Inhalt Franz Haslinger, Johannes Schneider: Die Relevanz der Gleichgewichtstheorie. Gleichgewichtstheorien als Grundlage der ordnungs- und wirtschaftspolitischen Diskussion Peter Kalmbach, Heinz Kurz: Klassik, Neoklassik und Neuklassik Hajo Riese: Geldökonomie, Keynes und die Anderen. Kritik der monetären Grundlagen der Orthodoxie Winfried Vogt: Eine Theorie des kapitalistischen Gleichgewichts Matthes Buhbe/Rolf von Lüde: Grundlagen und Probleme der Angebotspolitik Jürgen Frank: Markt versus Staat. Zur Kritik einer Chicago-Doktrin Ein Jahrbuch für Ökonomie und Gesellschaft!? Diese uns Individuen immer wieder so unerklärliche Gesellschaft! Zwischen Reichtum und Armut, Freiheit und Unterdrückung, Individualität und Entfremdung, Aufstieg und Niedergang, Ordnung und Anarchie - wo stehen, was bewirken, was verhindern wir, und warum, bzw. warum nicht? Welche Theorie erklärt uns, was geschehen ist, vor sich geht und sein kann? Es hat eine politische Ökonomie gegeben, die sich den Versuch zugetraut hat, über das problematische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufzuklären. War dieser Anspruch unberechtigt, überzogen, vermessen? Es scheint so, wenn man bedenkt, daß die ökonomische Wissenschaft selbst lange schon weitgehend auf ihn verzichtet hat. Auch spricht dafür, daß es eine Reihe von Gesellschaftsphilosophien gibt, welche ohne die Begriffe der politischen Ökonomie ausgekommen sind. Aber haben sie die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Individuum besser begriffen? Bei allem Respekt vor nicht-ökonomischen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Deutungen dieses Verhältnisses wird man doch in keiner von ihnen einen so unmetaphysischen und gründlichen analytischen Ansatz finden wie in der klassischen politischen Ökonomie von Smith bis Marx. Ja, man wird den Eindruck nicht los, daß diese politische Ökonomie wie der Igel vor dem Hasen immer schon da war. In der klassischen politischen Ökonomie leuchtet nämlich schon die Dialektik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft so auf, daß keiner seiner Aspekte ganz im Dunkeln bleibt. Erstens bricht die Idee voll durch, daß sich individuelle Freiheit und gesellschaftliche Wohlfahrt gegenseitig bedingen und fördern und in Tausch und Markt Raum und Wege schaffen. Zweitens wird aber auch bewußt, daß und warum Tausch und Markt Ungleichheit und Ungleichgewicht, Unterdrückung und Entfremdung hervortreiben. Drittens wird (wenigstens von den bedeutenden Vertretern) weder die erste noch die zweite Sichtweise noch auch der Widerspruch zwischen beiden durch Vorurteile oder voreilige Parteinahme zu begründen oder zu lösen versucht, sondern eine angemessene wissenschaftliche Methode entwickelt, mit der sich die Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit entschlüsseln läßt. Die Strenge und Konsistenz ihrer Methoden vor allem hebt die politische Ökonomie von alternativen Gesellschaftsphilosophien ab. Sie erlaubt ihr gewissermaßen einen privilegierten Zugang zu den Grundproblemen von Gesellschaft und Individuum, wie sie sich niederschlagen nicht nur in Wohlstand und Armut, sondern auch in Ordnung und Ungleichgewicht, Freiheit und Unterdrückung, Individualität und Entfremdung. Um so verwunderlicher muß es erscheinen, daß die ökonomische Wissenschaft offensichtlich von sich aus auf dieses methodische Privileg verzichtet hat. Dort, wo sie selbstbewußt ihre Methoden pflegt und entwickelt, hat sie vielfach den Anspruch auf eine Gesellschaftsphilosophie aufgegeben oder einfach vergessen. Wo sie ihn aufrecht erhalten hat, ist sie der Methode untreu, nämlich ideologisch und dogmatisch geworden. So ist die Ökonomie heute als Wissenschaft (!) von der Gesellschaft nahezu verschüttet. Entweder fehlt ihr der Begriff der Gesellschaft, oder sie kann in ihm nicht mehr zusammenhalten, was in der klassischen politischen Ökonomie, wenn auch widersprüchlich, noch vereinigt war. Eine Dialektik, in der Freiheit, Individualität, Wohlstand und Ordnung mit Unterdrückung, Entfremdung, Armut und Anarchie zusammen gedacht werden konnten in einer methodisch fundierten Theorie von Tausch und Markt. Gewiß, auch in der klassischen politischen Ökonomie findet sich nicht mehr als der Ansatz für ein solch umfassendes theoretisches Programm, Aber anstatt ihn weiterzudenken, hat die ökonomische Wissenschaft gewissermaßen die Einheit des klassischen Erbes durch Aufteilung zerstört. Der Zusammenhang von aufklärerischem Optimismus, aufklärender Kritik und klärender Methode ist in seine Elemente zerfallen und hat drei verselbständigte Orthodoxien hinterlassen. Die erste Orthodoxie ist die vorherrschende Schulökonomie, die sich am besten als technokratisch charakterisieren läßt. Sofern sie nicht überhaupt nur Partialanalyse innerhalb der Ökonomie bleibt, versteht sie sich, von Ausnahmen abgesehen, doch als Partialanalyse der Ökonomie in der Gesellschaft. In diesem Rahmen behandelt sie zwar das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, aber streng "ceteris paribus". Die Individuen sind von vornherein fertig da, und was sie außer dem Tauschgleichgewicht zusammen und in ein Verhältnis bringt (oder was sie auseinanderreißt!), mag Angelegenheit der anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen oder Metaphysik sein. Die Frucht ihrer Disziplinierung erntet diese Orthodoxie in der bemerkenswerten Entwicklung ihrer Methoden. Aber ob diese sie je in die Lage versetzen wird, wieder Gesellschaftstheorie zu sein, läßt sie offen. Respektabel bescheidet sie sich selbst, beansprucht erst gar nicht den Blick über den Rand. Die zweite Orthodoxie ist eine ökonomische Apologie der Marktgesellschaft. Hier hat eine konservative Ideologie den klassischen Aspekt des Zusammenhangs von individueller Freiheit, Wohlfahrt und Markt verabsolutiert. In der freien Marktgesellschaft als der besten aller Welten sind Unterdrückung, Entfremdung und Anarchie entweder nur Einbildung, oder Ergebnis von illusionären oder diktatorischen Verletzungen der Gesetze der Freiheit. Eine wissenschaftliche Begründung dieser Ideologie, die den Standards der entwickelten professionellen Methoden gewachsen wäre, wird in der Regel nicht einmal versucht. Die dritte Orthodoxie pflegt eine Kritik der Marktgesellschaft, die mehr oder weniger ausschließlich aus der klassischen Analyse von Unterdrückung, Entfremdung und Anarchie den voreiligen Schluß zieht, daß der Zusammmenhang zwischen individueller Freiheit, gesellschaftlicher Wohlfahrt und Tausch nur einem falschen Bewußtsein entspringen könne. Dies ist die Orthodoxie des linken Dogmatismus. Sie ist dogmatisch, weil sie sich nie die Mühe macht, die Theorie von Tausch und Markt mit den dafür entwickelten Methoden nachzuvollziehen und dann erst zu urteilen. Sie ist es aber insbesondere dann, wenn sie in ihrer Abwehr gegen das aufklärerische Moment in der klassischen politischen Ökonomie die ökonomische Befreiung der Gesellschaft nicht mehr auch als Befreiung des Individuums verstehen will. Ökonomie: Technokratie, Apologie oder Dogmatismus. Die Entwicklung der drei Orthodoxien hat die Widersprüche, die in der klassischen politischen Ökonomie noch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft kennzeichneten, beseitigt, ohne sie zu lösen. Kann ein Marktsystem (rein oder gemischt) überhaupt Unterdrückung und Entfremdung vermeiden? Welche gesellschaftlichen Institutionen müssen hierfür geschaffen werden? Ist ein solches System überhaupt stabil? Wie sieht das Individuum in einer solchen Gesellschaft aus? Diese Fragen sind auch nach dem Zerfall der klassischen politischen Ökonomie in jeder der drei genannten Orthodoxien virulent geblieben, ohne daß sie von diesen wissenschaftlich befriedigend behandelt werden können. Die Technokratie muß trotz der Entwicklung ihrer Methoden hierbei versagen, weil sie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nur noch instrumentell betrachtet. Die Möglichkeit, daß das Individuum eine Fiktion ist, solange die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen nicht verändert werden, ist für die Technokratie kein Problem. Die konservativen Apologeten des Kapitalismus entscheiden die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch die wissenschaftlich problematische Behauptung, daß Freiheit und Individualität nur unter Aufrechterhaltung und Stärkung kapitalistischer Institutionen möglich sind. Das Problem beider Orthodoxien wird am besten durch das Fazit eines der Autoren dieses Jahrbuchs illustriert: Die Fehler des Neoliberalismus/Neokonservativismus sind nicht: zu viel Liberalismus, sondern zu wenig - zu viel Wohlfahrtsökonomie, sondern zu wenig. Seine Mahnung, daß sich die Kritiker über dieses Fazit nicht allzu schnell freuen sollten, trifft auch den Linksdogmatismus. Dieser verweist zwar mit Recht auf das Problem von Unterdrückung und Entfremdung. Der von ihm geforderte Sprung aus einer in Agonie befindlichen bürgerlichen Gesellschaft in eine neue, in der Freiheit, Gleichheit und Solidarität bestehen soll, findet jedoch ohne das verdinglichte bürgerliche Individuum statt, das es gerade zu befreien gilt. Die Dialektik der Aufklärung, welche die Vorstellung eines freiheitlichen, gleichen und solidarischen Menschen ins Gegenteil verkehrt hat, wird durch den Linksdogmatismus in einer fatalen Weise bestätigt. Aber so verkürzt und irreführend die drei Orthodoxien in ihrer Einseitigkeit sind, so enthalten sie doch auch die positiven Elemente, die eine politische Ökonomie, welche sich als Erbe der klassischen politischen Ökonomie versteht, wieder zusammenzuführen hat. Die entwickelten Methoden der technokratischen Orthodoxie erlauben heute ein wesentlich besseres Verständnis der Funktionsweise von Tausch und Markt als dies noch vor hundert Jahren der Fall war. Auf diese Methoden kann eine politische Ökonomie nicht verzichten. Die konservative Orthodoxie beharrt mit Recht auf der Leistungsfähigkeit eines Marktsystems. Der Linksdogmatismus macht zu Recht darauf aufmerksam, daß ein Marktsystem zu Entfremdung und Unterdrückung führen kann. In der Zusammenführung dieser Einsichten also hat eine politische Ökonomie heute erneut das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Reflexion zu stellen. Der aufklärerische Impetus, durch den die klassische politische Ökonomie zumindest in ihren Anfängen gekennzeichnet war, kann allerdings heute nur noch überzeugen, wenn der verlorenen Unschuld dieser Aufklärung Rechnung getragen wird. Wie sich in der Geschichte des Liberalismus immer wieder gezeigt hat, kann die Forderung nach Verwirklichung des Individuums durch die Schaffung von mehr Freiheit, Gleichheit und Solidarität stets in einem doppelten Sinne verstanden werden: als Forderung nach der Durchsetzung eines Wirtschaftsliberalismus unter Beibehaltung kapitalistischer Institutionen, andererseits nach der Veränderung dieser Institutionen. Das Individuum ist heute sowohl das ideologische Substrat einer Gesellschaft, in der es in Wirklichkeit im Sinne der Aufklärung gar keinen Platz findet, als auch Fluchtpunkt für eine wissenschaftlich fundierte Kapitalismuskritik, die nachzuweisen sucht, daß kapitalistische Institutionen unvereinbar sind mit Institutionen, die eine Verwirklichung des Individuums auf Dauer garantieren. Eine solche ökonomische Kapitalismuskritik, die sich der Forderung der Aufklärung nach Verwirklichung des Individuums verpflichtet fühlt, ohne dabei die Dialektik der Aufklärung aus dem Auge zu verlieren, ist bislang ein Desiderat. Die Formulierung einer solchen Kritik, die sich der entwickelten Methoden der ökonomischen Wissenschaft bedient, ist als zentrale Aufgabe einer modernen Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen, welche die widersprüchliche Einheit der klassischen politischen Ökonomie wieder herzustellen versucht, indem sie das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie von Ökonomie und Gesellschaft in Marktsystemen zu Ende zu denken versucht und sich dabei als sensibel gegenüber dogmatischen Positionen erweist. Die Ausformulierung einer solchen Kritik verlangt dreierlei. Erstens eine ökonomische Gesellschaftsanalyse, die sich nicht in den Engpässen von Ideologie, Dogmatismus und Technokratie verfängt. Sie erfordert damit zweitens eine gründliche Auseinandersetzung mit diesen Orthodoxien. Ihre dritte Aufgabe liegt in der Diskussion von ökonomischen Utopien der Gesellschaft, in denen Freiheit, Gleichheit und Solidarität der Individuen eine Chance haben. Das Jahrbuch für Ökonomie und Gesellschaft soll dazu beitragen, ein solches Programm voranzubringen. Es bietet Raum für ökonomische Funktionsanalysen der Gesellschaft, für die Kritik technokratischer, apologetischer und dogmatischer Positionen sowie für Überlegungen über gesellschaftfich-ökonomische Bedingungen für individuelle Freiheit und gesellschaftliche Wohlfahrt ohne Unterdrückung und Entfremdung. Obwohl in diesem Programm das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, soll darin kein Präjudiz für die Anwendung der neoklassischen Methode liegen, die dieses Verhältnis direkt thematisiert. Im Bewußtsein, daß der unmittelbare Zugriff auf das Individuum vorschnell sein kann, ist das Jahrbuch offen für konkurrierende Theorieansätze, wie einem marxschen, postkeynesianischen oder neoricardianischen. Schließlich charakterisieren diese Theorien das Individuum und die Gesellschaft sehr dezidiert, wenn auch einige Vertreter dieser Positionen um diesen Umstand vergessen haben. Die Diskussion soll zeigen, welche Methode in der Kritik der Orthodoxien, der ökonomischen Analyse der Gesellschaft und in der Diskussion von sozialen Utopien überlegen ist. Der vorliegende erste Band eröffnet gewissermaßen diese Diskussion. Der Titel Die Neoklassik und ihre Herausforderungen ist in beiden Bedeutungen zu verstehen. Erstens ist die Neoklassik eine Herausforderung für jede kritische ökonomische Analyse der Gesellschaft. Zweitens muß sie aber auch als etablierte Orthodoxie von alternativen Ansätzen herausgefordert werden, die sich ebenfalls auf ökonomische Denktraditionen berufen können. Haslinger/Schneider plädieren für die allgemeine Gleichgewichtstheorie, und, wenn man so will, für die neoklassische Methode. Hingegen demonstrieren sie an einer Reihe von Modellen, welche explizit "Marktfehler" - vor allem Unsicherheit - berücksichtigen, daß sich das zentrale Resultat der Neoklassik, nämlich die Hauptsätze der Wohlfahrtsökonomie, als unhaltbar erweist. Kalmbach/Kurz suchen in einer von ihnen so genannten neuklassischen Ökonomie klassische und keynesianische Elemente zu verbinden. Die Bestimmung der absoluten Höhe der Produktion soll anders als in der Neoklassik nicht durch eine vorgegebene Menge von Ressourcen und durch die Handlungen der Individuen bestimmt werden, sondern durch die Vorgabe eines Investitionsvolumens und der Produktionsstruktur. Riese, dessen Theorie einen ähnlichen Ableitungszusammenhang enthält, räumt darüber hinaus radikaler in der Tradition von Keynes der monetären Ökonomie Vorrang und Steuerungsfunktion ein. Er insistiert darauf, daß eine keynesianische (Geld-)Ökonomie eine andere werttheoretische Basis hat als die Gütertauschtheorien klassischer und neoklassischer Provenienz. Im Aufsatz von Vogt wird die neoklassische Methode für eine ökonomische Kapitalismuskritik in Dienst genommen, mit Ergebnissen, die dem neoklassischen Weltbild an sich widersprechen. Diese vier Beiträge, die die grundlegenden Konstrukte ökonomischer Theorie - Klassik, Neoklassik und Keynesianismus - entlang ihres normativen und explikativen Gehalts deuten, werden ergänzt durch zwei Arbeiten, die sich mit (neo-)konservativer Praxis und Theorie auseinandersetzen. Eine von Buhbe/v.Lüde vorgelegte wirtschaftspolitische Analyse US-amerikanischer und bundesrepublikanischer Angebotspolitik versucht, deren theoretische Hintergründe und praktische Folgen zu ermitteln. Die Folgerungen dieser Autoren exemplifizieren die Ergebnisse von Franks Kritik der Chicago-Doktrin (an Hand des Buches von Lepage "Kapitalismus von morgen"): Ein liberales Programm, das das Freiheitspostulat verabsolutiert, wird illiberal und in Folge unsozial. Eine Theorie, die die Norm für Natur ausgibt, begründet damit letztlich, daß es ein Recht auf Umweltverschmutzung gibt ebenso wie ein Recht auf Arbeitslosigkeit. Wem auch gesellschaftliche Zustände Natur sind, feiert die Zuteilung von Rechten darauf als liberalen Sieg. Dennoch, der politische Siegeszug des Neokonservativismus muß nachdenklich stimmen. Er signalisiert die Schwäche einer ökonomischen Theorie, deren Vertreter es offenbar nicht vermochten, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Argumenten zu überzeugen. Die Analysen von Frank und Buhbe/v.Lüde machen erneut deutlich, auf wie schwachen Füßen beispielsweise eine Sozialpolitik (ganz zu schweigen von einer Umweltpolitik) steht, wie wenig sie theoretisch abgesichert ist. Sie fiel mit dem Wahlsieg einer Person.