Brief an eine vermisste Freundin
Liebe Andrea,
es ist immer noch unfasslich – vor jetzt (Juni 2021) fast einem Jahr bist Du von uns gegangen. Auch wenn die Alltagsgeschäfte vieles überlagern, lässt es sich nur schwer daran gewöhnen, dass Du nicht mehr bist. Wie tröstlich ist es da, Dir in Deinen Bilder begegnen zu können. Ja, manchmal glaube ich, bei ihrer Betrachtung Deine Stimme zu hören, Dich hinter den Farbflächen leiblich aufscheinen zu sehen. Manche der dargestellten zwischenmenschlichen Begegnungen und Konfrontationen wecken in mir Erinnerungen an Tage, Nächte der Diskussionen über die Kunst und das Leben bei Dir zuhause, im Atelier oder in dem von uns geliebten Venedig, erinnern mich an Stimmungen, Atmosphären, Anspannungen auch, sogar an Gerüche. Den Entstehungsprozess einiger Deiner Gemälde, die jetzt in dem Gedächtniskatalog und in der ihm nachfolgenden Ausstellung präsentiert werden, durfte ich miterleben. Auf anderem war die Farbe noch feucht, als ich sie zum ersten Mal sah. Für Dein Vertrauen, sie meinen Blicken auszusetzen – und ich weiß nur zu gut, was es bedeutet, in diesem sehr fragilen Moment sich der Kritik zustellen –, bin ich Dir bis heute dankbar. Dass für Dich meine gelegentlich scharfen Worte nicht immer leicht zu ertragen waren – keine Frage. Dafür konntest Du gewiss sein und spürtest Du, dass sie von meinem Glauben in Deine großen künstlerischen Fähigkeiten motiviert und von der Ungeduld, sie in ihrer ganzen Fülle erblühen zu sehen, getragen waren.
Meine Überzeugung in Dich als heranreifende große Malerin, Du erinnerst Dich, entfachte die erste Begegnung mit einem Gemälde von Dir: eine studentische Talentprobe würde man heute formulieren, die sich auf einem der ersten Rundgänge der neugegründeten Hochschule der Bildenden Künste so wohltuend von diesen gleichzeitig großmäuligen, verquälten und hilflosen Avantgarde-Hecheleien Deiner Kommilitonen und Kommilitoninnen abhob. Es stand unaufgeregt für einen eigenständigen künstlerischen Willen, vielleicht sogar Plan. Vieles von dem, was Dich zu der geachteten, ja verehrten Malerin gemacht hat, fand sich aus heutiger Sicht darin schon angedeutet: die Farbigkeit, das Changieren zwischen Figuration und ihrer Auflösung, das Misstrauen allzu klar definierten Formen gegenüber, die Großzügigkeit der Pinselführung.
Damals hatte ich keine Ruhe, bis ich die Verfasserin dieses Gemäldes kennengelernt hatte. Wir konnten nicht ahnen, dass sich daraus eine fast dreißig Jahre währende Künstlerfreundschaft entwickeln würde, mal enger, mal distanzierter, wie das Leben eben so spielt. Wir erlebten persönliche und künstlerische Krisen des/der anderen mit, wir stemmten zusammen Projekte und ja, stritten manchmal heftig miteinander über künstlerische Fragen (etwa über Deine Eigenart, das machtvolle Schwarz in den Flächen durch Zugabe einer Zweitfarbe zu löschen, ich würde sagen, es zu killen) und kunst- und kulturpolitische Strategien. Ich bewunderte Dich immer für Deine manchmal beängstigende Offenheit auch selbst zweifelhaften Stilübungen gegenüber. Für Dich war, ich habe es so ähnlich woanders schon mal formuliert, die Kunst eine große Familie, an deren Tafel jede und jeder einen Platz reserviert fand.
War es Dir eigentlich bewusst, dass ich bei Atelierbesuchen mit kollegialem Neid auf Deine im Entstehen begriffenen Gemälde blickte? Nie hätte ich das, was Du gemalt hast, selbst gemalt haben – Du weißt es –, aber wie Du es gemalt hast, davon hätte ich gerne etwas in meine eigene Arbeit einfließen lassen wollen. Etwa Deine Freiheit im Umgang mit dem Farbmaterial. Deine Fähigkeit, die Sujets auf das Wesentliche zu komprimieren und sie zugleich so im Ungefähren/Ungewissen zu verorten, bis ihre Essenz deutlich wurde. Und – Deine vornehme Zurückhaltung, die Malerei erzählen zu lassen, nicht selber in ihr zu erzählen.
Jetzt also soll ich einen Katalogtext über Deine Malerei schreiben. Liebe Andrea, ich sehe Dich diese Nachricht mit einem schelmischen Grinsen und Deinem charakteristisch langgezogenen und warmen „gut“ kommentieren. „An der Schwelle zur Abstraktion“ heißen Katalog und Ausstellung. Ganz ehrlich – mit diesem Titel habe ich meine Probleme. Abstraktion war Dir, finde ich, eher eine von vielen Methoden, zu dem vorzudringen, was Dich umtrieb. Aber Dir ging es nicht darum zu beweisen, dass Abstraktion grundsätzlich eine künstlerische Option darstellt. Du warst auf dem Weg zur Malerei, nein, Du warst in der Malerei.
Das Sujet, so hatte ich es immer erlebt, lieferte Dir den entscheidenden Bildimpuls. Es war der unabdingbare Anlass, um im Malen über die Malerei zu philosophieren, und verraten hast Du Deine Sujets nie. Das konnte ins Monumentale gesteigertes Kinderspielzeug ebenso sein wie ein unaufgeräumter Küchentisch oder das Zusammentreffen von Freunden bei einem Ausflug, in einer vertrauten abendlichen Runde, Kirchenräume, Heimwerker- oder gar in einer Fabrik wahrgenommene Arbeitssituationen.
Um nicht von optischen Sensationen verführt zu werden und um Dich nicht in Kleinteiligkeit zu verlieren, vertrautest Du Dich zur Vorbereitung Deiner Gemälde der Fotografie an so wie andere einer Zeichnung. Du hattest ein Gespür dafür, in dem für den Wimpernschlag kurzen Moment, während dessen Situationen sich verdichten und umkippen, auf den Auslöser zu drücken. Dabei entstanden stattliche Fotoserien sozusagen für den „Hausgebrauch“. Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, dass Dich natürlich auch Aufnahmen aus Zeitungen und Zeitschriften oder selbstredend Deine Innenbilder inspirierten. So oder so – Fotografien als, von mir aus, abstrahierendes Medium zogen zwischen Dich, das Sujet und den Malprozess eine Ebene der notwendigen Distanz ein. Aus der Kombination einzelner Aufnahmen einer Fotoserie extrahiertest Du Bildstrukturen, Deine jeweilige Komposition und begabst Dich ins „Maschinenwerk der Malerei“: in das Zwiegespräch mit dem Material, der Geste des Farbauftrags, den Farben und assoziationsfähigen Formfragmenten, kurz, ins Herausschürfen eines Gemäldes.
Die nackte Leinwand (oder das Papierweiß in Aquarellen) war Dir nicht einfach eine gefügige Trägerfläche von Bildinszenierungen. Deine Gemälde schöpften sich und entwickelten sich aus ihr heraus. Ihr Grundton schwingt und formt immer mit, wie in einem Vexierbild ereignet sich genau dort, auf der freistehenden Leinwand, in der Auslassung das eigentlich Gemeinte. Möglicherweise, aber da muss ich spekulieren, war dieses Vorgehen für Dich das Einfallstor, Deine Sujets vom einem vordergründigen Realismus abzulösen.
Ja, es stimmt, in bestimmten Phasen Deines Werkes dominierten bildarchitektonische Überlegungen das Sujet. Hin und wieder löste es sich in der Farb- und Flächendynamik bis zur Unkenntlichkeit auf. Aber zumeist können Deine engsten Freunde angedeutete Situationen und Personen auf Deinen Gemälden zielsicher identifizieren. Ob Deine vollendeten Gemälde letztlich das Sujet als ihre Erläuterung benötigen? Sicher ist, in ihnen legtest Du das Allgemeine im Besonderen frei, nicht umgekehrt. Die Flüchtigkeit und Wandelbarkeit der Erscheinungen schreckte Dich ebenso wenig wie das scheinbar Anekdotische, der erzählerische Moment einer Bildidee. Sie forderten Dich heraus, Deine, wie ich es einmal nannte, „Archäologie des Augenblicks“ zu betreiben, um wie beim Freilegen einer fundstückreichen Bodenschicht den Wesenskern dieser Seidenpapier dünnen Erscheinungen ans Tageslicht, in die Malerei zu heben und ihn in eine zweite festere Haut zu hüllen.
Liebe Andrea, die Zeit drängt. Ich muss leider hier das Gespräch mit Dir beenden. Dein kleines Gemälde, das uns zusammenführte, hängt nach wie vor in meinem – naja – Wohnzimmer. Ich halte es in Ehren. Vielleicht höre ich, wenn ich es gleich wieder betrachte, Deine Stimme und sehe Dich hinter seinen Farbflächen leiblich aufscheinen.
Es wäre schön.
Uwe