Die Individualisierungsthese wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. Basis des Disputs ist, welche Konsequenzen aus der anhaltenden Herauslösung der Individuen aus den traditionellen Sozialbeziehungen zu ziehen sind. Generell fristet der Einzelne in Familie, sozialer Klasse und Nation nicht länger ein alternativloses Dasein, sondern ist für sein Leben in wachsendem Maße selbst verantwortlich. Die Befürworter dieser Entwicklung begrüßen die Zunahme an individueller Wahlfreiheit auf Kosten sozialer Gängelung. Hingegen beklagen ihre Gegner einen Kult des Individualismus und wenden sich vehement gegen die Gefahren der Entsolidarisierung und des Eigennutzes. Der Pluralisierung der Lebensstile begegnen sie mit einer Zerfallsdiagnose des Sozialen, während ihre Kontrahenten hoffen, dass die Individuen ihre Chance ergreifen werden und als Baumeister ihrer eigenen Biographie auftreten.
Eingebettet ist die Individualisierungsthese in die Thematik des gesellschaftlichen Umbruchs und der Ablösung der modernen Arbeits- und Industriegesellschaft durch die postmoderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft. Mehr noch, Individualisierung und Postmoderne bedingen sich gegenseitig. Daher ist das Aufzeigen des soziokulturellen Epochenwandels für deren tieferes Verständnis unverzichtbar. Zwar lassen sich erhebliche begriffliche und inhaltliche Differenzen nachweisen, dennoch besticht die relative Konvergenz der Zeit- und Gesellschaftsanalysen so unterschiedlicher Autoren wie Bell, Touraine, Inglehart, Beck, Giddens, Schulze und Lyotard.
Mitte der 1980er Jahre erzwangen die Auswirkungen des allgemeinen Wertewandels eine sportwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der wachsenden Individualisierung, Pluralisierung und Binnendifferenzierung des Sports. Maßgeblichen Anteil an diesen Reflexionsanalysen hatten Digel, Rittner sowie der DSB-Kongress „Menschen im Sport 2000“. Als Träger des neuen Sportverständnisses erwiesen sich jedoch nicht der Vereins- und Verbandssport, sondern Fitnessstudios, alternative Sportgruppen sowie die generelle Renaissance von Körper, Fitness und Ästhetik. Der organisierte Sport, von den Ereignissen eher mitgerissen denn Leitfigur der Bewegung, folgte schließlich dem allgemeinen Trend einer Postmodernisierung der Gesellschaft durch vielfältige Assimilationen seines traditionellen Selbstbildes.
Kaum thematisiert wurde in der Sportwissenschaft bislang die Radikalisierung der Subjektfrage durch die französische Philosophie der Postmoderne. Deren Kritik richtet sich insbesondere gegen traditionelle Substanz- und Wesensaussagen vom Menschen sowie gegen jegliche Einheits- und Kohärenzmodelle von Identität, welche die menschliche Vielfalt marginalisieren. Letztlich richten sich die Forderungen um Anerkennung von Pluralität, Widerstreit und Differenz von Lyotard, Deleuze und Derrida gegen einen ontologischen Universalismus sowie eine Anthropologie menschlicher Konstanten, die den Humanismus des Westens seit der Aufklärung maßgeblich bestimmt haben. Nicht der „Tod des Subjekts“ ist das Ziel der Kritik, sondern das autonome, bedeutungsstiftende Selbst der transzendentalen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie von Kant bis Husserl. An seine Stelle tritt die Metaerzählung vom soziokulturell dezentrierten, multiplen Subjekt, die heftigste Irritationen auslöste und bis heute mehr Fragen aufwarf, als sie beantworten konnte.
Mitverantwortlich für die Geringschätzung postmoderner Subjekttheorien in der Sportwissenschaft ist deren kritische Aufnahme in den Geistes- und Sozialwissenschaften der BRD. Wegbereiter für die überwiegend ablehnende Haltung war die Kritik von Habermas am Postmodernismus, die viele Autoren vorschnell und ohne hinreichende Quellenkenntnis übernahmen. Hinzu kamen viele polemische Äußerungen und anarchistische Provokationen radikaler Postmodernisten, die ihren Teil dazu beitrugen, dass sich erst seit Mitte der 1990er Jahre eine von Vorurteilen gereinigte, sachliche Diskussion über die Ziele, Reichweite und Grenzen postmoderner Theoreme durchsetzen konnte.
In der Vergangenheit thematisierte die Soziologie in Deutschland die Individualisierungsthese unter starker Bezugnahme auf die Theorie sozialer Differenzierung. Trotz aller Unterschiede beurteilten Autoren wie Simmel, Durkheim und Luhmann die individuelle Freiheit des Einzelnen als Begleiterscheinung der Ablösung archaisch-familiärer und stratifikatorisch-hierarchischer Gesellschaftsformen der Vormoderne durch die funktional differenzierte Industriegesellschaft der Moderne. Der postmoderne Individualisierungsschub mit beschleunigter Enttraditionalisierung der Sozialformen wird auf diese Weise seiner Sonderstellung enthoben und in den Kontext funktionaler Differenzierung gestellt. Die Kernfrage allen sozialen Wandels seit der Neuzeit aber bleibt: Wie viel Einheit und Integration brauchen – und wie viel Differenz und Widerspruch vertragen Individuum und Gesellschaft.
Mit Bezug auf diesen erweiterten Theorierahmen wird zur Beantwortung der Frage einer veränderten Individualität in Sport und Körperkultur das Paradigma der sozialen Differenzierung mit dem postmodernen Theorem einer entsubstanzialisierten, multiplen Persönlichkeit in Beziehung gesetzt. Die Subjektfrage wird hierzu zunächst im Kontext der Moderne und deren Folgen in Turnen und Sport diskutiert. Danach wird sie mit Blick auf die Postmodernisierung von Gesellschaft und Sport thematisiert. Zum Schluss werden die Aussagen zu Sport und Persönlichkeit im Wandel der Zeit zusammengefasst sowie – als Fazit – radikalisierende Extrempositionen zurückgewiesen.
Aktualisiert: 2023-03-30
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Die Individualisierungsthese wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert. Basis des Disputs ist, welche Konsequenzen aus der anhaltenden Herauslösung der Individuen aus den traditionellen Sozialbeziehungen zu ziehen sind. Generell fristet der Einzelne in Familie, sozialer Klasse und Nation nicht länger ein alternativloses Dasein, sondern ist für sein Leben in wachsendem Maße selbst verantwortlich. Die Befürworter dieser Entwicklung begrüßen die Zunahme an individueller Wahlfreiheit auf Kosten sozialer Gängelung. Hingegen beklagen ihre Gegner einen Kult des Individualismus und wenden sich vehement gegen die Gefahren der Entsolidarisierung und des Eigennutzes. Der Pluralisierung der Lebensstile begegnen sie mit einer Zerfallsdiagnose des Sozialen, während ihre Kontrahenten hoffen, dass die Individuen ihre Chance ergreifen werden und als Baumeister ihrer eigenen Biographie auftreten.
Eingebettet ist die Individualisierungsthese in die Thematik des gesellschaftlichen Umbruchs und der Ablösung der modernen Arbeits- und Industriegesellschaft durch die postmoderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft. Mehr noch, Individualisierung und Postmoderne bedingen sich gegenseitig. Daher ist das Aufzeigen des soziokulturellen Epochenwandels für deren tieferes Verständnis unverzichtbar. Zwar lassen sich erhebliche begriffliche und inhaltliche Differenzen nachweisen, dennoch besticht die relative Konvergenz der Zeit- und Gesellschaftsanalysen so unterschiedlicher Autoren wie Bell, Touraine, Inglehart, Beck, Giddens, Schulze und Lyotard.
Mitte der 1980er Jahre erzwangen die Auswirkungen des allgemeinen Wertewandels eine sportwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der wachsenden Individualisierung, Pluralisierung und Binnendifferenzierung des Sports. Maßgeblichen Anteil an diesen Reflexionsanalysen hatten Digel, Rittner sowie der DSB-Kongress „Menschen im Sport 2000“. Als Träger des neuen Sportverständnisses erwiesen sich jedoch nicht der Vereins- und Verbandssport, sondern Fitnessstudios, alternative Sportgruppen sowie die generelle Renaissance von Körper, Fitness und Ästhetik. Der organisierte Sport, von den Ereignissen eher mitgerissen denn Leitfigur der Bewegung, folgte schließlich dem allgemeinen Trend einer Postmodernisierung der Gesellschaft durch vielfältige Assimilationen seines traditionellen Selbstbildes.
Kaum thematisiert wurde in der Sportwissenschaft bislang die Radikalisierung der Subjektfrage durch die französische Philosophie der Postmoderne. Deren Kritik richtet sich insbesondere gegen traditionelle Substanz- und Wesensaussagen vom Menschen sowie gegen jegliche Einheits- und Kohärenzmodelle von Identität, welche die menschliche Vielfalt marginalisieren. Letztlich richten sich die Forderungen um Anerkennung von Pluralität, Widerstreit und Differenz von Lyotard, Deleuze und Derrida gegen einen ontologischen Universalismus sowie eine Anthropologie menschlicher Konstanten, die den Humanismus des Westens seit der Aufklärung maßgeblich bestimmt haben. Nicht der „Tod des Subjekts“ ist das Ziel der Kritik, sondern das autonome, bedeutungsstiftende Selbst der transzendentalen Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie von Kant bis Husserl. An seine Stelle tritt die Metaerzählung vom soziokulturell dezentrierten, multiplen Subjekt, die heftigste Irritationen auslöste und bis heute mehr Fragen aufwarf, als sie beantworten konnte.
Mitverantwortlich für die Geringschätzung postmoderner Subjekttheorien in der Sportwissenschaft ist deren kritische Aufnahme in den Geistes- und Sozialwissenschaften der BRD. Wegbereiter für die überwiegend ablehnende Haltung war die Kritik von Habermas am Postmodernismus, die viele Autoren vorschnell und ohne hinreichende Quellenkenntnis übernahmen. Hinzu kamen viele polemische Äußerungen und anarchistische Provokationen radikaler Postmodernisten, die ihren Teil dazu beitrugen, dass sich erst seit Mitte der 1990er Jahre eine von Vorurteilen gereinigte, sachliche Diskussion über die Ziele, Reichweite und Grenzen postmoderner Theoreme durchsetzen konnte.
In der Vergangenheit thematisierte die Soziologie in Deutschland die Individualisierungsthese unter starker Bezugnahme auf die Theorie sozialer Differenzierung. Trotz aller Unterschiede beurteilten Autoren wie Simmel, Durkheim und Luhmann die individuelle Freiheit des Einzelnen als Begleiterscheinung der Ablösung archaisch-familiärer und stratifikatorisch-hierarchischer Gesellschaftsformen der Vormoderne durch die funktional differenzierte Industriegesellschaft der Moderne. Der postmoderne Individualisierungsschub mit beschleunigter Enttraditionalisierung der Sozialformen wird auf diese Weise seiner Sonderstellung enthoben und in den Kontext funktionaler Differenzierung gestellt. Die Kernfrage allen sozialen Wandels seit der Neuzeit aber bleibt: Wie viel Einheit und Integration brauchen – und wie viel Differenz und Widerspruch vertragen Individuum und Gesellschaft.
Mit Bezug auf diesen erweiterten Theorierahmen wird zur Beantwortung der Frage einer veränderten Individualität in Sport und Körperkultur das Paradigma der sozialen Differenzierung mit dem postmodernen Theorem einer entsubstanzialisierten, multiplen Persönlichkeit in Beziehung gesetzt. Die Subjektfrage wird hierzu zunächst im Kontext der Moderne und deren Folgen in Turnen und Sport diskutiert. Danach wird sie mit Blick auf die Postmodernisierung von Gesellschaft und Sport thematisiert. Zum Schluss werden die Aussagen zu Sport und Persönlichkeit im Wandel der Zeit zusammengefasst sowie – als Fazit – radikalisierende Extrempositionen zurückgewiesen.
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