Auszug aus dem - noch "provisorischen" Vorwort:
Vorwort: Auf die Darstellung der Verfolgung und des erfahrenen Unrechts der Opfer kommt es bei Lenau an, nicht auf das pessimistisch-nihilistische Ende der tragischen Sujets
Um diese These zu exponieren, dieser Sicht zum Durchbruch zu verhelfen, schrieb ich dieses Buch.
Die Verlockung, auf das Ende zu sehen, ist immer groß: Wird Faust gerettet oder wird der große Strebende und Sünder doch zu Grunde gehen, tragisch scheitern?
Der Ausgang einer dramatischen, oft tragischen Handlung entscheidet einzig allein über die Gesamtinterpretation. Das Schlusswort, die Lösung, verführt.
Goethe rettete sein – schuldig gewordenen - Helden, der sich in dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst war, weil er den schwachen, sündhaftem Menschen auf seinem Weg durchs Leben doch nicht ganz den dämonischen Mächten des Schicksals preisgeben wollte; Lenau aber ließ seine Faustgestalt, hin und hergerissen, von geheimnisvollen Kräften, von denen das exponierte Ich nicht will und weiß, trotzdem untergehen, nicht nur, weil es im tatsächlichen Leben so ist, wo das Böse über das Gute triumphiert und ein einziger Schurke oder Menschheitsverbrecher Tausende, ja Millionen Unschuldige in das Unglück und in den Tod stürzt, sondern auch, weil das Wesen des Tragischen danach verlangt.
Obwohl er sich zum Verfassen von Tragödien nicht berufen fühlte und tatsächlich auch keine Trauerspiele verfasst hat, gestaltete Lenau zahlreiche Sujets „tragisch“ und ließ diese dementsprechend pessimistisch-nihilistisch enden. Lenaus „Don Juan“, ein geübter Fechter, lässt sich von einem Dilettanten der Fechtkunst im Duell erstechen; Faust scheitert auf den Klippen am Meeresstrand, die Albigenser werden im Zeichen des Kreuzes vom Papsttum und im eindeutigen Genozid als religiöse Minderheit, der man die Freiheit der Religionsausübung abspricht, vernichtet; Savonarola, die große Geist, politischer Denker und Reformator der christlichen Kirche vor Luther, endet auf dem Scheiterhaufen in Florenz!
Vier große Epen konzipierte Lenau – und alle vier Epen setzt er tragisch um, indem die Protagonisten untergehen lässt. Ähnlich, ja fast identisch, ist die Vorgehensweise des Dichters wenn es darum geht, seine Lieblingsgestalten, die man auch als „Komplementärgestalten“ zu den Epen ansehen kann, poetisch zu inszenieren, Repräsentanten der drei verfolgten Minderheiten im Abendland, der Juden, der Zigeuner und der Indianer Nordamerikas, die allesamt „Identifikationsfiguren“ sind: Tubal, der gedemütigte Jude, endet am Kreuz, ebenso wie der „arme Jude“, der erfriert, anders „erlöst“ als der in eigenen Tränen vom scheidenden Savonarola noch getaufte Tubal. Mira, das schöne Zigeunerkind, geht von dieser Welt, nachdem man ihm frevlerisch und zynisch die Ehre geraubt hat, ihr Vater, Mischka, der Musikant aus Leidenschaft, verscharrt seine Geige für immer; die drei Indianer stürzen todesmutig den Katarakt hinunter, weil sie, der Natur entfremdet und der angestammten Heimat vom weißen Mann beraubt, also würdelos, nicht mehr weiterleben wollen. Das alles sind düstere Lösungen, Erlösungen die nicht zuversichtlich in die Zukunft weisen, sondern, in nahezu apokalyptischen Bilder, auf eine Endzeit und auf Untergang hindeuten; es sind ergreifende, verführende Bilder und Botschaften, die aber auch den Blick für das Eigentliche verstellen, für das Anliegen des Dichters, den Prozess der Entrechtung zu schildern.
Lenaus Verdienst als politisch engagierter, als aufklärender und wachrüttelnder Dichter besteht darin, den Weg des Unrechts im Detail und vielfältig aufgezeichnet zu haben, kulturspezifisch und interkulturell.
Sind Fausts und Don Juans Verstrickungen in die Schuld noch individuelle Vorgänge auf dem - teils geistig, teils sensualistisch - beschrittenen Weg durchs das Leben, so herrschen bei Savonarola, der Glaubensgemeinschaft der Katharer, der Abtrünnigen und so genannten Ketzern, noch mehr bei den Juden sowie bei den - ebenfalls in der Gruppe erscheinen – Indianern – „Der Indianerzug“ – und Zigeunern eine Fremdbestimmung von außen vor: Diese Getriebenen sind Opfer der sozialen und politischen Verhältnisse im christlichen Abendland, in Europa und in Nordamerika, mitten in ökonomischen Umbrüchen am Vorabend der Revolution von 1848, deren verbindendes Gemeinschaftsziel in der Umsetzung von universell gültigen Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten für alle Bürger eines Staates besteht.
Wie Heine, der, viel später als Lenau, das von den schlesischen – und französischen - Webern erfahrene Unrecht in einem anklagenden, weltbekannten Gedicht einfängt, so bündelt Lenau – zusätzlich zu den Polen-Gedichten – die Entrechtung der Juden, der Zigeuner und der Indianer durch den Staatsapparat in den Gedichten, die den drei verfolgten Minderheiten gewidmet sind.
Der Dank der Vaterländer, die an sich nur zynische Entfaltungsmechanismen eines politischen Willens zu Macht sind, ist ausgeblieben; auch deshalb, weil die Verfolgung, die im Nationalsozialismus kulminieren sollte und beinahe den Exitus zweier Völker nach sich gezogen hätte, jene der Juden und der Zigeuner, weiter ging - und das, nachdem die Extinktion der Indianer in Nordamerika fast schon abgeschlossen war.
Einiges davon wurde in der – inzwischen fast zweihundertjährigen - Interpretation und Erforschung der Dichtungen Lenaus erkannt, manches auch nicht. Während, in der Regel linke Autoren den Aufklärungsprozess durchaus würdigten und in Lenau den „poéte rebelle et libertaire“ hervorkehrten – wie der mir seit Jahrzehnten verbundene Hochschullehrer, Maler und Musiker Jean-Pierre Hammer aus Paris -, andere sogar über das Ziel hinausschossen und, namentlich im Bereich der marxistisch ausgerichteten Literaturwissenschaft des ehemaligen Ostblocks, und, den Dichter instrumentalisierend, in Lenau einen Vorläufer des Kommunismus sehen wollten, was nicht zutrifft, setzte sich in der deutschen und westlichen Interpretation eine Sichtweise durch, die Lenau ein negativistisches, pessimistisch-nihilistisches Image verpasst und somit nicht nur das Erscheinungsbild des Dichters insgesamt, sondern auch sein engagiertes Eintreten für die Rechte und Freiheiten der Juden, Zigeuner und Indianer kleinredet und verfälscht.