Modellierung des Zeitwahlverhaltens im Personenverkehr

Modellierung des Zeitwahlverhaltens im Personenverkehr von Hecht,  Christoph
Die physische Verkehrsinfrastruktur für den motorisierten Straßenverkehr wie auch für den öffentlichen Verkehr wird zumindest im Umfeld der Ballungsräume der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig bis zur Kapazitätsgrenze in Anspruch genommen bzw. sogar überlastet. Diese Spitzennachfrage tritt regelmäßig und zyklisch morgens und abends auf, während zu anderen Tageszeiten – vor allem nachts – noch Kapazitätsreserven der Verkehrsinfrastruktur brach liegen. Zukünftige Strategien für Steuerung und Management der Verkehrsnachfrage müssen darauf abzielen, Belastungsspitzen abzubauen und die Nachfrage gleichmäßiger über den Tagesverlauf zu verteilen. Der Verkehrsingenieur benötigt zur Entwicklung geeigneter Maßnahmen für die Umsetzung dieser Strategien Werkzeuge und Modelle, mit denen er die komplexen Wirkungen theoretisch überprüfen, bewerten und optimieren kann. Herkömmliche Modelle zur Berechnung der Verkehrsnachfrage enthalten keine Elemente, mit denen der tageszeitliche Verlauf der Nachfrage maßnahmesensitiv abgebildet werden kann. In dieser Arbeit wird ein Ansatz vorgestellt, der in einem Verkehrsnachfragemodell die Wahl des Fahrtzeitpunktes als gleichberechtigten Freiheitsgrad neben die Wahl des Fahrtziels und die Wahl des Verkehrsmittels stellt. Dabei wird ausführlich darauf eingegangen, wie sich die Einflüsse der Verkehrsqualität und verkehrlicher Maßnahmen von den allgemeinen Präferenzen zur Wahl des Fahrtzeitpunktes trennen lassen. Zu diesem Zweck wird aus empirischen Befragungsdaten fahrtzweckspezifisch der in einem Untersuchungsgebiet realisierte Verlauf der Fahrtzeitpunkte ermittelt. Außerdem wird eine integrierte Ganglinie der Verkehrsqualität aller Verkehrsmittel als Maß für den verkehrlichen Aufwand zu unterschiedlichen Zeiten des Tages berechnet. Aus diesen empirischen Grundlagen wird – ebenfalls getrennt nach Fahrtzwecken – eine zeitliche Wunschlinie der Nachfrage gebildet; dergestalt, daß zu Zeiten hohen verkehrlichen Aufwandes die realisierte Nachfrage kleiner als die Wunschnachfrage und zu Zeiten niedrigen verkehrlichen Aufwandes die realisierte Nachfrage größer als die Wunschnachfrage ist. Grundlage dieses Vorgehens ist die These, daß die beobachtbare Nachfrageverteilung bereits von der tageszeitlich variierenden Verkehrsqualität beeinflußt ist und dieser verkehrliche Einfluß aus den vom Kollektiv der Verkehrsteilnehmer originär gewünschten Nachfragezeiten herausgerechnet werden muß. Das Prognosemodell benötigt zeitlich differenzierte Widerstandsmatrizen für alle betrachteten Verkehrsmittel im Untersuchungsgebiet. Diese enthalten je nach Verkehrsmittel unterschiedliche charakteristische Daten zum verkehrlichen Aufwand zwischen allen Verkehrsbezirken. Mit geeigneten Bewertungsfunktionen werden die Widerstandsparameter zu direkt vergleichbaren Bewertungswerten zusammengefaßt. Die Verkehrsnachfrage wird – ausgehend von den Startbezirken – simultan auf alle potentiellen Ziele, Verkehrsmittel und Zeitintervalle aufgeteilt. Die zeitliche Wunschlinie der Nachfrage bildet dabei die Ausgangsbasis des zeitlichen Verlaufes, von dem in Abhängigkeit von der Verkehrsqualität abgewichen wird. Randbedingungen für die abschließende Ausgleichsrechnung sind Quell- und Zielverkehr jedes Bezirkes, die vorab im Schritt der Verkehrserzeugung festgelegt worden sind. Das Ergebnis für jeden behandelten Fahrtzweck ist eine vierdimensionale Matrix der Verkehrsnachfrage mit den Dimensionen: Startbezirk, Zielbezirk, Verkehrsmittel und Zeitintervall. Das Modell wurde beispielhaft für den Untersuchungsraum der Region Stuttgart implementiert. Dazu wurde die Einteilung in 624 Verkehrsbezirke aus dem Regionalverkehrsplan übernommen und vier Verkehrsmittel sowie 24 Zeitintervalle für die Stunden des Tages berücksichtigt. 8 Für die Berechnung der zeitlich differenzierten Widerstandsmatrizen des motorisierten Straßenverkehrs (MIV) und des öffentlichen Verkehrs (ÖV) konnten die im Forschungsprojekt 'Wege zu einer umweltverträglichen Mobilität – am Beispiel der Region Stuttgart' entwickelten Modellkomponenten angewendet werden. Zur Behandlung des nicht motorisierten Verkehrs mußte ein neues Verfahren entwickelt werden, mit dem die Eignung der kleinräumigen Relationen innerhalb und zwischen benachbarten Verkehrsbezirken für Fußgänger und Radfahrer beschrieben werden konnte. Außerdem mußten die Widerstandsmatrizen des MIV und ÖV um Binnenwiderstände der Verkehrsbezirke erweitert werden. Das beschriebene Modellkonzept wurde für das Analysejahr 1995 aufgestellt und kalibriert. Dabei konnte festgestellt werden, daß es im Rahmen der verfügbaren Kontrollgrößen die Realität hinreichend genau wiedergibt. Die Fahrtweitenverteilungen werden differenziert nach Fahrtzwecken und Verkehrsmitteln realistisch abgebildet. Die zyklischen Belastungsspitzen und unsymmetrischen Querschnittsbelastungen im Straßennetz werden gut wiedergegeben. Die globale Aufteilung auf die Verkehrsmittel (Modal Split) läßt sich entsprechend den global vorliegenden Kenngrößen einstellen; auf einzelnen Relationen ergeben sich die Verkehrsmittelanteile entsprechend den Angebotsparametern der verschiedenen Verkehrsmittel. Die im Modell realisierten zeitlichen Nachfragekurven werden durch den Verlauf der Verkehrsqualität der einzelnen Verkehrssysteme beeinflußt und weichen in der erwarteten Weise von den vorher generierten zeitlichen Wunschlinien der Nachfrage ab. Zur Überprüfung der Sensitivität des Modells wurde ein Road Pricing-Maßnahmenfall in Form eines Einfahrkordons um die Stadt Stuttgart entwickelt. Das Modell zeigt in plausibler Weise die räumlichen, modalen und zeitlichen Verlagerungen als Reaktion auf die in der Morgenspitze erhobenen Straßenbenutzungsgebühren. Betroffen sind im wesentlichen die Relationen mit Start außerhalb und Ziel in der Landeshauptstadt; die veränderte Routenwahl des bisherigen Durchgangsverkehrs führt jedoch während der Morgenspitze in weiten Bereichen der Region zu einer Abnahme der Verkehrsqualität und dadurch auch zu Beeinträchtigen aller anderen Relationen. Die Größe der verschiedenen Verlagerungen hängt von zahlreichen Annahmen ab, die im Rahmen der Beispielimplementierung nur grob abgeschätzt werden konnten und für eine fundierte Aussage zur Wirksamkeit der Road Pricing-Maßnahme empirisch abgesichert werden müßten. In dem beschriebenen Modell können die für die Sensitivität maßgeblichen Parameter in weiten Bereichen justiert werden. Mit Hilfe der Beispielanwendung konnte nachgewiesen werden, daß der Modellierungsansatz geeignet ist, das Zeitwahlverhalten der Verkehrsteilnehmer in ein simultanes Nachfragemodell zu integrieren. Der zu diesem Zweck erstellte Software Prototyp ist noch sehr umständlich zu bedienen und angesichts der enormen Datenmengen, die während eines einzigen Rechenlaufs anfallen, ist auch der zeitliche Bearbeitungsaufwand sehr hoch. Methodisch muß im wesentlichen die Behandlung der Fahrtenketten und der Heimfahrten weiterentwickelt werden. Mit der vorhandenen Hardware konnte der dadurch induzierte Rechenaufwand nicht mehr bewältigt werden.
Aktualisiert: 2019-01-02
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