Amerika!
Die Jahre unter der Regierung des 45. Präsidenten der USA boten zwar einigen Unterhaltungswert, vergällten aber auch manche Sympathie für unsere Verwandten auf der anderen Seite des Atlantiks. Mit dem Neustart unter Joe Biden und seiner Vizepräsidentin Kamala Harris aber – die im Moment der Niederschrift dieses Nachworts gerade die ersten 100 Tage ihrer Amtszeit hinter sich und eine Vielzahl kluger Vorhaben angestoßen oder sogar bereits umgesetzt haben – begeben wir uns freudig in den von uns bisher vernachlässigten Raum Nordamerikas.
Die Vereinigten Staaten verdanken ihren Gründungsmythos der unendlichen Weite des Westens; die Repression der um ihre Macht bangenden Fürsten im kleinstaatlichen Europa des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass ein unerschöpflicher Nachschub an (meist männlichen) Emigranten aus allen Schichten die Weiten der Neuen Welt durchforschte und besiedelte.
Die indigenen Völker, deren Vorfahren 20.000 bis 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung über die damals noch aus dem Wasser ragende Landbrücke der heutigen Beringstraße aus Asien auf den Doppelkontinent eingewandert waren, hatten dem Ansturm der weißen Siedler und Glücksritter wenig entgegenzusetzen. Krankheiten, Massaker und Vertreibungen richteten furchtbare Verheerungen unter ihnen an, die Überlebenden wurden in Reservationen in den ödesten und unfruchtbarsten Gegenden gezwungen. Da sie ihre Geschichte nur mündlich überlieferten, ist das Ausmaß ihres Leidens und ihrer Verluste an Menschenleben kaum zu ermessen. Wie wenig wir über die Ureinwohner dieser riesigen Region wissen, zeigt jede kurze Recherche zu einem beliebigen Indianervolk.
Dagegen ist die Geschichte der europäischen Invasoren gut dokumentiert. Die Berichte der spanischen Kolonialverwaltung, die offiziellen Regierungsdokumente der USA und viele autobiografische Erlebnisberichte, die sich vor allem in Europa blendend verkauften, dienen als Quellen für die Historie des amerikanischen Westens.
In die vermeinte Menschenleere zwischen den prosperierenden Bundesstaaten der Ostküste und Kalifornien zog es wagemutige Trapper und Voyageurs, Pelzhändler und Indianeragenten; sie erforschten Verkehrswege, handelten mit den indigenen Völkern, knüpften die ersten Netze der westlichen Gesellschaft. Die Faszination des leeren Raumes, der alles möglich erscheinen lässt, und die Willensstärke, etwas in ihm aufzubauen, bilden bis heute die Gene der USA.
Nur 50 Jahre vor der hier vorgestellten Reise hatten die Vereinigten Staaten von dem napoleonischen Frankreich für einen Spottpreis dessen riesige Kolonie »Louisiana« erworben. Und nur fünf Jahre zuvor eroberten sie in einem Angriffskrieg gegen Mexiko ein riesiges Gebiet im Südwesten – gerade rechtzeitig, um die Goldfunde in Kalifornien, die einen ungeheuren Sog auf die Glückssucher in der ganzen Welt ausübten, für die USA zu beanspruchen.
Und nur acht Jahre nach der Expedition, die wir in diesem Buch begleiten, wird sich die mächtige Nation dann selbst zerfleischen. Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 bis 1866) werden sich die Offiziere, die hier zehn Monate lang miteinander reisen, essen und feiern, an entgegengesetzten Fronten wiederfinden. Viele von werden den Krieg nicht überleben.
In diesen Fernen Westen gerät nun ein deutscher Jäger und Zeichner. Was Balduin Möllhausen nicht selbst erzählt von der Entstehung dieser großen Nation, das reißt er in Stichpunkten an, die wir in den Anmerkungen des Verlags gerne vertiefen. So reisen wir mit ihm nicht nur vom Mississippi bis zum Pazifischen Ozean, sondern erkunden auch die Anfänge der Geschichte einer Weltmacht.
Die USA dehnten sich unaufhaltsam von der Ostküste in Richtung Westen aus. Die Goldfunde in Kalifornien (ab 1848) zogen zigtausende Glückssucher an die Pazifikküste, die zum allergrößten Teil auf dem beschwerlichen Umweg über Panama an ihr Ziel gelangten. Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Ostküste und dem gelobten Land Kalifornien schien dringend geboten – besonders auch im Hinblick auf die dazwischen liegenden Weiten, die noch mit weißen Menschen gefüllt werden könnten. Zu diesem Zwecke wurden unter der Leitung erfahrener Ingenieur-Offiziere der U. S. Army sechs Expeditionen unternommen, die mögliche Trassenverläufe für eine solche Ost-West-Verbindung untersuchen sollten. Zufällig geriet Möllhausen gerade in dem Moment nach Washington, als noch die Stelle eines Topografen bei der Expedition entlang des 35. Breitengrades (unter der Leitung von Amiel Whipple) zu besetzen ist. Nur 24 Stunden nach seiner Ankunft ist er engagiert.
Von unterwegs sendet er immer wieder Berichte an die Berliner »Gesellschaft für Erdkunde« und beginnt so seine schriftstellerische Karriere. In dem vorliegenden Tagebuch seiner Reise verbindet er die Reiseerzählung mit zahlreichen Anekdoten – einigen persönlichen und anderen, die ihm erzählt wurden und aus der Geschichte des amerikanischen Westens berichten.
Aktualisiert: 2023-03-16
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