Verweilende Augen-Blicke

Verweilende Augen-Blicke von Hurtz,  Klaus
"Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Dieses wegweisende Wort von Martin Buber drückt zeitlos Gültiges aus, denn Begegnung ist ein Urbedürfnis des Menschen. Nicht umsonst hat die Technik hier einen schier unerschöpflichen Markt entdeckt; und so können wir uns auch im Internet in sozialen Netzwerken bewegen, haben wir die Möglichkeit erhalten, in unterschiedlichsten Formen miteinander zu kommunizieren. Weltweit wird gesimst, gemailt, getwittert, geskypt, gebloggt, doch mir scheint, dass das persönliche Gespräch unerreicht und dass die Begegnung von Angesicht zu Angesicht unersetzbar bleibt. In ihrem Gedicht „Es gibt dich“ bestätigt Hilde Domin in ihrer sensiblen poetischen Sprache, worauf es ankommt: „Dein Ort ist / wo Augen dich ansehn / Wo sich die Augen treffen / entstehst du /… Es gibt dich / weil Augen dich wollen / dich ansehn und sagen / daß es dich gibt“. Durch das Du findet das Ich zu sich selbst, nur im Widerspiel mit dem Du vollzieht sich Ich-Werdung! Deshalb ist wirkliche Begegnung so wichtig, deshalb brauchen wir den Augen-Blick unseres Gegenübers. Dabei ist Qualität wichtiger als Quantität, es spielt keine Rolle, wem man begegnet, erst recht kommt es nicht auf die Dauer einer Begegnung oder ihre Häufigkeit an, ihre Intensität ist entscheidend; also in welcher Wahrnehmungsbereitschaft, in welcher Offenheit füreinander sie sich vollzieht. Solche Begegnungen bewirken dann eine Nachhaltigkeit, sie können Spuren hinterlassen. „Wie der Goldschmied sein Zeichen in die Kleinodien, gräbt die Berührung mit einem Menschen eine Marke in uns ein.“ Füreinander Kleinod und zugleich Goldschmied sein, ein schönes Bild, das der Schriftsteller Ernst Jünger wählt. Wir alle tragen die Prägungen unserer Herkunft in uns, und wo immer wir Menschen begegnen, die uns besonders berühren oder eben „beeindrucken“, da begleiten uns ihre „Marken“, ziehen wir nicht unbeeindruckt weiter. Andererseits schwingt auch die Mahnung mit, dass wir schon genau darauf achten sollten, welche Markierungen wir in unseren Begegnungen im Du eingraben; wir tragen Verantwortung füreinander. Denn genau die Eindrücke des Guten durch das Du sind es doch, die den Menschen wirklich reich machen, die das Leben erfüllt werden lassen. „Die Frucht, die bleibt, ist das, was wir in die menschlichen Seelen gesät haben – die Liebe, die Erkenntnis; die Geste, die das Herz zu berühren vermag; das Wort, das die Seele der Freude des Herrn öffnet.“ So umschreibt es Papst Benedikt XVI. Um solche Früchte geht es, die das Ich zu einer reifen Persönlichkeit wachsen lassen, die uns – hören wir auf unsere Sprache – zu Er„wachsen“en werden lassen. Als junger Student wusste ich weniger um solche Gedanken, und mir ist heute nicht mehr erinnerlich, ob ich damals schon den dialogischen Personalismus von Buber gekannt habe, aber welchen Stellenwert Begegnungen besitzen, das spürte ich genau. Es ist sowohl Privileg als auch Auszeichnung der Jugend offen und unbedarft in Begegnungen hineinzugehen, vielleicht auch manchmal mit einer gewissen Kühnheit. Aber genau diese Disposition vermag den Kairos einer Begegnung zu ergreifen. In der griechischen Mythologie wird der Kairos als junger Mann dargestellt, der vorne an der Stirn einen dichten Haarschopf trägt, sein Hinterkopf ist hingegen kahl. Wenn er also vorübereilt, muss man ihn vorne am Schopfe packen, zögert man zu lange, ist er schon vorüber, man erwischt nur noch seine kahle Stelle und greift ins Leere. Im Älterwerden gibt es den Zeitpunkt, wo einem deutlich vor Augen kommt, dass man mittlerweile mehr Vergangenheit als Zukunft hat; und erstaunlicherweise wird gleichzeitig Vergangenes wieder präsenter. Erinnerungen steigen auf, Verinnerlichtes wird sichtbar, Prägungen treten hervor. Von solchen erinnerten Begegnungen aus der Studienzeit, die vielleicht auch für andere von Interesse sind, soll berichtet werden. Eigentlich sind es nur winzige Mosaiksteinchen, die gewiss kein Bild ergeben, die ganz persönlich gefunden, empfunden wurden, die allerdings vielleicht einen kleinen blinden Fleck hinterließen, blieben sie unerzählt. In seinem Dankesgruß an die Gratulanten zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag sinniert Martin Buber über das Wort „danken“. Dabei verweist er auf den markanten Unterschied zwischen deutscher und hebräischer Sprache. „Da bedeutet die Verbalform hodoth zunächst sich (zu jemand) bekennen, sodann danken. Das schließt natürlich das Gedenken ein, aber es ist mehr als es. Es ereignet sich nicht bloß drin in der Seele, es geht aus der Seele in die Welt und wird zu Handlung; zum Ereignis in ihr. Sich so zu jemand bekennen heißt aber: ihn in seiner Existenz bestätigen.“ (Heraushebung durch M. Buber) Vielleicht sollten wir alle lernen, auf diese Weise zu danken, eben nicht nur, indem wir an den anderen denken, sondern indem wir uns zu ihm bekennen. Durch das Du kommt das Ich zu sich selbst; indem wir dem Du danken, bestätigen wir seine Existenz. In diesem Sinne will das hier Berichtete Dank sagen für die unzählbaren Augenblicke von Begegnungen, deren Augen-Blick aber prägend wurde, da man erfahren durfte, „weil Augen dich wollen.“
Aktualisiert: 2019-10-01
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