Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-22
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-22
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-22
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-15
> findR *

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-07
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-03
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-06-02
> findR *

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-05-27
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-05-09
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Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten

Artenwissen stärken, Artenvielfalt erhalten von Akademie für Natur- und Umweltschutz, Baumgärtner,  Daniel, Eick,  Michael
Inhalt Gedanken zum Thema Michael Eick Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Themenkreis 1: Artenkennerinnen und Artenkenner gesucht! Wo stehen wir und wohin wollen wir? – Zur Strategie des Bundesweiten Arbeitskreises der Umweltakademien (BANU) in Deutschland Roland Horne Taxonomie gestern – heute – morgen Dr. Christian König und Prof. i. R. Dr. Michael Schmitt Bildungsrelevante Aspekte von Taxonomie und Artenkenntnis Dr. Clemens Becker, Dr. Rainer Drös, apl. Prof. Dr. Eberhard Frey, Prof. Dr. Norbert Lenz, Prof. Dr. Andreas Martens, Prof. Dr. Peter Nick, Tina Roth, Dr. Josef Simmel, Dr. Ulrike Stephan, Dr. Urszula Weclawski Taxonomie – was die Praxis erfordert Interview mit Prof. Dr. Lars Krogmann Taxonomie – Was die Hochschulbildung leisten muss Interview mit Prof. Dr. Johannes Steidle Welche Standards wollen wir? – Qualitätssicherung bei der Reetablierung von taxonomischem Wissen. Ein Beispiel aus der Botanik Dr. Patrick Kuss Sicherung taxonomischen Wissens – Ein Situationsbericht aus Österreich Dr. Luise Schratt-Ehrendorfer Ausbildung zu »Artenkennern« ist wichtig! Die »Initiative Artenkenntnis« des Landesnaturschutzverbandes (LNV) Baden-Württemberg Prof. Dr. Albert Reif und Dr. Gerhard Bronner   Themenkreis 2: Berichte der BANU-Akademien aus den Bundesländern Bericht aus Baden-Württemberg (Dr. Karin Blessing) Bericht aus Bayern (Dieter Pasch) Bericht aus Rheinland-Pfalz (Dr. Susanne Müller) Bericht aus Mecklenburg-Vorpommern (Dr. Jan Dieminger) Bericht aus Niedersachsen (Dr. Eick von Ruschkowski) Bericht aus Sachsen (Simona Kahle) Bericht aus Nordrhein-Westfalen (Norbert Blumenroth) Bericht aus Hessen (Albert Langsdorf) Bericht aus Berlin (Dr. Nicola Gaedeke)   Themenkreis 3: Ein Ausblick Praktikerinnen und Praktiker fragen, Akademikerinnen und Akademiker antworten Thomas Breunig, Renate Kübler, Dr. Rainer Oppermann Künstliche Intelligenz im Natur-und Artenschutz Prof. Dr.-Ing., Dr. h.c., Dr. h.c. Prof. e.h. Michael M. Resch Anhang Die Herausforderung Wissenserosion in Sachen Biologischer Vielfalt annehmen – Die Landesinitiative »Integrative Taxonomie Baden-Württemberg« Claus-Peter Hutter Artenwissen ist der Schlüssel zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Ihr Schutz zählt, neben dem Klimawandel, zu den zentralen Themen unserer Zeit. Heutzutage sind mehr Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht als jemals zuvor. Nicht nur weltweit, sondern auch vor der eigenen Haustüre. Die Herausforderungen, vor denen Gesellschaft und Politik damit stehen, sind gewaltig. Wer hochgradig gefährdete Arten schützen, Biodiversität erhalten und weiterentwickeln will, braucht Artenwissen. Doch daran hapert es mehr und mehr. Nicht nur etliche Pflanzen- und Tierarten – auch Zoologinnen und Zoologen, Botanikerinnen und Botaniker stehen zwischenzeitlich auf der Roten Liste, weil in den letzten 20 Jahren Genetik und Molekularbiologie in Biologie-Studiengängen stärker gefördert wurden, als Zoologie und Botanik. Auch in der Bevölkerung nimmt die Zahl derer, die tatsächlich noch wissen, was in der Natur kreucht und fleucht, ständig ab. Da verwundert es nicht, wenn sich Erzieherinnen und Erzieher, Grundschul- und sogar Biologielehrerinnen und -lehrer nicht mehr in der Natur auskennen und sich Eltern und Kinder zunehmend von ihr entfernen. Mit dramatischen Folgen. Artenwissen ist für den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar. Es genügt nicht, Arten zu kennen (Angres & Hutter 2018, Blessing 2010, Blessing 2008). Es müssen wieder die Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung und Kulturlandschaft, Verbraucherverhalten und Lebensstil, Ernährung und Gesundheit aufgezeigt werden. Dass selbst Biologinnen und Biologen von Planungsbüros, Natur- und Umweltschutzbehörden gezwungen sind, Fortbildungen zu besuchen, weil ihnen zoologisches und botanisches Know-how fehlt, um etwa Bauprojekte rechtssicher zu planen und Schutzgebiete zu entwickeln, ist mehr als alarmierend. Das lässt erahnen, wie eklatant der Mangel an Artenwissen erst in der Bevölkerung ausfällt. Es braucht ein breites Bündnis von Wissenschaft, Fachplanung, Behörden und Naturschutzpraxis, um taxonomisches Wissen wieder breit in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zu verankern. Das aktuelle Wissensdefizit darf zu keiner weiteren Verschärfung der Umweltkrise führen. Die Folgen einer Baupolitik, die in den letzten 60 Jahren bundesweit nahezu zu einer Verdoppelung (Umweltbundesamt 2020) der Siedlungs- und Verkehrsflächen geführt hat, und die Konsequenzen eines auf endlichen Ressourcen gebauten Wirtschaftswachstums, fallen uns jetzt schon hart auf die Füße. Die aktuellen Umweltprobleme verlangen ein nachhaltiges Verhalten auf zahlreichen Ebenen, etwa in der kommunalen Baupolitik oder bei persönlichen Konsummustern und Lebensstilen. Die ganzheitliche Vermittlung ökologischer, zoologischer und botanischer Zusammenhänge ist daher wichtig, ja sogar essentiell. Schließlich geht es um nichts Geringeres als unser aller Lebensgrundlage, die wir für uns und nachfolgende Generationen erhalten müssen. Die Entfremdung von der Natur oder – wie amerikanische Forscherinnen und Forscher das Phänomen treffend auf den Punkt bringen – die «Nature Deficit Disorder» schlägt sich inzwischen auch in unserer Kommunikationskultur nieder. Rund 6.000 Liedtexte und mindestens ebenso viele Romane und Drehbücher, die seit 1900 erschienen sind, haben die Psychologinnen Selin und Pelin Kesebir auf Naturbegriffe untersucht (Kesebir und Kesebir 2017: 260). Das Resultat der im März 2017 erschienen Studie: Seit den Fünfzigerjahren gehen im Sprachgebrauch neben Blumen-, Vogel- und Baumnamen auch zahlreiche Naturbegriffe, wie etwa Weide, Mondschein oder Sonnenuntergang, verloren. Unter Berufung auf neuere Umfragen stellen die Naturcamps Hunsrück fest, dass gerade einmal «sechs Prozent der Heranwachsenden zwischen Kindergarten und weiterführender Schule wissen, dass der Hirsch nicht der Mann vom Reh ist» (Naturcamps Hunsrück 2015). Selbst bei Lehrerinnen und Lehrern laute die Antwort auf die entsprechende Frage nicht zwangsläufig «Rehbock» (ebd.). Neue Technologien und Medien verändern das Freizeitverhalten. Der Drang, sich draußen in der Natur auszutoben, ist zusehends den Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten gewichen, die sich in den eigenen vier Wänden bieten. Über Fantasietiere der Serie Pokémon wissen Kinder zwischenzeitlich mehr, als über Meise, Kleiber und Co. Sicher spielt bei dieser Entwicklung auch die Tatsache eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen zuhause ist. Von 1950 bis 2015 hat sich der Anteil derjenigen, die in Städten leben, in den Industrieländern auf 78,3 Prozent erhöht (Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Ein Trend, der bis 2050 nicht abreißen wird (ebd.). Zwischen Hochhaus, Supermarkt und den grauen Bändern der Straßenzüge lassen sich kaum Pflanzen studieren oder Baumhäuser bauen. Davon abgesehen wartet die Stadt mit vielen Verlockungen auf. Ob Kino, Freibad, Skateranlage, Feste, Konzerte oder Aktionen für Kinder und Jugendliche im Quartier – wer was erleben will, muss nicht weit gehen. Der sonntägliche Familienspaziergang in Wald und Flur steht in scharfer Konkurrenz. Die Folge all dessen: Schwindende Naturkontakte und -erfahrungen. Auf diese Art hat schon die Elterngeneration wichtige Verbindungen zu unseren arteigenen Biotopen verloren und kann sie für den Nachwuchs nicht mehr knüpfen. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Macherinnen und Macher der Naturcamps Hunsrück bei ihrer Bildungs- und Naturerlebnisarbeit stets aufs Neue die Erfahrung machen, dass «Kinder nicht freiwillig in den Wald gehen wollen, [weil es dort] Tollwut, Fuchsbandwürmer, Zecken und böse Menschen [gibt]» (Naturcamps Hunsrück 2015). Diese Entwicklung ist mehr als besorgniserregend, sie ist dramatisch. Denn wer keine zoologischen und botanischen Zusammenhänge kennt, kann auch nicht zum Schutz der Natur beitragen. Ohne Wissen fehlen auch die nötigen Kompetenzen, Verbindungen zwischen Umweltschutz und eigenem Konsummuster und Lebensstil zu knüpfen. Deshalb wurde in Baden-Württemberg die Initiative «Integrative Taxonomie» ins Leben gerufen. Ziel ist es, die Fachexpertise zur biologischen Vielfalt landesweit zu stärken, auszubauen und dauerhaft in der Gesellschaft zu verankern. Die Initiative soll Wissenschaft, Forschung, Fort- und Weiterbildung praxisnah unter einem Dach vereinen. In diesem Zusammenhang sind zwei neue Professuren im Bereich «Integrative Taxonomie der Insekten» an der Uni Hohenheim und im Bereich «Biodiversitätsmonitoring» als gemeinsame Berufung der Hochschule und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart geschaffen worden. Im Rahmen der Initiative werden sie für die wissenschaftliche Lehre und Forschung im Kompetenzzentrum »Biodiversität und integrative Taxonomie« (KomBioTa) an der Universität Hohenheim zusammengeführt, das die artenbezogene Biodiversitätsforschung damit auf ein neues Level hebt. Die Sammlung des Naturkundemuseums Stuttgart ist ein zentraler Baustein der Landesinitiative. Sie ist nicht nur weltweit vernetzt, sondern international auch von wissenschaftlicher Bedeutung. Damit tun sich gerade in Forschung und Lehre mit Blick auf biologische Vielfalt und Evolution – den Kernbereichen der Einrichtung – viele Entwicklungspotenziale auf. Im Zuge der Initiative wird die zum Umweltministerium gehörende Umweltakademie Baden-Württemberg zu einem zielgruppenspezifischen Zentrum für Fort- und Weiterbildung ausgebaut. In diesen Zusammenhang ist die Bildungseinrichtung um fünf Personalstellen aufgestockt worden. Sie bietet seit vielen Jahren Fortbildungen zur Förderung des Artenwissens an. Dieses Angebot soll weiter verstärkt werden. So ist etwa geplant, regionale Taxonominnen- und Taxonomen-Netzwerke aufzubauen, eine digitale Wissensplattform zu entwickeln und verstärkt Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu qualifizieren, die in Seminaren, Workshops, Tagungen und Exkursionen Artenwissen weitergeben. Mit den Angeboten sollen unter anderem Gutachter-, Ingenieur- und Planungsbüros, aber auch Behörden, Vertreterinnen und Vertreter von Landschaftserhaltungsverbänden, Ehrenamtliche im Natur- und Umweltschutz, aber auch wichtige gesellschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie etwa Lehrkräfte oder Erzieherinnen und Erzieher, erreicht werden. Schon früh hat die Umweltakademie begonnen, auf hohem Niveau Artenwissen an verschiedensten Zielgruppen zu vermitteln. Über Jahrzehnte hinweg ist so ein vielfältiges Bildungsangebot mit hoher natur- und artenschutzfachlicher Relevanz entstanden, das Zielgruppen im Vorschulbereich ebenso erreicht wie ehrenamtlich Engagierte im Naturschutz oder Fachleute wie Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Landschaftsplanerinnen und -planer, Beschäftigte von Bauhöfen oder Straßenmeistereien. Bis heute stärkt die Akademie landesweit so, neben taxonomischen Kenntnissen und Kompetenzen, die Begegnung und den Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Viele mit der Taxonomie verbundene Erfahrungen aus Projekten, aber auch der Arbeits- und Bildungspraxis sind in vielen Fällen nicht oder nur schwer zugänglich. Deswegen fördert die Akademie im Rahmen ihrer Fort- und Weiterbildungsangebote die Begegnung und den fachlichen Austausch unter Praktikerinnen und Praktikern. Getreu dem Grundsatz «Jeder bringt sich ein, um gemeinsam erfolgreich(er) zu sein» sind so über die Jahre Netzwerke und Verbindungen entstanden, in denen Herausforderungen, Umsetzungsstrategien, Resultate und Erfolge präsentiert werden. Dank persönlichem Engagement und der Tatkraft ehrenamtlicher Fachkräfte ist es so beispielsweise gelungen, Hornissen-, Fledermaus-, Amphibien-, Reptilien- und Biberschutznetzwerke aufzubauen. Das daraus entstandene Fachberaternetzwerk Artenschutz zählt heute mehr als 800 Teilnehmer, die als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken. Die in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg jährlich durchgeführte NaturErlebnisWoche mit landesweit über 250 Aktionen oder Seminare mit Fachschulen für Sozialpädagogik zur Stärkung der Vermittlung von Gewässerwissen im Vorschulbereich sind weitere Beispiele wie Taxonomie-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in Zivilgesellschaft und Schlüsselpositionen verankert werden, über die sich viele Menschen erreichen lassen. Es ist diesen über viele Jahre hinweg geschaffenen Strukturen und geknüpften Verbindungen zu verdanken, dass die Taxonomie-Initiative des Landes schnell mit einem anspruchsvollen Bildungsangebot und klaren Zielsetzungen an den Start gehen konnte. Mit der Landesinitiative soll im Verbund mit vielen Partnerinnen und Partnern die Gesellschaft auf breiter Front erreicht werden, damit das Artenwissen wieder über Pfauenauge, Amsel und Co. hinausgeht. Ein Expertinnen- und Expertengremium, das eine Brücke zwischen den Säulen «Forschung und Lehre» und «Fort- und Weiterbildung» schlägt, soll dazu beitragen, den Bildungsauftrag des Taxonomie-Zentrums dynamisch an gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen anzupassen. Umwelt- und Wissenschaftsministerium haben damit die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, um Artenwissen in der Gesellschaft wieder nach vorn zu bringen. Wie das genau gelingt, damit befassen sich verschiedene Beiträge in diesem Band. Die nachfolgenden Seiten zeigen, wie botanische und zoologische Kenntnisse und Kompetenzen auf breiter Front gestärkt werden können. Wie lassen sich Kinder möglichst früh und altersgerecht mit Artenwissen und Fragen rund um Biodiversität in Kontakt bringen? Wie lässt sich entsprechendes Know-how in die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern integrieren? Wo liegen Chancen, Jugendliche als naturpädagogische Zielgruppe zu erreichen? Was lässt sich gegen die Naturentfremdung in der Schule tun? Inwiefern helfen hier außerschulische Bildungsangebote und -alternativen weiter? Wie gelingt es, wieder mehr Zoologie und Botanik im Studium zu verankern? Auf diese und andere Fragen liefern die folgenden Beiträge Antworten. Der aus dem im Juli 2020 mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführte «Statuskolloquium Taxonomie» hervorgegangene Band ist der hoffnungsvolle Auftakt der «Landesinitiative Integrative Taxonomie», welche von der Umweltakademie Baden-Württemberg und der Universität Hohenheim federführend vorangetrieben wird und es inzwischen auch bundesweit, sowohl bei den BANU-Akademien, als auch anderen Partnerinnen und Partnern eine Reihe von Initiativen gibt, die sich der Vermittlung von Artenwissen verschrieben haben. Mögen diese Bemühungen letztendlich dazu führen, dass daraus Artenkompetenz – nämlich das aktive Handeln für mehr Artenschutz – initiiert wird und die Artenvielfalt erhalten bleibt beziehungsweise wiederaufgebaut wird.
Aktualisiert: 2023-04-06
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