Eine aktuelle Herausforderung für produzierende Unternehmen ist die Verkürzung der Time-to-Market sowie des Produktentstehungsprozesses. Dies erschwert die Produktentstehung, da auch heute noch insbesondere in den frühen Phasen des Produktentstehungsprozesses kaum Kollaboration zwischen Experten aus Produktentwicklung und Produktionssystemplanung stattfindet. Zur effizienten Kollaboration fehlt es ihnen an einer „gemeinsamen Sprache“, z. B. auf Basis von digitalen Modellen, zur erleichterten Kommunikation. Bestehende Ansätze der Produktentwicklung, Produktionssystemplanung sowie Ansätze zu deren Integration werden dieser Herausforderung nicht gerecht.
Die Dissertation leistet einen Beitrag zur Integration von Produktentwicklung und Produktionssystemplanung in frühen Phasen des Produktentstehungsprozesses, indem sie ein Konzept entwickelt, das aus drei Bestandteilen besteht: Der erste Bestandteil ist ein integriertes Vorgehensmodell für Produktentwicklung und Produktionssystemplanung auf Basis der Paradigmen des Systems Engineerings. In ihm werden Planung und Entwicklung zu Beginn des Produktentstehungsprozesses gemeinsam begonnen und iterativ mithilfe eines Makro- und eines Mikrozyklus durchgeführt. Der zweite Bestandteil ist die Methode zur Produktionssystemkonzipierung auf Basis früher Produktinformationen, die ein Reifegradmodell zur Bewertung der Unsicherheit besagter Informationen miteinschließt. Sie ist Teil des Mikrozyklus und spezifiziert hier den Systementwurf, auf den im iterativen Mikrozyklus immer der Expertenentwurf folgt. Der dritte Bestandteil ist ein Modellierungsansatz, der unter Einsatz der objektorientierten Modellierung für Experten von Planung und Entwicklung eine „gemeinsame Sprache“ zur Kollaboration zur Verfügung stellt und vom Systems Engineering zum modellbasierten Systems Engineering (MBSE) überleitet. Sie beruht auf einer vereinheitlichten Terminologie und der Beschreibung der zu entwickelnden Systeme durch UML-Modelle. Das Konzept wurde anhand eines Beispiels aus der Automobilindustrie validiert.
Aktualisiert: 2023-01-27
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Kurzfassung
Produktinnovationen, insbesondere aus der Elektrik/Elektronik (E/E) und Softwareentwicklung, erfordern in frühen Phasen einen besonderen Fokus auf die eindeutige Definition von Anforderungen. Heutzutage sind textuell etablierte Prozesse, Methoden und Tools für das Anforderungsmanagement im automobilen Produktentwicklungsprozess (PEP), insbesondere bei mehrstufigen Zulieferketten, umgesetzt und etabliert. Die resultierende Komplexität in der Entwicklung dieser Produktinnovationen, weiter verstärkt durch zunehmende Mechatronisierung hin zu cybertronischen Produkten, benötigt eine Erweiterung der textuellen Spezifikationsmöglichkeiten. Die in der Automobilindustrie zu beobachtenden Komplexitätsszenarien wurden bereits in den 60er Jahren durch ein zunehmendes Denken in Systemen und der dazugehörenden Theorie des Systems Engineering (SE), besonders in der Luft- und Raumfahrttechnik, adressiert. In der Softwareentwicklung konzipierte Möglichkeiten zur System- und Softwarebeschreibung in frühen Phasen, beispielsweise die Zuhilfenahme von Modellierungssprachen wie die Unified Modeling Language (UML), wurden für die Spezifikation von mechatronischen Systemen zur Systems Modeling Language (SysML) erweitert. Die Verwendung dieser Modellierungssprachen im Zusammenspiel mit Prozessen und Methoden aus dem SE ermöglichen die Weiterentwicklung des klassisch textuell basierten Anforderungsmanagements hin zu einem modellbasierten Systems Engineering (MBSE). MBSE-Ansätze erfordern vermehrte Aufwände in den frühen Phasen eines PEP (= „frontloading“), um insgesamt über nachgelagerte PEP-Phasen der Serienentwicklung Zeit und Kosten bei zugleich höherer Entwicklungsqualität einzusparen. Die Potentiale und der direkt resultierende Nutzen bei Anwendung von MBSE ist ein derzeitig wenig aufbereitetes Forschungsfeld. Die hier vorliegende Arbeit widmet sich der Untersuchung von MBSE-Potentialen und dem Nutzen von MBSE im Kontext eines großen OEM der deutschen Automobilindustrie. Resultierend aus der Motivation der Thematik und der Identifikation der Forschungslücke verfolgt die Arbeit zur Herleitung von MBSE-Potentialen und der Beurteilung des Nutzens zwei Analysenschwerpunkte: Eine empirische Analyse in Form einer unter 177 Fahrzeugsystementwicklern durchgeführten Befragung identifiziert derzeitige MBSE-Potentiale und analysiert die derzeitige Akzeptanz von MBSE. Die Ergebnisse eines Expertenworkshops bestätigen diese Aussagen. Die aufgestellte Hypothese, dass MBSE während der Einführung insbesondere für
hochkomplexe Fahrzeugsysteme geeignet ist, erfordert zunächst die Analyse von unterschiedlichen Möglichkeiten, die Komplexität von Fahrzeugsystemen zu beurteilen. Die Komplexitätsanalyse stellt hierzu verschiedene Möglichkeiten vor, auf Basis beteiligter Systeme, beteiligten Komponenten oder funktionalen Wechselwirkungen des einzelnen Fahrzeugsystems, Rückschlüsse auf den Komplexitätsgrad zuzulassen. Nach erfolgreicher Identifikation der für diese Arbeit relevanten hochkomplexen Fahrzeugsysteme, wird ein Zusammenhang zwischen vermeidbaren Produktänderungen und der Anwendung von MBSE hergeleitet. Die Arbeitshypothese in der Analyse ist hierbei, dass bei hochkomplexen Fahrzeugsystemen durch die Anwendung von MBSE mehr vermeidbare Produktänderungen verhindert werden können. Die Analyse erfolgt auf Bestandsdaten innerhalb der Automobilindustrie und wird unter aktuellen Randbedingungen am Beispiel von vier Fahrzeugsystemen vorgestellt. Hierfür wird zunächst ein Konzept präsentiert, inwiefern ein erforderlicher Zusammenhang zwischen Produktänderungen und Fahrzeugsystemen im stark komponentenorientierten Änderungsmanagement hergestellt werden kann. Die vier Fahrzeugsysteme werden im weiteren Verlauf der Arbeit zusammen mit weiteren Fahrzeugsystemen betrachtet, um den derzeitigen Nutzen von MBSE in der Automobilindustrie zu beurteilen. Die Forschungsergebnisse zeigen weitere zukünftige konkrete Handlungsfelder für eine MBSE-Anwendung auf. Hierzu werden Systemspezifikationen hinsichtlich aktuell bereits verwendeter modellbasierter Methoden analysiert und beurteilt, inwiefern diese Methoden zukünftig mit Diagrammen der SysML in einem ganzheitlichen MBSE-Ansatz zusätzlichen Nutzen erzeugen können. Parallel zu dieser Analyse in den Systemspezifikationen wurden Interviews mit den Systemverantwortlichen durchgeführt. Diese Interviews konsolidieren nochmals zukünftige MBSE-Potentiale und beschreiben den derzeitigen Nutzen aus Anwendersicht. Ein zentrales Argument für die Anwendung von MBSE, um zukünftige Herausforderungen zu bewältigen, liegt dabei in der Verlagerung der Systemspezifikationshoheit der heutigen Systemlieferanten zurück zum OEM durch einheitlich und zentral abgestimmte Systemarchitekturen mit Hilfe von SysML.
Die vorliegende Forschungsarbeit liefert als Summe der hier durchgeführten Analysen ein methodisches Rahmenwerk, um Potentiale und den Nutzen einer MBSE-Einführung innerhalb eines OEMs der Automobilindustrie zu erkennen.
Aktualisiert: 2023-01-27
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