Was passiert, wenn ein an Gogol, Dostojewski und Turgenjew geschulter russischer Erzähler, ein Freund Maxim Gorkis, mit der Kriegswirklichkeit im zaristischen Petersburg 1914 bis 1916 kollidiert? Fast zwangsläufig entsteht große Literatur. So geschehen bei einem der besten pazifistischen Bücher zum 1. Weltkrieg, Leonid Andrejews Das Joch des Krieges.
Um eines klarzustellen: Andrejews 1918 erschienener Roman handelt vom fiktiven Tagebuchschreiber Ilia Petrowitsch Dementjew. Und wenn im Folgenden von Dementjew die Rede sein sollte, dann ist vor allem er selbst gemeint: Fünfundvierzig Jahre alt, Buchhalter in einem durchschnittlichen Büro, zärtlicher Ehemann, treusorgender Vater zweier Kinder, wohnhaft am Potstamskoi-Platz im Herzen St. Petersburgs. Ilia Petrowitsch Dementjew ist Ilia Petrowitsch Dementjew – und hegt den innigen Wunsch auch in diesen unruhigen Zeitläuften seine Menschlichkeit zu bewahren und so zu bleiben, wie er ist. Das ist die lapidare Wahrheit – und das ist das Problem.
Denn so selbstverständlich sein Ansinnen sein mag, und so einfach die Gleichung auch erscheint: Seit Kriegsbeginn ist alles in Unordnung geraten, Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten, Institutionen und Identitäten scheinen in rapider Auflösung begriffen. Nur ein Beispiel: Neuerdings wohnt Dementjew nicht mehr in seinem geliebten alten St. Petersburg. Über Nacht hat die Stadt eine neue Bezeichnung erhalten, sie heißt jetzt Petrograd. Oder: Man hat im Namen aller Russen den Krieg erklärt! Aber ist nicht auch er, Ilia Petrowitsch Dementjew, ein Russe? Erfolgte dieser Schritt in seinem Namen? Das muss ein Irrtum sein, meint Dementjew, er habe nichts gegen die Deutschen. Und diese hegten auch keine Feindschaft gegen ihn! Aber weshalb kann er diesen Sachverhalt kaum noch zur Sprache bringen? Und warum erklärt ihm jetzt jeder, was er zu denken, worüber er sich zu freuen und wen er zu hassen habe? Ist das der Krieg? Warum nehmen ihn die anderen beiseite und meinen, er habe es geschafft: In seinem Alter käme er nicht mehr an die Front. Und wenn sie ihn beglückwünschen: Wieso betonen sie dann überlaut, welch‘ große Sache das Fronterlebnis sei? Natürlich ist er froh, dem entgangen zu sein! Aber warum darf er seine Freude darüber nicht zeigen?
Fragen über Fragen drängen auf Dementjew ein. In seinem Kriegstagebuch sucht er Antworten zu geben: Er beobachtet, notiert, vermerkt die Veränderungen. Er betrauert die Opfer, protestiert, empört sich, argumentiert und stellt fest: es ist nicht mein Krieg, den ihr hier führt. Mag sein, dass ihr ihn in meinem Namen erklärt habt, aber ich trage keine Mitschuld daran! Ich bin friedlich! Also lasst mich in Frieden! In Frieden!
Doch ein Ort abseits der Zeiten existiert nicht, auch das muss Dementjew bald erfahren. Und die Frage seiner Mitschuld – ist sie schon beantwortet? Zweifelnd an sich selbst und verzweifelnd an seiner Umwelt wird Dementjew zum ruhelosen Sonderling. Nicht nur in den Schützengräben hinterlässt der Krieg Zerstörung und Tod. Auch im vermeintlich ruhigen Hinterland stiftet er Verstörung, Leid und Elend. Gewiss: Gegen Ende des Romans ist Ilia Petrowitsch Dementjew noch immer er selbst. Und er hat einen Weg gefunden, seine Menschlichkeit zu bewahren und dem Grauen seiner Zeit zu begegnen.
Mit abgründiger Ironie, aber auch mit dem existenzialistisch-düsteren Pathos der russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts bricht Leonid Andrejew den Kriegszustand auf ein kaum erträgliches Maß herunter: aufs persönliche. Und findet in der leidenschaftlichen Empathie seines tragischen Helden den Hebel, mit dem sich eine nur zu oft ins Groteske entgleitende Gegenwart aufbrechen lässt. Noch während des Ersten Weltkrieges in René Schickeles Reihe der Europäischen Bücher erschienen, bildet Leonid Andrejews Roman zugleich die erste Übersetzungsarbeit der in allen Sprachen beheimateten Hermynia von Zur Mühlen. Weit über 100 Übertragungen aus dem Russischen, Englischen und Französischen werden folgen, darunter viele Werke der Weltliteratur u.a. von Nathan Asch, Upton Sinclair und John Galsworthy. Bei den meisten ihrer Übersetzungen zeigen die Buchtitel weit weniger Zeitkolorit: Igno Voyny, wie der russische Originaltitel von Andrejews Roman lautet, wäre heutzutage wohl am ehesten mit Die Bürde des Krieges oder Die Last des Krieges zu übersetzen.
Aktualisiert: 2020-07-28
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