Jüdische Gedenkschriften der Edition Schoáh & Judaica

Jüdische Gedenkschriften der Edition Schoáh & Judaica von Wiehn,  Erhard Roy
Erinnern für die Zukunft: Das Erinnern sei gewissermaßen die jüdischste aller Beschäftigungen, fand Ruth Klüger: "Unsere Religion ist in allen Einzelheiten an unser Geschichtsbewusstsein gebunden, und es ist diese kollektive Erinnerung, die uns überhaupt zu Juden macht." (R. Klüger 1995, Literatur hier S. 23 f.) Dieses Erinnern tue weh, meinte am 27. Januar 1998 Präsidentin Rita Süssmuth anlässlich des neuen deutschen Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag zu Bonn: "Es löst Entsetzen aus und lässt zugleich verstummen und aufschreien. Sich den bedrückendsten Wahrheiten unserer Geschichte zu stellen, ist aber unverzichtbar. Dazu verpflichten uns die Opfer, ihre Angehörigen und Nachkommen. Aber es ist auch für uns selbst notwendig, für den unauflöslichen Zusammenhang von Erinnerungs- und Zukunftsfähigkeit", so die deutsche Bundestagspräsidentin, und weiter: "Erinnerung ist anstrengend, aber sie befreit auch. Sie gibt uns Kraft, die Zukunft zu bestehen. Ein Volk das innehält, das sich bewusst seiner Vergangenheit stellt, beugt nationalem Wahn und Selbstüberschätzung vor." (R. Süssmuth 1998) - Aus jüdischer Sicht: "Von Zorn und Trauer erfüllt", schrieb der israelische Staatspräsident Ezer Weizman Anfang des Jahres 1996 ins Gästebuch des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen: "Es wird nichts vergessen. Und wir vergessen nicht." Starke Worte, die wohl einmal mehr so gesagt werden mussten, und der deutsche Bundespräsident Roman Herzog meinte damals, beim Besuch in Sachsenhausen sei deutlich geworden, "wie gegenwärtig die Vergangenheit ist, wie kurz 50 Jahre sind." Noch immer gilt wohl das Wort des Propheten Jesaja: "Tröstet, ja tröstet mein Volk!" (40,1-2) "Erinnerung als Andacht, als devotio: wem ist es inniger und schmerzlicher vertraut als einem Juden, der sich als Erbe eines Unglücks empfindet und, wie Martin Buber sagte, als Mitglied einer Erinnerungsgemeinschaft", schreibt Siegfried Lenz, der mit Manès Sperber darin übereinstimmt dass Schreiben auch ein Handeln gegen das Vergessenwerden sei; denn "Vergessen: ein zweiter Tod." Aber auch das könne Gedächtnis sein: Heimsuchung: "Mein Kollege Amos Oz hat es mir vor Augen geführt. Wenn Du Israel verstehen willst, sagte er, wenn Du die Seele des Landes wirklich erfahren willst, dann geh nachts durch die Straßen. In der sommerlichen Hitze der Nacht schlafen viele Leute auf den Balkonen. Wer still geht, hört sie in ihren Angstträumen seufzen und stöhnen und wimmern, sie träumen in mehreren Sprachen, überwältigt von Vergangenheiten, die nicht aufhören wollen. Das Gedächtnis, das die Delirien der Geschichte bewahrt, macht, dass die Menschen von neuem erleiden, was sie am Tag vielleicht überwunden zu haben glauben. Das Gedächtnis - so kommt es mir vor - besteht darauf, dass sie, und wenn auch nur im Angsttraum, an ihre Zeugenschaft erinnert werden: Es ist geschehen, alles ist wirklich geschehen, in deinem wiederkehrenden Schmerz liegt der Beweis." (S. Lenz 1989, S. 50) "Was es heißt, mit einem getreuen Gedächtnis fortleben zu müssen: Überlebende von unvergleichbaren Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden, haben uns bei ihren Zeugenaussagen einen Eindruck davon vermittelt. Ich sehe sie noch in den Gerichtssälen, eingeladen und aufgefordert, sich öffentlich zu erinnern, - unter den Augen des Gerichts, der Zuhörer, ja, auch unter den Augen der Täter. ... Und ich sehe ihre Furcht und ihre Fassungslosigkeit, sehe oft genug Tränen. Durch das Gedächtnis befördert, zeigt sich die Gewalt der Vergangenheit. - Dennoch trotz aller Schwere erhält sich die Bereitschaft, das, was im Gedächtnis bewahrt ist, wiederzubeleben. Der Grund dafür ist nach meiner Ansicht nur allzu verständlich; er liegt in der Erkenntnis, dass ein Schweigen noch weniger annehmbar wäre als der Schmerz des Erinnerns. Dieses Schweigen - sagte Cornelia Edvardson - löscht Millionen Ermordete aus - noch einmal. Und sie sagte weiter: An die wir uns nicht mehr erinnern, die wir in unseren Herzen und Sinnen nicht mehr lebendig erhalten, die haben niemals gelebt. Wir sind Zeugen, woran wir uns nicht mehr erinnern und was wir nicht bezeugen, das ist nie geschehen. - ... - Für mich gibt es einen Zweifel: wenn wir das Gedächtnis preisgeben, wenn wir uns über die Selbstverständlichkeiten hinwegsetzen, zu denen es verpflichtet, geben wir politische Moral ebenso preis wie menschliche Gesittung." (S. Lenz 1989, S. 50)
Aktualisiert: 2021-11-18
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