Methode (μέθοδος)heißt ursprünglich: „einem Weg (odos) folgen“. Die Offenheit und Komplexität des Bedeutungsspektrums von „Weg“ wird in der „Methode“ allerdings allmählich zur Engführung gebracht, im Sinne eines überschaubaren Verfahrens „methodisiert“. Das gilt sowohl für das Verstehen von Texten als auch für das experimentelle Vorgehen in den Naturwissenschaften. Das wissenschaftliche Denken der Neuzeit macht in diesem Sinne aus dem Weg ein streng geregeltes Verfahren, das der Gesinnung, Begründung und Sicherung eines allgemeinen, jedermann zugänglichen Wissens dient. Doch die Hermeneutik als Methodenlehre des Verstehens weit diese Engführung ab, ohne aber die Wegemetapher gänzlich zu verwerfen: Sie erläutert, welche Art der inneren Offenheit und Bereitschaft erforderlich ist, um die nicht im vorhinein, sondern nur in der Begegnung selbst sich darbietenden Schritte zum Verständnis eines Menschen oder des überlieferten dichterischen Worts zu tun. Es gibt also auch hier zu bahnende Wege des Verstehens, aber sie sind nicht absehbar und deshalb auch nicht planbar. Demgegenüber folgen die Methoden der so genannten „exakten“ Wissenschaften der absehbaren, seit Aristoteles etablierten axiomatisch-deduktiven Logik, die sowohl den Weg als auch jede Schrittfolge auf ihm nach vorab bestimmten Regeln vorschreibt und steuert. Aber selbst hier geht aller Sicherheit die Ungewißheit erster tastender Schritte voraus: Auch der Naturwissenschaftler macht seine Versuche zunächst noch in unbegangenem Gelände, muß sich erst noch einen Weg bahnen und festen Grund unter die Füße bekommen, bevor er weiter gehen kann.
Ein genauer Blick zeigt darüber hinaus, daß nicht nur die ersten Anfänge und Gründe einer Wissenschaft Verstehensleistungen erfordern, die durch die etablierten Logiken nicht einzuholen sind; denn das Erfordernis des Begreifens ist durch methodisches Vorgehen allein noch nicht gesichert: Sowohl die Grundbegriffe als auch die Forschungsergebnisse sind zu deuten und vor Un- und Mißverständnissen zu bewahren. Auch hier stellt sich das Problem des „hermeneuein“, nämlich einen Gang zu gehen, wo es noch keine eindeutigen Wege und die Möglichkeit hundertfacher Täuschung gibt. Die vorgelegten Untersuchungen weisen einer solchen zweiseitig orientierten Theorie des Verstehens das Wort. Sie knüpft an ältere Wissenstraditionen an, die einen unteren und einen oberen Pol des Wissens unterscheiden und ein „höheres“ Moment der Offenbarung bzw. Divination mit einem in Zeit und Raum zu verortenden, „niederen“ Wissen der Erfahrung in ein Verhältnis zu bringen nötigen. Entsprechend den zwei unterschiedlichen, jedoch disjunktiv verbundenen Wissensformen handelt es sich um zwei grundverschiedene Begriffe von Verstehen: gewöhnliches und tieferes Verstehen, die sich in ihrer Reinform geradezu ausschließen und doch in ein Verhältnis zueinander gebracht werden müssen, weil Verstehen überhaupt nur zustande kommen kann, indem unsichtbare Fäden das Heterogene verbinden.
Aktualisiert: 2020-04-10
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