Kunst für den Raum - Anmerkungen zur plastischen Kunst von Matthias Stuchtey
Auf den ersten Blick lassen viele Skulpturen von Matthias Stuchtey an Architekturmodelle denken. Vor allem aber sind es Gestaltungen, die für den Raum gedacht und entwickelt wurden und dabei von den Möglichkeiten der Bildhauerei berichten.
Schauen wir uns dies etwas genauer an: Die plastischen Arbeiten des Künstlers bestehen zumeist aus rechteckigen Kästen, hergestellt werden sie aus Sperrholz- und Spanplatten, aus MDF oder mit Metallelementen. Stuchteys Werke veranschaulichen sich im Raum, sie handeln von Flächen und Räumen, Perspektiven und Wahrnehmungen, demnach der spannungsvollen Begegnung und Beziehung umschlossener und offener Formen. Mit der Herstellung seiner plastischen Kompositionen komponiert er in einem handwerklichen Prozess mit den oben genannten Materialien komplexe dreidimensionale Situationen, man könnte auch sagen, er formt Serien und Systeme für den Raum, die sich darin als Kunstwerke bewähren.
Plastiken und Skulpturen der Gegenwart benötigen weder Sockel noch Plinthe, sie können – so auch Stuchteys Werke – überall im Raum erscheinen und sind dergestalt nicht länger enthoben oder getrennt vom Publikum und dem Aufstellungsort. Aufgrund seiner Materialverwendungen entsteht in Matthias Stuchteys Werken eine spezielle Nähe und Verwandtschaft zu den Gegenständen des Gebrauchs und den Objekten des Alltags – zum Beispiel zu Möbeln und Verpackungskisten. Dass seine Arbeiten als Kunstwerke erkannt werden, bedingt sich aufgrund ihrer außergewöhnlichen Gestaltung, ihrer Positionierung vor Ort sowie einer Funktion, die im Sinne eines Kunstbegriffs jenseits der Funktionsbestimmung üblicher Gebrauchsgegenstände liegt.
Das Verwenden von Gegenständen und Materialien des Alltags ist letztlich Ergebnis einer bildhauerischen Entwicklung, die mit Marcel Duchamp und seiner Entdeckung des Readymade einsetzte, als er 1917 erstmals mit „Fontaine“ ein Porzellanpissoir in einem Museum ausstellte. Seitdem können Alltagsobjekte zu Kunstwerken werden – dies trotz und wegen ihrer Ähnlichkeit zu Funktionsobjekten. Insbesondere deshalb, weil sie aufgrund ihrer Kontextualisierung im „Betriebssystem Kunst“ nichts anderes als Kunst sein können. In der Bildhauerei gibt es zugleich bis heute weitere Entwicklungswege, etwa jene frei gestalteter Werke, realistischer oder ungegenständlicher Art, die weniger dem Ding und Objekt als der Natur oder der bildhaften Erfindung verpflichtet sind. Erwähnung verdient unbedingt auch die vor allem aus den USA stammende Minimal- und Concept-Art, die genreübergreifend die Kunst in den 1960er Jahren noch einmal revolutioniert hat. So, ganz kurz skizziert Hauptwege der Bildhauerei seit dem 20. Jahrhundert. Im Spannungsfeld dieser Bereiche ist das Werk von Matthias Stuchtey entstanden und angesiedelt, denn in seiner Kunst entdeckt man immer wieder unterschiedliche Annäherungsgrade an Gegenstände des Alltags und ganz grundlegend, Belege für serielle Verfahren und Konzept-Strategien. So etwa ein klares Bekenntnis zu den Orten seiner Ausstellungen, für die er entweder passgenaue Rauminstallationen entwickelt oder sie sensibel in das Kalkül der Inszenierung seiner Arbeiten einschließt.
Um beispielhaft vorzustellen, wie sich Stuchteys Kunst für den Raum konstituiert und begreifen lässt, sei hier auf die umfangreiche Serie der „Schmarotzer“ hingewiesen. Dies sind vor allem mehrteilige Skulpturen, bestehend aus Kästen und Gehäusen aus Holz, die der Künstler an vierkantigen Aluminiumstangen befestigt. Dabei wirkt es so, als hätten sich die Kästen an den leicht schräg stehenden, zwischen Boden und Decke eingespannten Stützen angesiedelt, vergleichbar mit Pilzen oder Schwämmen, die an Bäumen schmarotzen oder aber mit Vögeln, die in Nistkolonien siedeln. Mit ihren geometrisch konstruierten Bauformen erinnern Stuchteys „Schmarotzer“ zudem an Architektur, z.B. an strenge Entwürfe der Bauhauslehre, an indianische Pueblobauten, ein wenig auch an Nistkästen.
Dennoch, wir haben es zugleich mit etwas anderem zu tun, denn jenseits aller Assoziationen und naheliegender Vergleiche handelt es sich bei den „Schmarotzern“ ebenfalls um eigenständige plastische Formen, die ähnlich einem gegenstandslosen Bild, das Quadrate und Linien zeigt, nichts anderes meint, als die konkrete Anwesenheit solcher Formen als Elemente innerhalb einer nicht-gegenständlichen Komposition. Damit entstünde für Stuchteys Skulpturen eine andere, weitere Tatsache, die jedem Assoziieren und metaphorischem Vergleich den Boden entzieht. Auch sind die bildhauerischen Narrative Stuchteys – legt man eine solche Wahrnehmung zugrunde – dann vor allem der Geschichte der Bildhauerei im Sinne einer gegenstandlosen Kunst verpflichtet.
Somit ergeben sich zwei gegensätzliche Wahrnehmungsperspektiven auf seine Kunst, die sich eigentlich widersprechen müssten, jedoch in der Realität seiner Arbeiten miteinander verwoben sind und im Ausstellungsraum perfekt koexistieren.
Auch besitzt die künstlerische Produktion ihre eigenen Voraussetzungen und Regeln, und so ist die Bildhauerei von Matthias Stuchtey vor allem eine Kunst zu den Bedingungen seiner plastischen Vorstellungen, die womöglich inspiriert wird von Formen des Alltags und der Umgebung – etwa von Nistkolonien, Hochhauskomplexen oder Zigarrenschachteln. Jedoch genauso wichtig sind für die Entstehung seiner Kunst formalästhetische Fragen und auch ein fundiertes Wissen um die Entwicklung der gegenstandslosen und konkreten Kunst. Deshalb kann man davon sprechen, dass sich die Produktion seiner Skulpturen im Vorgang eines Transformationsprozesses ereignet, der vom Realen ausgeht und zum Gegenstandslosen hinführt und vice versa zurück zum Gegenstand. Der Künstler hat dazu geäußert: „Ich verstehe den Arbeitsprozess als ein zirkuläres Arbeiten, bei dem ich ständig in Bewegung zwischen diesen beiden Polen bin.“
Matthias Stuchtey verwendet genauso alte, gebrauchte Werkstoffe aus Holz wie neues Material. Letzteres bei der mit „Malm“ bezeichneten Serie von schwarzbraunen Holzkuben, die exakt zerschnitten, ihr Inneres offenbaren: helles MDF, Schienen und Leisten aus Metall. Auch diese Arbeiten lassen an Architektur und Architekturmodelle denken, doch vor allem sind es Readymades, die der Künstler aus Schubladenelementen herstellte, die er in einem schwedischen Möbelhaus entdeckte hatte. Mit ihren Ecken und Kanten, dem Fertigholz, Metallteilen und Schnittspuren behaupten sie eine ruppige Eigenwilligkeit gegenüber dem Umraum und zeigen dabei einen spröden, widerständigen Charakter, der so gar nichts mit ihrem ursprünglich biederen 08/15 Design als Gebrauchsobjekt zu tun hat. Ähnliches gilt für weitere Arbeiten der mit dem Oberbegriff „Umbauten“ versehenen Serien, die Stuchtey nach ihren Firmenproduktnamen mit „Kullen“ oder „Ludvig“ benannt hat. Im künstlerischen Verfahren von Hinzufügen, Entfernen, Abwägen und Ergänzen entstanden plastisch ausgewogene Kompositionen, die eine aus dem Material entwickelte Konstruktionssemantik besitzen. Als autonome und eigensinnige Skulpturen bilden sie einen Gegenpol zu den normiert mittelmäßigen Möbeln, aus denen entstanden.
Ereignisfeld für Matthias Stuchteys Bildhauerei ist der gesamte Raum, nicht nur Boden und Wand. So etwa schwebte die Skulptur „Fliegender Bau“ bei seiner Ausstellung in der Galerie des von Erich Mendelsohn entworfenen IG-Metall-Hauses in Berlin in Höhe der Besucherköpfe. Die 6,50 Meter lange, zirka einen Meter breite Skulptur, die aus annähernd hundert Apfelsinenkisten zusammengefügt ist, entstand exakt für diesen Ausstellungsort mit seinen Dimensionen und Eigenarten. Statik und Starre als Konstruktionsprinzip der Apfelsinenkisten erkennend, transformierte Stuchtey die vielen Einzelteile zu einer lang geformten, insgesamt dynamisch fließenden Struktur. Mit „Fliegender Bau“ stellte er eine bewegliche, anti-statische Idee und ihre Materialisierung ins Zentrum seiner Ausstellung. Die Längsachse des Ortes betonend, erwies sich diese Skulptur als große, leichte, Emotionen bewegende Ergänzung zum Baukunstwerk Mendelsohns. So entstand ein intensives Zusammenspiel von Skulptur und Raum; auch von Innen- und Außenraum, denn das Gebäude besticht im Untergeschoss mit gläsernen Fassaden, die Stuchteys Werke von außen sichtbar werden ließen. Auch entstand eine besondere Spannung durch die Materialien, die sich hier begegneten – zwischen dem hellem Holz der Kisten, dem Beton der Decke und den starken Stützpfeilern. Solch gekonnte bildhauerische Szenographie, wie sie Matthias Stuchtey in seinen Ausstellungen und vor Ort beherrscht und vorführt, ermöglicht neue Wahrnehmungen und einen anderen Blick auf die Kunst und ihre Räume.
Peter Funken, Berlin, November 2016