Das Vermächtnis des Don Giulio Clovio und die wundersame Vermehrung der Zeichnungen Michelangelos

Das Vermächtnis des Don Giulio Clovio und die wundersame Vermehrung der Zeichnungen Michelangelos von Perrig,  Alexander
Giulio Clovio (1498 – 1578), der 1516 nach Italien ausgewanderte und dort zum berühmtesten Miniator seines Jahrhunderts gewordene Kroate, tat Ungewöhnliches noch angesichts seines nahenden Tods. Nicht nur vermachte er dem Kardinal Alessandro Farnese, dem er vier Jahrzehnte lang gedient hatte, fast die Gesamtheit seiner noch verfügbaren Zeichenblätter. Er sorgte auch dafür, dass über deren Zusammensetzung noch in seiner Anwesenheit ein von drei Zeugen beglaubigtes Protokoll („Nachlassinventar“) angefertigt wurde. Diesem zufolge sollte der Kardinal, in dessen Sammlungen lose zeichnerische Einzelstücke bis dahin fehlten, den Grundstock einer neuen Sammlungssparte erhalten: 492 Blätter, 412 davon mit Zeichnungen des Miniators, 80 mit solchen anderer Meister (10 mit Erzeugnissen Michelangelos) versehen. Sieben Jahre nach Clovios Tod hatte diese neue Sammlungssparte dank der Ankunft eines 212-blättrigen Konvoluts, in dem ca. 60 Künstler vertreten waren (Clovio mit 9, Michelangelo mit 4 Blättern), bereits ihren Zenith erreicht. Noch kurz vor Kardinal Alessandros Tod im März 1589 begann dieser Maximalbestand zu schwinden, unbemerkt von den jeweiligen Erben, ablesbar nur an den sich sukzessive verkleinernden Mengenangaben in den fünf zwischen 1588 und 1662 erstellten Sammlungsinventaren. Dem ersten Verlust gingen unmittelbar voraus eine undurchschaubare Neuordnung des Blätterbestands und das wohl gleichzeitige Abtauchen von Clovios „Nachlassinventar“. Beides hatte zur Folge, dass die für die Erstellung der späteren Inventare Verantwortlichen weder die Zahl noch die Namen der in der Sammlung vertretenen Künstler, geschweige denn die Herkunft der einzelnen Blätter und deren ursprüngliche Gesamtzahl kannten. Der Maler Giovanni Lanfranco, der das Inventar von 1626 erstellte (und statt der ursprünglich 704 Blätter nur noch 619 vorfand), vermochte von den Clovio-Blättern gerade mal 29 zu identifi zieren, obwohl es damals noch mindestens 327 gegeben haben muss. Im Inventar von 1653 kommt Clovios Name überhaupt nicht mehr vor. Dabei war der Miniator noch mit einem mindestens 180-blättrigen Kontingent vertreten und damit nach wie vor der numerische Riese unter den Zwergen. Das vorliegende Buch geht erstmals der naheliegenden Frage nach, was mit der ursprünglichen Clovio-Masse, deren Existenz erst seit der 1882 erfolgten Publikation des wiederaufgefundenen „Nachlassinventars“ erneut ins Bewusstsein von Clovios Nachwelt trat, geschehen war. Die durch vielfältige Recherchen ermöglichte Antwort ist erschreckend: ein Großteil dessen, was zwischen 1588 und 1799 aus der farnesischen Blättersammlung abgedriftet war, tauchte in den Sammlungen der Nachbesitzer unter dem Namen „Michelangelo“ auf. Und ein ansehnlicher Teil des in der farnesischen Sammlung Verbliebenen war schon im 17. Jahrhundert auf diesen Namen umgetauft worden. Mindestens 125 von den rund 600 Blättern, die angeblich das erhaltene Zeichnungsoeuvre Michelangelos repräsentieren, entpuppten sich infolgedessen als Träger zeichnerischer Duftmarken desjenigen Künstlers, der von seinem Freund, Bewunderer und ersten Biographen Vasari 1568 der „neue und kleine Michelangelo“ genannt wurde.
Aktualisiert: 2020-12-09
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