The Great Repair

The Great Repair
Politiken einer Reparaturgesellschaft 
 Text: Florian Hertweck, Christian Hiller, Markus Krieger, Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo, Milica Topalović 
 Wir sind zur Reparatur verdammt. Angesichts einer Welt, die in jedem Augenblick altert, vergeht, ist dies keine überraschende Erkenntnis. Die kapitalistische Moderne mit ihrer Betonung von Innovation, Wachstum und Fortschritt, ihrem auf Verbrauch, Vernutzung und Verschwendung basierenden Wirtschaftssystem und der damit einhergehenden rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hat jedoch eine Wegwerfmentalität in unseren Köpfen verankert: Alles ist ersetzbar. Das noch bessere Produkt steht bereit. Reparatur lohnt sich nicht. Im Architekturdiskurs kulminiert diese Denkweise in dem euphemistischen Begriff des Ersatzneubaus. Und so verwundert es nicht, dass Bau- und Abbruchabfälle heute über die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens in Deutschland ausmachen. Verdrängt wird dabei, dass das Ausmaß dessen, was repariert werden muss, beständig zunimmt. Schließlich geht die totale Mechanisierung und Technisierung der modernen Lebenswelt mit einer naturgemäßen (oder geplanten) Obsoleszenz der eingesetzten Technik einher. Bei nüchterner Betrachtung kann man allerdings trotz der vorherrschenden Wegwerfmentalität feststellen, dass Städte, Infrastrukturen und Gebäude insgesamt öfter umgebaut und weitergenutzt als abgerissen werden. Auch eine Vielzahl technischer Geräte wird täglich repariert und gewartet. Wartung, Reparatur und Instandhaltung bilden einen wichtigen Wirtschaftszweig. Einschlägigen Statistiken zufolge arbeiten heute weltweit mehr Ingenieur*innen in der Reparatur als in der Entwicklung.1 Diese Tatsache ist kaum bekannt, da Reparatur eine unglamouröse Sisyphusarbeit ist. Sie vollzieht sich im Verborgenen, Alltäglichen, im Kleinen. Gerade dort entfaltet sie ihre Wirkmacht, und gerade dort setzt das Projekt The Great Repair an, um über die pragmatische Ebene hinaus auf die geopolitischen, sozioökonomischen und ökologischen Abhängigkeiten hinzuweisen, die 
hinter den Materialassemblagen, Infrastrukturen und sozialen Interaktionen unserer Gesellschaften stehen. Es sind diese großen, reparaturbedürftigen Zusammenhänge gemeint, wenn wir von der Großen Reparatur sprechen. Groß ist der Reparaturbedarf auch angesichts des Zerstörungsgrads der Welt. Die Auswirkungen der Klimakrise und des Ressourcenschwunds mit Verlust der Biodiversität und mit Waldsterben, mit Überschwemmungen und Stürmen, Hitzewellen und Dürreperioden sind bereits heute Auslöser von Tod, Hunger und Migration im Globalen Süden, wo großflächig Habitate von Menschen und Tieren unbewohnbar werden. Militärische Konflikte um Energie, Infrastruktur und Nahrungsmittel werden in Zukunft durch die Folgen der Klimakrise mit ihren unausweichlichen Kämpfen um geopolitische Kontrolle über Territorien und Ressourcen zunehmen. Hier zeigt sich, dass unter diesen Einflüssen nicht nur das Alltagsleben, sondern auch geopolitische Architekturen und Grenzen destabilisiert werden. Das trifft allerdings nicht nur auf den Globalen Süden zu, sondern auch längst auf Europa, wo in den letzten 30 Jahren die Temperatur um durchschnittlich 0,5 °C pro Jahrzehnt gestiegen ist.2 Wie kann angesichts dieses planetarischen Ausmaßes der eskalierenden Krisen ein so behutsames Konzept wie das der Reparatur helfen? Sicherlich werden nicht wenige einwenden: Müssen wir nicht wie ehemals in der modernBewegungen eher große Visionen beschwören, anstatt die Große Reparatur auszurufen? Es ist allerdings dieser Kontrast zwischen der Behutsamkeit und der globalen Perspektive, der das Projekt The Great Repair auszeichnet. Angesichts der Großkrisen, die gerade durch die Visionen der Moderne hervorgerufen wurden, bedarf es eines neuen Paradigmas. Um etwas Kaputtes zu reparieren, muss man sich zunächst einmal des Schadens bewusst sein. Wir sollten daher „Erosion, Zerfall und Verfall statt Neuheit, Wachstum und Fortschritt als Ausgangspunkt unseres Denkens“ nehmen, meint der Informationsforscher Steven J. Jackson. Doch im Globalen Norden gilt weiterhin das wirkmächtige Narrativ, allein mit technologischer Innovation und Entwicklung ließe sich die Klima- und Ressourcenkrise in den Griff bekommen und wirtschaftliches Wachstum von den Umweltauswirkungen entkoppeln. In dieser Vision einer grünen kapitalistischen Transformation würden erneuerbare Energien den Bedarf von Industrie und einer ständig wachsenden Zahl von städtischen Verbraucher*innen klimaneutral decken, intelligente Technologien die Ströme von Menschen, Gütern und Energie mit steigender Effizienz regeln, das Recycling von Materialien managen, Energiekreisläufe schließen und Treibhausgase binden. Der Verlust der Artenvielfalt und die Auslaugung der Böden würden durch die Automatisierung der industriellen Landwirtschaft, die Lebensmitteltechnologie, die Verringerung der Lebensmittelverschwendung in der gesamten Lieferkette und durch die massenhafte Einführung veganer Ernährung und Produkte gelöst werden. Notwendige Rohstoffe ließen sich durch Zukunftstechnologien möglicherweise sogar extraterrestrisch abbauen. Mit dieser Vision ist die politische Hoffnung verbunden, dass der wachsende materielle Wohlstand auf der Grundlage grüner Technologien die Stärkung und Ausbreitung der „liberalen Marktdemokratien“ gegen die „zunehmende Bedrohung durch den Autoritarismus“ ermöglichen würde. Diese Narrative sind attraktiv, weil sie in letzter Konsequenz den politischen Status quo stützen: Weder müssen sich Politik noch die Bürger*innen strukturell verändern, noch wird das zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen Mechanismen der Ausbeutung und ungleichen Verteilung infrage gestellt. Die Gefahr einer solchen Denkweise liegt darin, dass sie die notwendige Reparatur des Systems in die Zukunft verschiebt, die globale Geografie der Ungleichheiten weiter verschärft und die Klimakrise mit einer Inflation von Greenwashing und innovation speak oberflächlich übertüncht. Die Widersprüche solcher Visionen sind kaum zu leugnen: Trotz vieler technologischer Innovationen und Effizienzsteigerungen in den letzten Jahren klaffen Anspruch und Wirklichkeit, die ehrgeizigen Ziele des Pariser Klimaabkommens und die realen Treibhausgasemissionen kontinuierlich auseinander. Trotz massiver Bemühungen funktioniert die „grüne Lösung“ noch nicht. Reparaturgesellschaft Deshalb entwirft das Projekt The Great Repair ein Gegennarrativ, das auf die Fähigkeit des Menschen zielt, seine Beziehungen innerhalb der sozialen und natürlichen Umwelt neu zu gestalten: von den Produktionsbedingungen über die gesellschaftliche Teilhabe bis hin zu Fragen der Gerechtigkeit, von der gebauten Umwelt über die Ökosysteme bis hin zum Erdklima. Als Gegenstrategie zur kreativen Zerstörung der kapitalistischen Moderne plädieren wir für einen reparativen Ansatz, in dem Pflege, Wartung und Reparatur die wesentlichen Handlungsstrategien werden. Wobei Reparatur hier nicht die Wiederherstellung eines idealisierten, usprünglichen Zustands meint, sondern auf eine regenerative Transformation hin zu einem besseren Zustand abzielt. Im Gegensatz zu (Techno)-Fixes geht es nicht lediglich darum, Funktionsstörungen zu beheben: Reparatur bedeute, die Welt „wieder ins Gleiche bringen“, so der Denkmalpflege­theoretiker Wilfried Lipp in seinem bahnbrechenden Essay „Rettung von Geschichte für die Reparaturgesellschaft im 21. Jahrhundert“ ein altes Konversationslexikon zitierend.3 Lipp prägte bereits 1993 auf einer Denkmalpflege-Tagung den Begriff der Reparaturgesellschaft als neues gesellschaftliches Leitbild,4 das er „sowohl diagnostisch als therapeutisch, ja perspektivisch appellativ, versteht“.5 Wir sind also mittendrin in „Reparatur“. 
Übe­r­all wird repariert. Das betrifft – hier nur in Schlagworten angeblitzt – allgemeine Umweltmaßnahmen für Luft (Abgasverminderung), Wasser (Güte, Kanalisation, Verbrauch), Meere (Verringerung der Belastungsfaktoren), Boden (Überdüngung), Holz, Wald („Wald­sterben“, Überschlägerung, Regenwälder). […] Es ist so etwas wie eine „Reparatur 
am Menschen“ in Gang gekommen. […] Es läuft letztlich auf eine „Reparatur“ am System einer volkswirtschaftlich vorwiegend an Produktion und Absatz festgemachten Arbeit hinaus, die sich – in unserer Logik – als end­lose Kette von Fülle – Stau – Abfall definiert.6 Kurz nach Lipp rief der Politologe Claus Leggewie in seinem 1995 erschienenen Buch Die 89er – Portrait einer Generation7 ebenfalls die Reparaturgesellschaft aus, ein Konzept, das er 2016 gemeinsam mit Jürgen Bertling wieder aufgriff: „Die Reparaturgesellschaft. Ein Beitrag zur großen Transformation?“8. Mit der Anspielung auf Karl Polanyis The Great Transformation (1944)9 verorten Leggewie und Bertling den Reparaturdiskurs in der technikhistorischen Perspektive der „großen Transformation“ der Industrialisierung, die Polanyi zu­folge zur Verselbstständigung und Hegemonie des „freien“ Marktes gegenüber der Gesellschaft geführt hat: „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“10 Die Folge dieser „großen Transformation“ ist die rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur. Dieser Prozess lässt sich laut Polanyi nur umkehren, wenn statt des Ideals eines freien und sich selbst regu­lierenden Marktes, dem alles Gesellschaftliche untergeordnet ist, die Vorstellung einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft das politische Handeln bestimmt. In diesem Sinne geht es im Projekt The Great Repair um nicht weniger als eine Neuausrichtung der Grundlagen, Normen, Prozesse und Ziele unseres Wirtschaftssystems hin zu Ökonomien der Reparatur und Sorge, um die 
Wirtschaft wieder in die Gesellschaft und diese wiederum in die natürliche Umwelt einzubetten. Fast beiläufig geben Leggewie und Bertling einen Hinweis darauf, an welcher Sollbruchstelle das Projekt The Great Repair ansetzen muss: Es kann davon ausgegangen werden, dass das Fertigen und Reparieren der Dinge vor Herausbildung des Manufakturwesens und nachfolgender Industrialisierung von den gleichen Akteuren betrieben wurde. Für beide Handlungen wurden die gleichen Kompetenzen und Werkzeuge benötigt und in vielen Fällen dürfte bereits bei der Fertigung die spätere Reparatur berück­sichtigt worden sein. Aus technikhistorischer Per­spektive trennten sich Fertigung und Reparatur im Zusammenhang mit der zu­nehmenden Mechanisierung vor allem der Kernprozesse der Fertigung: Stoffumwandlung und Formgebung.11 Das kapitalistische industrielle Wirtschaftssystem basiert also nicht nur auf dem „Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“12, wie Karl Marx es beschrieb, sondern auch auf der Trennung von Produktion und Reparatur – sowie letztlich darauf, dass Waren zirkulieren, die austauschbare Blackboxes bar jeglicher sozialer Beziehungen sind. Die dadurch entstehende Entfremdung ist tiefgreifend, sie reicht von den Produktionsbedingungen bis zum individuellen Konsumverhalten: Der zum Verbrauch bestimmte Artikel besitzt weder eine Verbindung zu den Arbeitsprozessen, die seiner Herstellung vorausgingen, noch zu solchen, die zu seiner Instandhaltung und Reparatur notwendig wären. Gesellschaftlich geht die Entwicklung mit einer Technikunmündigkeit der Menschen einher, einem Verlust an „Kompetenzen und Werkzeugen“, mit denen sie ihre Lebenswelt gestalten und reparieren können. Im Umkehrschluss bedeutet es, dass die Große Reparatur nur dann emanzipatorisch wirken kann, wenn sie den Menschen Werkzeuge der Reparatur an die Hand gibt. Sie muss dem Motto folgen, das der Architekt Yoshiharu Tsukamoto von Atelier Bow-Wow im Zusammenhang mit seinem Forschungsprojekt Satoyama School of Design13 formuliert hat: „Tools to the People!“14 Dieser Aufruf berührt ein zentrales Thema der marxistischen Theorie, wenn wir Werkzeuge im Sinne von „Produktionsmitteln“ übersetzen. Für Marx bildet die Konzentration des Eigentums an Werkzeugen, Werkstoffen und Maschinen als „Produktionsmittel“ in den Händen weniger den Kern des kapitalistischen Systems, zu dessen Überwindung – in der Theorie – die Wiederaneignung beziehungsweise Vergesellschaftung der Produktionsmittel notwendig wäre. Hier allerdings setzt das Projekt The Great Repair zunächst bescheidener an, weniger revolutionär als vielmehr alltagsweltlich. Es geht darum, die Handlungsmacht des Einzelnen dadurch zu erhöhen, dass statt des anonymen Verbrauchs die Sorge und Pflege der eigenen Lebenswelt ins Zentrum rückt. Man könnte mit Kant pathetisch sagen: Die Große Reparatur ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten technischen Unmündigkeit. Werkzeuge für alle Den Menschen die Werkzeuge und den Dingen die Reparaturfähigkeit zurückzugeben mag auf den ersten Blick einen antitechnischen Duktus haben. Doch der in vielen Fällen damit einhergehende DIY- und Low-Tech-Ansatz ist nicht in erster Linie gegen Technik gerichtet, sondern folgt dem Wunsch, die sozialen Beziehungen, die der Produktion eingeschrieben sind, zu entkommo­difizieren. Polanyi zufolge liegt im Warencharakter des Sozialen das Kernproblem des gegenwärtigen Systems: „Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren.“15 Diese Entwicklung hat uns in eine Sackgasse geführt, aus der uns nur die Erkenntnis befreit, dass wir einem falschen Bewusstsein aufgesessen sind: „Indessen sind Arbeit, Boden und Geld ganz offensichtlich keine Waren: Die Behauptung, dass alles, was gekauft und verkauft wird, zum Zwecke des Verkaufs produziert werden musste, ist in Bezug auf diese Faktoren eindeutig falsch.“16 Nicht von ungefähr stellen viele reparative Ansätze, bei denen es um Formen des Empowerment geht, das Verhältnis zur Arbeit, zum Boden und zum Geld ins Zentrum der Auseinandersetzungen. „Werkzeuge für alle“ meint somit die konkrete Selbstermächtigung des Menschen. Auch Leggewie und Bertling zielen mit ihrem Beitrag zu „Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis“ in dieselbe Richtung. Deswegen stehen Wissen und Werkzeuge im Zentrum des Projekts The Great Repair. Doch um neu-alte Werkzeuge zu erarbeiten oder zurückzu­­ge­winnen, müssen wir zunächst unsere Wissensbestände, unsere epistemologischen Grundlagen infrage stellen – und anerkennen, dass wir im Namen des Fortschritts eine Vielzahl von Wissenswelten, von Zugängen zur Welt verdrängt, marginalisiert und verloren haben. Dazu gehört das Wissen über nachhaltige Materialgewinnung, Bautechniken und Bodennutzung, aber auch die damit verbundene Erfahrung mit Formen der Bewirtschaftung von Gemeingütern. In diesem Sinne führt der Reparaturprozess auch zu einem neuen Verständnis von Territorium und Gesetzen als spezifischen Governance-Instrumenten, durch die unsere – derzeit ungleichen und ungerechten – sozio-ökologischen Systeme reproduziert werden. Wir brauchen angesichts der verheerenden ökologischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Fortschrittserzählung dringend ein alternatives Narrativ. Reparatur als Gegenstrategie zur Obsoleszenz könnte zumindest dazu beitragen, den Fortschrittsmotor mit seiner Logik der unablässigen Destruktion und 
Rekonstruktion zu verlangsamen.17 Aus dieser Perspektive muss das Konzept der Reparatur immer wieder gegen das falsche Ideal einer anachronistischen Rückkehr zu vorindustriellen Ökonomien oder zu einem vermeintlich „natürlichen“ Zustand verteidigt werden. Nicht zuletzt weil dieser Weg spätestens mit der Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts Die Grenzen des Wachstums vor genau fünfzig Jahren abgeschnitten war. Allerdings lauern heute in der Ver­tauschung von beobachteten Wachstumsgrenzen mit den Ursachen der Klimakrise oft neomalthusianische Weltbilder, die vor allem gegen die Entwicklung des Globalen Südens gerichtet werden können. So weist der Sozialgeograf Jason W. Moore darauf hin, dass die 
umfassende Umgestaltung der globalen Natur bereits vor der Erfindung der Dampfmaschine mit der früh­neuzeitlichen Eroberung neuer Territorien durch die aufstrebenden europäischen Imperien begann. Diese Produktionssteigerung im „Netz des Lebens“ (web of life) drehte sich laut Moore um die Konzeption der „Great Frontiers“ und die damit untrennbar verbundenen kolonialen Praktiken der Expansion, Aneignung und Aus­beutung für die Produktion „billiger Natur“ (cheap nature). In diesem Sinn richtet sich das Paradigma der Großen Reparatur wie dargelegt nicht per se gegen Technologie, sondern gegen Technologie als Mittel zur Reproduktion von Ungleichheit und zur Ausbeutung der nichtmenschlichen Welt, sowohl auf planetarer als auch auf lokaler Ebene. Reparatur und Reparation Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Ausbeutung der „billigen Natur“ und der billigen Arbeitskraft des Globalen Südens kann Reparatur im planetaren Maßstab die Mitbedeutung der Reparation nicht außer Acht lassen. Auch wenn die bereits angerichteten sozialen und ökologischen Schäden nicht reparabel sind, geht es beim Thema der Klimagerechtigkeit um die Anerkennung der Verantwortung und das Bemühen um einen Ausgleich zwischen den bisherigen Profiteur*innen des klimaschädigenden Wirtschaftssystems und denjenigen, die von den Folgen der Klimakrise am stärksten betroffen sind. Der Ausgleichsfonds für Klimaschäden für ärmere Länder, den die Weltklimakonferenz COP27 in Scharm el-Scheich trotz ihres Scheiterns verabschiedet hat, ist ein erster Schritt in einen Mechanismus der Reparation. Reparationen für Klimaschäden sind in diesem Zusammenhang jedoch nur ein Beispiel für notwendige Prozesse der Dekolonisierung. The Great Repair strebt, neben der Dekommodifizierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse wie weiter oben ausgeführt, vor allem die Dekolonisierung der sozialen Beziehungen, einschließlich der gesellschaftlichen Institutionen, als eine umfassendere Form der dekolonialen Reparationsleistung an. Der Begriff ist im Deutschen vor allem im Zusammenhang mit Kriegsentschädigungen gebräuchlich. Diejenige Partei, die Verantwortung für den Krieg trägt und diesen verliert, muss in der Regel Reparationsleistungen zahlen. Allerdings weist Lipp darauf hin, dass beim Thema der Nachhaltigkeit die Kategorien durcheinandergeraten: Der Begriff von „Reparatur“ ist dem martia­lischen von Reparation verwandt. […] Die Verlierer müssen zahlen. Aber – paradox, und reparationsgeschichtlich neu – es gibt keine Gewinner. Die Reparation trifft alle. Ihre Währung heißt „Reparatur“.18 Politiken der Reparaturgesellschaft Wir sollten uns jedoch davor hüten, Reparatur als Wert an sich zu verabsolutieren. Nur als politische Kategorie, die Handlung und Aushandlung zugleich umfasst, ist sie sozial wirksam. Was muss wie, mit welchen Werkzeugen repariert werden? Welcher Zustand wird angestrebt? Als Bezugsrahmen für diesen offenen Aushandlungs­prozess haben wir sechs Politiken bestimmt, die aus unserer Sicht das Handeln einer Reparatur­gesellschaft strukturieren – wobei klar ist, dass dies keine abschließende Aufzählung darstellt. Suffizienz Angesichts des Auseinanderklaffens von Ambition und Aktion wird Suffizienz immer wichtiger. Natur­gemäß wird sie von der Green-Tech-Ideologie jedoch ausgeblendet. Suffizienz ist nicht das Gegenteil von Effizienz. Vielmehr beschreibt sie – wider die Logik der planetarischen Materialgewinnung und der langen Lieferketten, die die Bauindustrie speisen – die Vision einer materiellen Kultur, in der die Menschheit und insbesondere der Globale Norden mit weniger aus-kommen muss: weniger Energie, weniger Ressourcen, weniger Flächenverbrauch durch einen sorgsamen Umgang mit dem, was bereits da ist. Suffizienz ist zudem nicht zu verwechseln mit Austerität, bei der es um die Reduktion der individuellen Lebensweise zu Lasten der sozial Schwachen geht, sondern ist als gesellschaftliches Planungs- und Governance-Paradigma zu verstehen, das eine Gestaltung der gebauten und unbebauten Umwelt in einer Weise steuert, die ein suffizientes Leben möglich macht. Entscheidend ist dabei auch eine Reterritorialisierung, also die Einbettung von Produktions- und Lieferketten in re­gionale und lokale Kontexte. Langlebigkeit Im Gegensatz zur Nachhaltigkeit, die heute in erster Linie die Übertragung wirtschaftlicher Prinzipien auf die Ökologie bedeutet, geht es bei Langlebigkeit darum, die Lebensdauer und Lebenszyklen von Ma­terialien, Gegenständen und Techniken so lange wie möglich auszudehnen. Recycling fungiert in dieser Perspektive lediglich als Schmiermittel des unhinterfragten produktiven Systems, während Reparieren die Langlebigkeit der Dinge zum Ziel hat. Einen wich­tigen Beitrag zum Designdiskurs leistet die Right-to-Repair-Bewegung, die gegen Wegwerfkultur und geplante Obsoleszenz ankämpft. Gleichzeitig ver­deutlicht die Realität der zunehmenden Migration, insbesondere der erzwungenen Migration von Klimaflüchtenden, die Notwendigkeit, Unbeständigkeit und Bewegung von Architektur und Siedlungsräumen neu zu denken. Langlebigkeit ist nicht das Gegenteil von Leichtigkeit und Flexibilität. Care Reparatur beinhaltet nicht nur die Reparatur von Dingen, sondern auch die Fürsorge für Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und Ökosysteme. Sie setzt voraus, dass bislang unsichtbare Arbeit anerkannt wird. Dazu gehören die bisher externalisierten Kosten der häuslichen und reproduktiven Arbeit, aber auch die Arbeit der Natur. Auf der Grundlage dieses erweiterten Verständnisses können „Ökologien der Reparatur“ geschaffen werden, die ein Netz menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungen spannen. Wiederaneignung Die rassistische und koloniale Gewalt, sowohl territorialer als auch kultureller Art, ist eine der un­abdingbaren Voraussetzungen für die kapitalistische Produktion von „billiger Natur“ (cheap nature), im Globalen Norden wie im Globalen Süden. Sie ist daher aus einem kritischen Klimadiskurs nicht wegzudenken. In diesem Kontext müssen Praktiken der Reparatur die dekoloniale Wiederaneignung des Entwendeten und Entwerteten berücksichtigen. Sie reichen von Objekten über Orte und Territorien bis hin zu kulturellen Praktiken und Epistemen. Solidarität Im Zentrum einer Vielzahl von Praktiken der Re­paratur steht die Politik der Solidarität. Reparatur wird hier als sozialer Akt verstanden, der das Zusammen­leben, das gemeinschaftliche Arbeiten, soziale Eigentumsformen sowie Ökonomien des Gemeinwohls und der geteilten Risiken fördert. Der Schwerpunkt liegt auf der lokalen, städtischen oder kommunalen Ebene, oft jenseits von Markt und Staat. Die Er­for­schung und Stärkung kleinerer kollaborativer Struk­turen und Ökonomien trägt zu ihrer zunehmenden Widerstandsfähigkeit bei, zum Beispiel in Bezug auf die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und die Klimaanpassung. Pluralität In dem Bemühen, die gesellschaftlichen Bezie­hungen zu entkommodifizieren und zu dekolonisieren, problematisiert die Reparaturgesellschaft die Einseitigkeit der technowissenschaftlichen Rationalität und strebt stattdessen nach Pluralität. Damit ist insbesondere das Bestreben gemeint, die Wissensproduktion außerhalb der staatlich und marktwirtschaftlich va­lidierten Wissenskreisläufe zu pluralisieren und sie für unterschiedliche Wissenssysteme und -praktiken zu öffnen. Dazu gehören Praktiken, die auf indigenem, handwerklichem oder bricoleurhaftem Wissen basieren und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Probleme lösen. Dadurch wird die Expert*innenposition infrage gestellt und die Akteurskonstellation verändert. Statt auf Neuheit und individuelle Urheberschaft setzt Pluralität auf kollaborative Formen der Wissensproduktion und Selbstermächtigung. Selbstreparatur Diese aktuellen Debatten um Repair, Care und Maintenance finden in der Architektur- und Stadt­forschung nicht nur großen Widerhall, sondern haben auch das Potential, mit dem spezifischen Reparatur-Wissen der Disziplin andere Diskurse und Praxen zu befruchten. Schließlich sind Strategien der Reparatur seit jeher ein wichtiger Bestandteil des Repertoires der Architektur. Angefangen bei Leon Battista Albertis Buch Über die Wiederherstellung der Bauwerke19, über die Arts- and Crafts-Bewegung bis hin zu Carlo Scarpas Umgang mit historischer Bausubstanz oder dem as found-Konzept von Alison und Peter Smithson. Von besonderer Bedeutung sind „Instandbesetzungen“, die Reparatur mit Aneignungsstrategien von unten kombinierten, sowie Stadtreparatur und andere großmaßstäbliche Planungsprojekte, die unter anderem auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die Folgen der Deindustrialisierung und schrumpfende Städte reagierten. Bei The Great Repair geht es nicht zuletzt auch um eine Selbstreparatur der Architektur als Disziplin: die Reparatur ihres Arbeitsbegriffs, ihrer Arbeitsprozesse, ihres Verständnisses von Autorschaft, ihres Ausbildungssystems und ihrer Kommunikationsformen. Allerdings handelt es sich längst nicht mehr um die Suche nach einer Inter- oder Transdisziplinarität, bei der die disziplinäre Verortung noch im Vordergrund steht und man, bildlich gesprochen, nach der Überfahrt wieder in den sicheren Hafen der Disziplin zurückkehrt. Eine Selbstreparatur der Disziplin bedeutet jedoch auch nicht die völlige Aufgabe von Verortung. Schließlich hat die feministische Kritik offengelegt, dass wir so frei nicht sind. Wir haben es im kulturellen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich stets mit Situiertheiten und Framings zu tun, die uns als Person mehrfach binden. Die Herausforderung der Politiken der Reparaturgesellschaft besteht darin, dass wir aufgrund dieser Situiertheit intersektional denken und handeln müssen, um gesellschaftliche Emanzipation zu erreichen. Wenn die Große Reparatur der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten technischen Unmündigkeit ist, ist die Selbstreparatur der Ausgang der Disziplin aus ihrer selbstverschuldeten sozialen Unmündigkeit. Das Projekt The Great Repair ist ein Projekt der ARCH+ gGmbH in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin, dem Departement für Geographie und Raumplanung der Universität Luxemburg und dem Departement Architektur der ETH Zürich. Das Projekt umfasst zwei ARCH+ Ausgaben sowie ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm, das vom 14. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 in der Akademie der Künste, Berlin, stattfinden wird. Die vorliegende Ausgabe dient der theoretischen Einführung, die zweite wird Praktiken der Reparatur vorstellen und zur Eröffnung der Ausstellung am 13. Oktober 2023 als Katalog erscheinen. Danksagung Ohne die Unterstützung und das Vertrauen der Akademie der Künste, insbesondere von Johannes Odenthal, dem ehemaligen Programmbeauftragten der Akademie der Künste, Berlin, und seiner Nachfolgerin Johanna M. Keller wäre das Projekt in dieser Tiefe nicht zustande gekommen. Allen Förderern, insbesondere der Kulturstiftung des Bundes und der Wüstenrot Stiftung, allen Autor*innen, Gesprächspartner*innen, Künstler*innen und nicht zuletzt unseren Kolleginnen Marija Marić und Nazlı Tümerdem sowie dem ARCH+ Team, allen voran Nora Dünser und Felix Hofmann, gilt unser aufrichtiger Dank. Hortensia Völckers sprechen wir unseren tief empfundenen Dank aus. Ohne ihren Mut und ihre Vision von Kultur als gesellschaftliche Herausforderung hätten wir in ihrer nun auslaufenden Amtszeit als künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes solche ambitionierten
Forschungs-, Diskurs- und Ausstellungsvorhaben wie projekt bauhaus, Cohabitation oder The Great Repair nicht umsetzen können. 
 1 Vgl. Stefan Krebs, Gabriele Schabacher, Heike Weber (Hg.): Kulturen des 
Reparierens. Dinge – Wissen – Praktiken, Bielefeld 2018, S. 20: „Betrachten wir 
die Beschäftigungsstruktur von Ingenieuren als zentrale Akteure des Technischen, 
so sind die meisten heutigen Ingenieure nicht im Bereich von Entwicklung und 
Konstruktion tätig, sondern in Wartung und Reparatur.“ 2 Vgl. The World Meteorological Organization: „Temperatures in Europe increase more than twice global average“, Pressemitteilung vom 2.11.2022, public.wmo.int/en/media/press-release/temperatures-europe-increase-more-twice-global-average (Stand: 29.11.2022) 3 Wilfried Lipp: „Rettung von Geschichte für die Reparaturgesellschaft im 
21. Jahrhundert. Sub specie conservatoris“, in: ICOMOS – Hefte des Deutschen 
Nationalkomitees, Band 21 (1996): Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft, S. 143–151, hier S. 146 4 Vgl. Wilfried Lipp: „Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Aspekte zur Reparaturgesellschaft“, in: Ders., Michael Petzet (Hg.): Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Denkmalpflege am Ende des 20. Jahrhunderts, 7. Jahrestagung der Bayerischen Denkmalpflege, Passau, 14.–16. Oktober 1993, 
Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Arbeitsheft 69, München 1994, S. 6–12 5 Lipp 1996 (wie Anm. 3), S. 144 6 Ebd., S. 146 f. 7 Siehe Claus Leggewie: Die 89er – Portrait einer Generation, Hamburg 1995 8 Siehe Jürgen Bertling, Claus Leggewie: „Die Reparaturgesellschaft. Ein 
Beitrag zur großen Transformation?“, in: Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.): Die Welt reparieren – Open Source und Selbermachen als 
postkapitalistische Praxis, Bielefeld 2016, S. 275–286 9 Karl Polanyi: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), übers. v. Heinrich Jelinek, Frankfurt a. M. 1978 10 Ebd., S. 88 f. 11 Bertling, Leggewie 2016 (wie Anm. 8), S. 276 12 Karl Marx: Das Kapital, Band I, MEW Band 23, S. 742 13 Siehe Yoshiharu Tsukamoto, Siena Hirao: „Lernen im Feld: Die Satoyama School of Design“, in: ARCH+ 249: Learning Spaces (September 2022), S. 196–203 14 Ein Claim, den Tsukamoto im Gespräch mit den Kurator*innen erhoben 
hat und gemeinsam mit Momoyo Kaijima für ihren geplanten Ausstellungsbeitrag für 
The Great Repair ausarbeiten wird. 15 Polanyi 1978 (wie Anm. 9), S. 70 16 Ebd., S. 107 17 Vgl. Daniel M. Abramson: Obsolescence – An Architectural History, 
Chicago/London 2016 18 Lipp 1996 (wie Anm. 3), S. 148 19 Leon Battista Alberti: „Zehntes Buch: Über die Wiederherstellung der 
Bauwerke“, in: Zehn Bücher über die Baukunst, übersetzt und hg. von Max Theuer, Darmstadt 1991 (Nachdruck der 1. Auflage von 1912), S. 523 ff. Editorial
Aktualisiert: 2023-01-05
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