen Stuhl vor. Sein aus jeweils einem besonderen Holz gefertigtes U ist, umgekehrt auf die Seitenwände gestellt, ein Hocker. Die Nähe zur Ulmer Hochschule für Gestaltung und dem 1954 dort von Max Bill kreierten Möbelchen, das als Sitz ebenso wie als Beistelltisch Verwendung findet, fällt ins Auge. Die Schönheit dieses einfachen Gegenstandes, der sich zum Gebrauch anbietet, geht aus von der harmonischen Proportion dreier Flächen, und von der Anmut der verwendeten Hölzer. Etla Breyer-König ist Schmuckgestalterin, Andreas König Stuhldesigner. Ihre Stühle sind Miniaturen aus Silber und Bronze, die sich als Sammlerstücke etabliert haben oder als Objektträger dienen für edles Gestein. Sie nehmen auch die Gestalt von Ringen, Manschettenknöpfen oder Accessoires an. „Schmuck der sitzt“ nennen es die Künstler und kehren damit die Funktion um: Hier sitzt der Körper nicht auf dem Stuhl, sondern der Stuhl sitzt am Körper. Der Stuhl ist ein für die menschliche Zivilisation grundlegender Gegenstand. Auch in Kulturen, wo mehr auf dem Boden gesessen wird als bei uns – in Asien etwa speist man da und dort noch heute kniend mit dem Gesäß auf den Fersen an flachen Tischen – ist der Stuhl als Thron eines Fürsten, Priesters oder Richters unverzichtbar. Wie jede Errungenschaft der Zivilisation birgt auch der Stuhl Ambivalenz in seiner Auswirkung. Im Zuge zunehmender Digitalisierung von Produktionsvorgängen wird der Arbeitsplatz immer häufiger zum Sitzplatz. Der Blick des Schreibenden richtet sich heute nicht mehr auf die Tischplatte oder das in die Schreibmaschine eingespannte Papier. Wir starren auf den Bildschirm. Dabei sitzt man anders. Vom Schreibtischstuhl bis zum Chefsessel werden die Sitzgeräte immer stärker nach ergonomischen Gesichtspunkten, die der Computerhaltung gemäß sind, geformt. Ein gesundheitsbewusst konstruierter Bürostuhl sieht heute eher aus wie eine Sitzmaschine. Oder die Wahl fällt auf einen Sitzball, der die Elastizität der Wirbelsäule und ihrer Bandscheiben permanent fordert. An einem Ball jedoch gibt es nichts zu gestalten. Der ist einfach rund. Stühle bieten Gestaltungspotential. Ob unter Nutzungs- oder ästhetischen Gesichtspunkten sind die Dimensionen des Stuhls nahezu unerschöpflich. Von neutraler Schlichtheit bis zum markanten Ausdrucksprofil seines Be-Sitzers vermag der Stuhl sich darzustellen, besonders, wenn er leer ist. Dann ist der Platzinhaber vielleicht vorübergehend unterwegs. Als – um ein anderes Stück von Ionesco zu zitieren – „Fußgänger der Luft“. Jörg W. Gronius
Aktualisiert: 2020-01-24
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