„Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat“
Lange Zeit galt Sebastian Haffners Buch Der Verrat. 1918/1919 – als Deutschland wurde wie es ist (erschienen 1969) als eines der wichtigsten Bücher zur „Novemberrevolution“. Haffners Buch wurde allerdings auch diffamiert, da es mit der SPD-Politik unter Friedrich Ebert hart ins Gericht ging. Bei der zweiten Auflage, die 1970 erschien, konnte Haffner allerdings feststellen, dass die von ihm angeführten Fakten weiterhin richtig waren. Er räumte jedoch ein, dass die von ihm seinerzeit getroffene Aussage, die SPD hätte 1918/19 eine nie wiederkehrende Chance „für immer“ verspielt, nur bedingt zutreffe. Anfang der 70er Jahre war die SPD im Aufwind. Das lag daran, dass sich die politischen Verhältnisse auch durch die 68er Rebellion geändert hatten und Willy Brandt eine zukunftsgewandte Politik unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ verfolgte.
Für uns war wichtig, auch zu sehen, was sich inzwischen an der Beurteilung und Einschätzung der Revolution verändert hat. Dies nicht nur im deutschen Kontext, der sich ja auch durch die Vereinigung von BRD und DDR verändert hat, sondern auch an europäischen Entwicklungen. Nicht nur im Vergleich zum Zeitpunkt 1918/19 wie in Österreich, sondern auch am Beispiel der 68er Bewegung in Frankreich, der Tauwetterperiode von 1956/57 in Polen und dem Aufbruch durch Solidarność 1980. Einen Blick auf einen anderen Kontinent bietet der Beitrag „Verlorene Liebe“ von Claudia Wörmann-Adam über die sandinistische Revolution in Nicaragua. Sie war für viele westdeutsche Linke ein leuchtendes Beispiel für eine gelungene Revolution. Doch hier ist inzwischen Ernüchterung eingetreten. Nicht nur in großen Teilen der nicaraguanischen Bevölkerung, sondern auch bei einstigen Revolutionären wie Gioconda Belli, Sergio Ramírez und Ernesto Cardenal.
Das Motto „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat“ stammt von Rosa Luxemburg, die damit auf eine entsprechende Aussage von Ferdinand Lassalle Bezug nimmt. Der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der neben August Bebel als Gründungsvater der Sozialdemokratie gilt, hatte allerdings nur von „einem gewaltigen politische Mittel“ gesprochen, während Rosa Luxemburg von einer „revolutionären“ Tat spricht.
Ein sich auf Rosa Luxemburg berufender Berufsrevolutionär von 1968 hat, wenn man seinen Werdegang davor und danach anschaut, auch eine Wendung gemacht. Welf Schröter stellt in seinem Beitrag fest: „Es ist nicht zu verwegen, wenn man sagt, dass Rudi Dutschke mit Hilfe des Bloch’schen Werkes sein eigenes Denken auf ein neues theoretisch-praktisches Fundament setzte. Insbesondere die produktive Weiterentwicklung der Marx’schen Begriffe von ‚Fern-Ziel‘ und ‚Nah-Ziel‘ gesellschaftlichen Handelns durch die Bloch’sche Philosophie eröffnete dem Luckenwalder sowohl ein tiefergehendes Verständnis ungleichzeitiger Prozesse des Bewusstseins wie auch deren konkret-utopischer Interventionskraft.“
Klarer sind hundert Jahre nach der Novemberrevolution auch das historische Bild und die zutreffendere politische und nicht ideologische Bewertung der Ereignisse. Professor Gerhard Engel verdeutlicht den Platz der „Revolution 1918/1919 im deutschen Geschichtsbild“ in dezidierter Kenntnis der Forschungen aus der Perspektive sowohl der (ehemaligen) ost- und westdeutschen Historikerzunft. Im Einklang mit Historikern von heute wie Mark Jones und Joachim Käppner kommt er zu dem Schluss, „dass die geschichtswissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten des Jahres 2018 dem tatsächlichen Gewicht der Revolution vor 100 Jahren gerecht werden. Es möge alles Reden von einer ‚überflüssigen‘, ‚verlorenen‘ oder ‚vergessenen‘ Revolution verstummen, so dass die Revolution als großes Ereignis der deutschen Demokratie- und Sozialgeschichte endlich einen dauerhaften Platz im Geschichtsbild und in einem demokratischen Geschichtsbewusstsein der Deutschen einnehmen kann.“
In dem Beitrag von Hans-Erich Böttcher „Von der Novemberrevolution zur Weimarer (Reichs-) Verfassung“ werden wesentliche Errungenschaften, die mit der Revolution von 1918 erreicht wurden, thematisiert. Es sind dies insbesondere die republikanische Verfassung, das Frauenwahlrecht, der Achtstundentag und weitere arbeitsrechtliche und soziale Reformen, auf die auch Wolfgang Uellenberg-van Daven in seinem Beitrag eingeht. Hans-Erich Böttcher streicht in seinem Fazit heraus: „Die Konstruktion der Gewaltenteilung im demokratischen Staat mit der unabhängigen Justiz kann einen wichtigen und dauerhaften Beitrag zur Stabilität der Demokratie in ruhigen Zeiten leisten und ebenso und erst recht eine Stütze in Krisenzeiten sein […]. Das Grundgesetz ist die konsequent(er)e Fortsetzung der ‚Revolution im Recht‘, die sich aus der realen Revolution von 1918 ergeben und in der Weimarer Verfassung niedergeschlagen hat. Eine Grundvoraussetzung demokratischer und die Grundrechte achtenden Gesetzgebung und Rechtsprechung ist es […], auch beim Umgang mit Verfassung und Gesetz zu bedenken, dass es sich um revolutionäre Lava handelt, auch wenn sie nun geronnen, versteinert ist. Es ist permanente Aufgabe des Gesetzgebers und der Gerichte, sie lebendig zu erhalten.“
Professor Jost Hermand formuliert am Beispiel und Werdegang berühmter expressionistischer Autoren, die aufgrund der eigenen Erfahrungen aus dem zerstörerischen Ersten Weltkrieg eine neue zukunftsfähige Kunst und Gesellschaft forderten, den „Expressionismus als Revolution“. Er stellt und beantwortet in genauer Kenntnis der historischen Entwicklung die Frage: „Wie verhielten sich eigentlich die auf eine totale Menschheitswandlung bestehenden Expressionisten im Hinblick auf die innenpolitische Entwicklung nach dem 9. November 1918? Gaben sie auf oder versuchten sie weiterhin, als sich die Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Verwirklichung ihrer ins Utopische übergehenden Hoffnungen immer deutlicher abzuzeichnen begann, die von ihnen ersehnten Verbrüderungsträume in die Tat umzusetzen?“ Im sprachlichen Parforceritt, bebildert mit ausgewählten Werken herausragender Künstler, ist dieser Beitrag ein wahrer Lesegenuss.
Dies trifft auch auf das wohl beste literarische Werk zur Novemberrevolution zu: Alfred Döblins November 1918. Eine deutsche Revolution. Vollständig erschien es erstmals mit über 2000 Seiten zum 100. Geburtstag von Döblin. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der Döblin noch persönlich gekannt hat, zog in seiner Besprechung des Werkes das Fazit: „Größeres hat Döblin nicht geschrieben.“ In diesem Urteil traf er sich auch mit Bertolt Brecht, der ein langjähriger Freund Döblins gewesen war. November 1918 sei ein Roman vom Experimentalcharakter, „ein politisches und ästhetisches Unikum in der deutschen Literatur und ein Nachschlagewerk für alle Schreibenden, ein Triumph des neuen Typus eingreifender Dichtung“.
Aktualisiert: 2021-11-28
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In den 1980er-Jahren reisten Zehntausende nach Nicaragua, um die sandinistische Revolution zu unterstützen. Doch 1990 verlor Daniel Ortega die Präsidentschaftswahl – und im Anschluss daran die Revolution ihre Unschuld: In den Wochen bis zur Amtsübergabe an die neue Staatspräsidentin bereicherten sich die Funktionäre hemmungslos.
Ortega schloss später mit dem politischen Gegner einen Pakt, der ihn 2006 wieder an die Macht brachte und die demokratischen Institutionen nachhaltig schwächte. Seine Frau ist inzwischen Vizepräsidentin, die Kinder der Familie bekleiden wichtige Funktionen in Politik, Wirtschaft und Medien. Die eigenen Anhänger werden mit kleinen Wohltaten bedacht.
Hannes Bahrmann gibt einen Überblick über die dramatischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und beschreibt anschaulich die aktuelle Lage im Land.
Aktualisiert: 2021-01-02
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Wie Nicaragua zur »Fürsorgediktatur« wurde
Aktualisiert: 2023-03-14
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