Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet

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ZWISCHEN DAUERHAFTIGKEIT UND UTOPIE Venedig schöpft sein Wesen aus seiner Beziehung zum Wasser. Doch diese Beziehung ist nicht konfliktfrei. Die Stadt hat es einer jahrhundertealten Geschichte der technischen Entwicklung und Projektierung zu verdanken, dass die fragile, manchmal auch feindselige und ungesunde Umwelt der Lagune von Venedig heute bewohnbar ist.1 Dabei musste ihr Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung immer wieder mit Fragen des Umweltschutzes in Einklang gebracht werden. Die Lagune von Venedig befindet sich in einer fortwährenden Auseinandersetzung mit ihrer unbeständigen geografischen Beschaffenheit, auf Dauer dazu verurteilt, entweder im Meer zu verschwinden oder zu verlanden und eine Erweiterung des Festlands zu werden. Um dieses Schicksal abzuwenden, haben Menschen seit nunmehr 1.500 Jahren Flussläufe verändert, ganze Landstriche trockengelegt, Wasser gepumpt, Schlamm verfestigt, Deiche, Kanäle, Molen, Dämme und Brücken gebaut. Von ihrem Wesen her in stetiger Veränderung begriffen, stellt die Lagune von Venedig eine unerschöpfliche Aufgabe der Instandhaltung dar: von den großen Anstrengungen der Ingenieursbaukunst der Republik bis zu den vielen kleinen Eingriffen der Fischer*innen, Müller*innen und Landwirt*innen, die seit Jahrhunderten die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen.2 Der Mythos der Natürlichkeit der Lagune hat viele gegensätzliche Vorstellungen von der territorialen Entwicklung der Republik Venedig hervorgebracht. Paradigmatisch dafür steht ein intellektueller Disput im 16. Jahrhundert zwischen dem berühmten Chefingenieur der venezianischen Wasserbehörde Magistrato alle Acque, Cristoforo Sabbadino, und dem wohlhabenden Großgrundbesitzer Alvise Cornaro.3 Sabbadino betrachtete Technologie als eine bewahrende Kraft, ein Werkzeug, um das hydrologische Gleichgewicht in der Lagune zu erhalten. Zu diesem Zweck ersann er Wasserbauprojekte spektakulären Ausmaßes auf dem Festland und sprach sich vehement dafür aus, den Lauf ganzer Flüsse zu verändern, um zu verhindern, dass sich Sedimente ansammeln, die zur Verlandung der Lagune führen könnten. Für Sabbadino war die Lagune Venedigs wichtigste Verteidigungsmauer – und je „unfertiger“ sie erschien, desto sicherer war sie in seinen Augen.4 Der Adlige Cornaro hingegen betrachtete Technologie als eine Kraft der Veränderung. Auf dem Anwesen seiner Familie bei Chioggia am südlichen Ende der Lagune experimentierte er mit Techniken der Landgewinnung, wofür er ohne Genehmigung Deiche anlegte, die später auf Anordnung des Magistrato alle Acque zerstört wurden. In seinem sturen Kampf für die Erhaltung dieser Deiche entwickelte Cornaro allmählich eine utopische Vision einer neuen, verwandelten Lagune mit einem schwimmenden Theater und einem künstlich geschaffenen Berg (vago monticello), der auf neu gewonnenem Land in der Mitte des Markusbeckens direkt gegenüber dem Dogenpalast errichtet werden sollte.5 Cornaros visionäre Idee lehnte sich an überlieferte Darstellungen einer anderen Lagunenstadt aus dem 16. Jahrhundert an: Tenochtitlán, die Hauptstadt des Aztekenreichs, deren beeindruckende Gestalt im 1528 vom venezianischen Kartografen Benedetto Bordone veröffentlichten Inselatlas Isolario abgebildet war.6 Tenochtitlán wurde inmitten des alten Texcoco-Sees errichtet, der später von den spanischen Kolonisatoren trocken­gelegt wurde, um Platz für Mexiko-Stadt zu schaffen. Ähnlich wie in Tenochtitlán und im Gegensatz zu Sabbadinos behutsamem Ansatz im Umgang mit der Lagune schlug Cornaro vor, letztere vollständig mit einem Deich zu umfassen, um das Land klar vom Wasser zu scheiden und lediglich eine der Mündungen offenzulassen, die die Lagune mit dem adriatischen Meer verbindet. Die vom umgebenden Wasser fast gänzlich „abgetrennte“ Lagune wäre – ein in sich geschlossenes Ökosystem – in Cornaros Vorstellung nicht nur gesünder, wohlhabender und besser geschützt, sondern auch schöner.7 Die mögliche Auswirkung ­seiner Vision auf die Beziehung zwischen ­Venedig und dem umgebenden Wasser zeigt sich am deutlichsten in Cornaros Verwendung eines neuen Ausdrucks, der durch Bordones Karte beeinflusst sein dürfte: die Lagune als „heiliger See“.8 Den meisten Venezianer*innen wäre jedoch instinktiv bewusst, dass solch eine Vision der engen ontologischen Beziehung zwischen der Stadt und ihrer Lagune zuwiderlaufen würde; nicht zuletzt, weil Venedig bis heute kein modernes Abwassersystem besitzt. Der Abtransport der Abwässer hängt immer noch stark davon ab, ob das Brackwasser in seinem täglichen Anstieg die gatoli (Abwassersystem aus gemauerten Hohlräumen und Rückhalte­becken unterhalb der Gehsteige) erreicht, um so das Abwasser zuerst in die Kanäle und dann weiter hinaus ins offene Meer zu spülen. ZWISCHEN FIXIERUNG UND TRANSFORMATION Sabbadinos und Cornaros gegensätzliche Visionen sind Ausdruck eines epochalen Wandels im kollektiven Verständnis von Venedig. Bis ins 14. Jahrhundert hinein war das städtische Wachstum Venedigs durch Zyklen der Land­gewinnung geprägt, bei denen die Grenzen der Stadt immer noch als dynamisch, provisorisch und instabil angesehen wurden. Erst zwischen 1530 und 1550 wurde dieser Ansatz infrage gestellt, auch durch die breitere Popularisierung von Bordones einflussreicher Darstellung der Stadt inmitten einer idealisierten, perfekt ovalen Lagune.9 Angefacht durch diese ikonografische Wende setzte sich im 16. Jahrhundert die Idee durch, die Beziehung zwischen der bebauten Fläche und dem Wasser dauerhaft zu fixieren. 1557 konzipierte Sabbadino ein umfassendes Programm zur Erweiterung und Festlegung der Grenzen der Stadt, im Rahmen dessen Stadterneuerungsmaßnahmen wie der Bau der nördlichen Uferbefestigung, der Fondamenta Nuove, in Gang gesetzt wurden. Zu dieser Zeit orientierte sich die Republik Venedig immer weniger Richtung Meer. Hintergrund dieser Entwicklung war der fortschreitende Bedeutungsverlust Venedigs als Seemacht durch die Erschließung neuer Handelsrouten am Ende des 15. Jahrhunderts, etwa die „Entdeckung“ Amerikas 1492 oder des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1498, und der damit verbundene Aufstieg neuer maritimer Mächte in Europa. Auf der Suche nach einem neuen politischen und ökonomischen Gleichgewicht richtete die Stadt ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf das Festland.10 Nach vielen großen wasserbaulichen Eingriffen, die im 17. Jahrhundert ausgeführt wurden – und von denen Sabbadino viele bereits vorgeschlagen hatte –, wähnte man die Lagune in Sicherheit vor den Sedimenten, die einst direkt von den Flüssen angespült wurden. Fortan begegnete die venezianische Regierung jedem Vorstoß einer räumlichen Erweiterung der Stadt mit einer konservativen Haltung, die darauf abzielte, jedwede mögliche Änderung am bestehenden Wasser- und Abwassersystem einzugrenzen. Die Magistrate der Republik befassten sich nunmehr weitgehend mit „einfachen“ technischen Instandhaltungsmaßnahmen. Diese Entwicklung gipfelte in der Festsetzung der Conterminazione Lagunare im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, welche die territorialen Grenzen der Lagune nach außen klar definierte und mit Grenzsteinen bis heute sichtbar markiert. Der definierte Bereich unterlag fortan der Zuständigkeit und administrativen Verwaltung des Magistrato alle Acque, innerhalb dessen die strengen Bestimmungen und Vorschriften zum Schutz der Lagune galten.11 Die administrative Konstruktion einer dauerhaften Stadtgrenze hatte zur Folge, dass von nun an alle planerischen Eingriffe in Venedig nur noch dem Zweck der Erhaltung, Verbesserung oder Anpassung dienen durften.12 Wir können nur spekulieren, wie sich die Magistrate verhalten hätten, wäre die Republik Venedig nicht 1797 in Napoleons Hände gefallen. Es ist allerdings klar, dass die unzulängliche Instandhaltung und der damit verbundene langsame Verfall der Lagune Ende des 18. Jahrhunderts unter französischer und später österreichischer Herrschaft einsetzten, die schlicht nicht über das Umweltbewusstsein und die technische Kultur verfügten, die venezianische Wasserbauingenieure über Jahrhunderte entwickelt hatten. Der tausend Jahre währende Inselstatus Venedigs wurde von den Österreichern 1846 mit der Einweihung der Eisenbahnbrücke über die Lagune abrupt beendet. Auch nach der Annexion Venedigs durch das Königreich Italien im Jahr 1866 verbesserte sich die Situation nicht wesentlich. So wurden unter italienischer Herrschaft viele Kanäle aufgefüllt und große Teile der Stadt abgerissen. Immer deutlicher wurde auch, dass die dauerhafte Notlage in der Wasserversorgung, welche eine Folge der jahrzehntelangen schlechten Instandhaltung der traditionell genutzten Regenwasserzisternen war, angegangen werden musste. 1884 wurde schließlich ein neues Aquädukt eingeweiht, welches nicht nur den jahrhundertealten Durst Venedigs nach Frischwasser löschte, sondern auch die Karriere des eigenwilligen Chefingenieurs der Stadt, Giuseppe Bianco, beendete. Er hatte zwischen 1857 und 1858 die ehrgeizige Unternehmung betrieben, eine detaillierte Erhebung von tausenden privaten und öffentlichen Regenwasserzisternen vorzunehmen. Es heißt, die Vorstellung des Aquädukts und das zeitgleiche Aufgeben der Zisternen hätten die psychische Erkrankung von Bianco so stark verschlimmert, dass er in die psychiatrische Anstalt auf der Insel San Servolo eingeliefert werden musste.13 Die Anekdote liest sich wie eine Warnung, dass jede große Innovation in Venedig unweigerlich der Eigenart und unvergleichlichen Struktur der Stadt Rechnung tragen muss. Heute übernimmt das städtische Unternehmen Insula S.p.A. – zu deren Gründungspartnern die Gemeinde Venedig und deren Versorgungsunternehmen gehören – die Instandhaltung der Stadt in einem umfassenderen Sinn: vom öffentlichen Wohnungsbau über die städtische Mobilitätsinfrastruktur bis hin zur Wartung der Kanäle.14 ZWISCHEN DESASTER UND GESETZGEBUNG Als die norditalienische Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, durchlief das venezianische Festland weitere einschneidende Veränderungen, darunter riesige neue Projekte der Landgewinnung, bei denen sich Cristoforo Sabbadino sicher im Grabe umgedreht hätte. 1920 begannen die Arbeiten für die Errichtung eines ersten Industriegebiets, dessen ursprünglicher Kern heute als Porto Marghera bekannt ist und später mit der Erschließung eines zweiten Industriegebiets erweitert wurde. 1924 wurden 2.300 Hektar der Lagune für die landwirtschaftliche Nutzung aufgefüllt und 1933 eine Autobrücke parallel zur Eisenbahnbrücke eröffnet. Zwischen 1961 und 1969 wurde der Malamocco-Marghera-Kanal, auch unter dem Spitznamen Canale dei Petroli (Erdölkanal) bekannt, in der flachen Lagune ausgehoben, damit große Öltanker von der Mündung des Hafens von Malamocco die Raffinerien im Hafen von Marghera erreichen konnten. Mit dem Aushub wurden zwei künstliche Inseln aufgeschüttet, die für ein weiteres Industriegebiet bestimmt waren, welches jedoch infolge der Ölkrise von 1973 nie realisiert wurde. Die boomende Tourismusindustrie spielte eine wichtige Rolle in diesem neuen Prozess der Landgewinnung: Von 1960 an wurde ein großes Gebiet mit Salzmarschen am nördlichen Ende der Lagune aufgefüllt, um Platz für den nach Marco Polo benannten internationalen Flughafen zu schaffen. Auch das historisch empfindliche Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Lagune als Ökosystem und der traditionellen extensiven Aquakultur – die beide auf die natürliche Migration von Fischen durch die Lagune angewiesen sind – ist durch die wachsende Fischzucht aufgrund der hohen touristischen Nachfrage stark beeinträchtigt worden. (Heute schirmen rund 100 Quadratkilometer geschlossener Rückhaltebecken zur Fischzucht mehr als ein Sechstel der Gesamtfläche der Lagune ab.) Eine Umweltkatastrophe markiert Mitte der 1960er-Jahre das jähe Ende dieser Phase der Transformation mit ihren infrastrukturellen Großprojekten: In der großen Flut von Venedig 1966 versank die Stadt knapp 2 Meter unter Wasser und musste sich ihres desolaten Zustands bitter bewusst werden. Dieses tragische Ereignis löste eine heftige politische und soziale Debatte über eine ganze Reihe von Anliegen aus, die nicht nur die Altstadt, sondern den gesamten Ballungsraum betrafen. Dazu gehörten der Bevölkerungsrückgang in der historischen Altstadt, die fehlende Instandhaltung der Murazzi – der alten Befestigungsanlagen zur Seeverteidigung –, die zunehmende Vernachlässigung und Aufgabe kleinerer Inseln und das rücksichtslose Ausheben immer tieferer Kanäle, um die Durchfahrt größerer Schiffe zu ermöglichen. All diese Faktoren führten zu der weit verbreiteten Überzeugung, dass ein spezieller gesetzlicher Schutz der Umwelt und der Sozialstruktur der Stadt notwendig sei. Ironischerweise wurde drei Jahre vor der großen Flut mit den Nuove norme relative alle lagune di Venezia e Marano-Grado [dt. Neue Vorschriften in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado] bereits ein solches Gesetz beschlossen, das jedoch nie umgesetzt wurde.15 Erst 1973 hob das Sondergesetz Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs] die herausragende Bedeutung der Stadt Venedig für das nationale öffentliche Interesse hervor und räumte dem italienischen Staat Sonderrechte ein mit Bezug auf den Schutz des Ökosystems der Lagune sowie der Regulierung der Wasserwege und Gezeiten.16 1984 wurde mit dem Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs] ein weiteres Sondergesetz verabschiedet, das die staatliche Planung, Erprobung und Ausführung groß angelegter Instandsetzungsarbeiten zur Erhaltung der Lagune, zur Abwendung des weiteren Zerfallsprozesses und zum Schutz der Siedlungen vor Hochwasser festschrieb.17 Es wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die eine umstrittene Monopolkonzession an das Consorzio Venezia Nuova, ein Konsortium aus 26 Firmen aus dem Bereich des Wasserbaus und des Bauingenieurswesens, erteilte, die ihm wesentliche Planungs-, Steuerungs- und Entscheidungsbefugnisse überantwortete. Dadurch wurde der Magistrato alle Acque, der über Jahrhunderte eine machtvolle planerische und exekutive Instanz war, zu einem administrativen Dienstleister des Konsortiums degradiert. Ein drittes Sondergesetz von 1992 steckte schließlich den rechtlichen Rahmen für Infrastrukturmaßnahmen zur stärkeren Kontrolle der drei Öffnungen der Lagune ins adriatische Meer bei Lido, Malamocco und Chioggia ab, um massiven Überschwemmungen der Lagunenstadt in Zukunft vorzubeugen.18 In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Großprojekt MOSE [Module Sperimentale Elettromeccanico, dt. Experimentelles Elektro-mechanisches Modul] vorangetrieben – ein äußerst kontroverses technisches Vorhaben, das die historische Altstadt mithilfe beweglicher Flutbarrieren an den Mündungen vor Hochwasser schützen soll. Das Sperrwerk, das nur im Falle von Sturmfluten mit einer Hochwassermarke von über 1,10 Meter (acqua alta) zum Einsatz kommt, unterbricht jedoch nicht die Gezeitenströmung in der Lagune, um das Funktionieren des empfindlichen Ökosystems sowie auch das spezielle Abwassersystem der Stadt zu erhalten. Obwohl noch nicht vollständig fertiggestellt, ist MOSE bereits einsatzfähig und hat gezeigt, dass es Venedig erfolgreich vor Hochwasser schützen kann. Sein Erfolg ging allerdings erneut zu Lasten der jahrhundertealten Institution des Magistrato alle Acque, der 2014 infolge mehrerer Korruptions- und Veruntreuungsskandale, an denen mächtige Repräsentant*innen des Komitees und auch der regionalen und nationalen Regierung beteiligt waren, aufgelöst wurde. EPILOG Vor dem Bau des Aquädukts reichte das Regenwasser oft nicht aus, um den Trinkwasserbedarf der Stadt zu stillen. Große Tankschiffe, burchi genannt, mussten zum Festland geschickt werden, um Süßwasser zu laden und nach Venedig zu bringen. Nicht die Frischwasserversorgung, sondern die Abwasserentsorgung stellt heute das Problem dar: In regelmäßigen Abständen werden Klärschiffe gerufen, um Tanks, Sickergruben und Abflussrohre zu reinigen. Der Einsatz von Klärgruben – von denen es schätzungsweise lediglich rund 7.000 in der Stadt gibt – hilft Venedig dabei, die Umweltschäden einzudämmen, die durch das Fehlen eines modernen Abwassersystems auftreten. Aber seit MOSE 2021 den Regelbetrieb aufgenommen hat, kann man sich mit ein bisschen Fantasie ein Szenario vorstellen, in dem nach dem globalen Anstieg des Meeresspiegels die Flutbarrieren immer öfter und länger geschlossen werden müssen – bis sie eines Tages endgültig zu bleiben. Dann würde ­Cornaros utopische Vision wahr und Venedig in ein modernes Tenochtitlán verwandelt werden.19 Dieses tragische Szenario würde Venedig jedoch wortwörtlich zu einer Kloake machen. So wie bei der Realisierung des Aquädukts vor 150 Jahren hätte die öffentliche Verwaltung dann keine andere Wahl, als die gigantische Aufgabe anzugehen, Venedig endlich mit einem modernen Abwassersystem auszustatten. Dieses Unterfangen würde die gelben Schleusentore von MOSE – die fortan die Adria permanent vom „heiligen See“ Venedigs abtrennen würden – in den Status eines neuen „ungewollten Denkmals“20 erheben, der Instandhaltung Venedigs und seiner Lagune gewidmet. 1 Vgl. Élisabeth Crouzet-Pavan: „La conquista e l’organizzazione dello spazio urbano“, in: Giorgio Cracco, Gherardo Ortalli (Hg.): Storia di Venezia, Bd. 2: L’età del Comune, Rom 1995, S. 550 2 Vgl. Salvatore Ciriacono: Building on Water – Venice, Holland and the Con­struction of the European Landscape in Early Modern Times, New York 2006, S. 101 3 Vgl. Manfredo Tafuri: Venice and the Renaissance, Cambridge 1995, S. 139–158 4 Vgl. Manfredo Tafuri: „‚Sapienza di stato‘ e ‚atti mancati‘ – architettura e tecnica urbana nella Venezia del’ 500“, in: Lionello Puppi (Hg.): Architettura e Utopia nella Venezia del Cinquecento, Ausst.-Kat. Palazzo Ducale, Venedig, Mailand 1980, S. 32 5 Vgl. ebd., S. 118 6 Vgl. Girolamo Fracastoro: Lettera di Girolamo Fracastoro sulle lagune di Venezia, 
ora per la prima volta pubblicata ed illustrata, Venedig 1815, S. 9 f. 7 Vgl. Alvise Cornaro: „Trattato di acque“ [1566], in: Roberto Cessi (Hg.): Antichi Scrittori d’idraulica Veneta, Bd. 2, Teil 2: Scritture Sopra La Laguna Di Alvise Cornaro e di Cristoforo Sabbadino, Venedig 1941, S. 60–69 8 Vgl. ebd.; siehe auch David Y. Kim: „Uneasy Reflections – Images of Venice and Tenochtitlan in Benedetto Bordone’s ,Isolario‘“, in: RES – Anthropology and ­Aesthetics 49/50 (Frühling/Herbst 2006), S. 80–91, hier S. 88 9 Vgl. André Corboz: „L’immagine di Venezia nella cultura figurativa del’ 500“, 
in: Puppi 1980 (siehe Anm. 4), S. 63 10 Vgl. Salvatore Ciriacono: „Scrittori d’idraulica e politica delle acque“, in: 
Girolamo Arnaldi, Manlio Pastori Stocchi (Hg.): Storia della cultura veneta – Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, S. 192 11 Vgl. Giovanni Caniato: „La conterminazione della laguna di Venezia“, in: 
Emanuele Armani u. a. (Hg.): I cento cippi di conterminazione lagunare, Venedig 1991, S. 11–52 12 Vgl. Ennio Concina: „Venezia, ‚tra due elementi sospesa‘“, in: ‚Tra due 
elementi sospesa‘ – Venezia, Costruzione di un paesaggio urbano, Venedig 2000, S. 46 13 Vgl. Giorgio Gianighian: „Una cisterna interna d’una casa doppia a Venezia (1555)“, in: Silvia Cipriano, Elena Pettenò (Hg.): Archeologia e tecnica dei pozzi per acqua dalla pre-protostoria all’età moderna, Triest 2011, S. 175 14 Insula S.p.A.: Venezia manutenzione urbana – Insula – 10 anni di lavori per la città, Ponzano Veneto 2007 15 Nuove norme relative alle lagune di Venezia e di Marano-Grado [dt. Neue 
Normen in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado], L. n. 366/1963 16 Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 141/1973 17 Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 798/1984 18 Interventi per la salvaguardia di Venezia e della sua laguna [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs und seiner Lagune], L. n. 139/1992 19 Vgl. Lorenzo Fabian, Ludovico Centis: The Lake of Venice – A Scenario for Venice and its Lagoon, Conegliano 2022 20 Zum Begriff des ungewollten Denkmals vgl. Alois Riegl: Der Moderne Denkmalkultus – Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903, S. 6
Aktualisiert: 2023-06-08
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ZWISCHEN DAUERHAFTIGKEIT UND UTOPIE Venedig schöpft sein Wesen aus seiner Beziehung zum Wasser. Doch diese Beziehung ist nicht konfliktfrei. Die Stadt hat es einer jahrhundertealten Geschichte der technischen Entwicklung und Projektierung zu verdanken, dass die fragile, manchmal auch feindselige und ungesunde Umwelt der Lagune von Venedig heute bewohnbar ist.1 Dabei musste ihr Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung immer wieder mit Fragen des Umweltschutzes in Einklang gebracht werden. Die Lagune von Venedig befindet sich in einer fortwährenden Auseinandersetzung mit ihrer unbeständigen geografischen Beschaffenheit, auf Dauer dazu verurteilt, entweder im Meer zu verschwinden oder zu verlanden und eine Erweiterung des Festlands zu werden. Um dieses Schicksal abzuwenden, haben Menschen seit nunmehr 1.500 Jahren Flussläufe verändert, ganze Landstriche trockengelegt, Wasser gepumpt, Schlamm verfestigt, Deiche, Kanäle, Molen, Dämme und Brücken gebaut. Von ihrem Wesen her in stetiger Veränderung begriffen, stellt die Lagune von Venedig eine unerschöpfliche Aufgabe der Instandhaltung dar: von den großen Anstrengungen der Ingenieursbaukunst der Republik bis zu den vielen kleinen Eingriffen der Fischer*innen, Müller*innen und Landwirt*innen, die seit Jahrhunderten die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen.2 Der Mythos der Natürlichkeit der Lagune hat viele gegensätzliche Vorstellungen von der territorialen Entwicklung der Republik Venedig hervorgebracht. Paradigmatisch dafür steht ein intellektueller Disput im 16. Jahrhundert zwischen dem berühmten Chefingenieur der venezianischen Wasserbehörde Magistrato alle Acque, Cristoforo Sabbadino, und dem wohlhabenden Großgrundbesitzer Alvise Cornaro.3 Sabbadino betrachtete Technologie als eine bewahrende Kraft, ein Werkzeug, um das hydrologische Gleichgewicht in der Lagune zu erhalten. Zu diesem Zweck ersann er Wasserbauprojekte spektakulären Ausmaßes auf dem Festland und sprach sich vehement dafür aus, den Lauf ganzer Flüsse zu verändern, um zu verhindern, dass sich Sedimente ansammeln, die zur Verlandung der Lagune führen könnten. Für Sabbadino war die Lagune Venedigs wichtigste Verteidigungsmauer – und je „unfertiger“ sie erschien, desto sicherer war sie in seinen Augen.4 Der Adlige Cornaro hingegen betrachtete Technologie als eine Kraft der Veränderung. Auf dem Anwesen seiner Familie bei Chioggia am südlichen Ende der Lagune experimentierte er mit Techniken der Landgewinnung, wofür er ohne Genehmigung Deiche anlegte, die später auf Anordnung des Magistrato alle Acque zerstört wurden. In seinem sturen Kampf für die Erhaltung dieser Deiche entwickelte Cornaro allmählich eine utopische Vision einer neuen, verwandelten Lagune mit einem schwimmenden Theater und einem künstlich geschaffenen Berg (vago monticello), der auf neu gewonnenem Land in der Mitte des Markusbeckens direkt gegenüber dem Dogenpalast errichtet werden sollte.5 Cornaros visionäre Idee lehnte sich an überlieferte Darstellungen einer anderen Lagunenstadt aus dem 16. Jahrhundert an: Tenochtitlán, die Hauptstadt des Aztekenreichs, deren beeindruckende Gestalt im 1528 vom venezianischen Kartografen Benedetto Bordone veröffentlichten Inselatlas Isolario abgebildet war.6 Tenochtitlán wurde inmitten des alten Texcoco-Sees errichtet, der später von den spanischen Kolonisatoren trocken­gelegt wurde, um Platz für Mexiko-Stadt zu schaffen. Ähnlich wie in Tenochtitlán und im Gegensatz zu Sabbadinos behutsamem Ansatz im Umgang mit der Lagune schlug Cornaro vor, letztere vollständig mit einem Deich zu umfassen, um das Land klar vom Wasser zu scheiden und lediglich eine der Mündungen offenzulassen, die die Lagune mit dem adriatischen Meer verbindet. Die vom umgebenden Wasser fast gänzlich „abgetrennte“ Lagune wäre – ein in sich geschlossenes Ökosystem – in Cornaros Vorstellung nicht nur gesünder, wohlhabender und besser geschützt, sondern auch schöner.7 Die mögliche Auswirkung ­seiner Vision auf die Beziehung zwischen ­Venedig und dem umgebenden Wasser zeigt sich am deutlichsten in Cornaros Verwendung eines neuen Ausdrucks, der durch Bordones Karte beeinflusst sein dürfte: die Lagune als „heiliger See“.8 Den meisten Venezianer*innen wäre jedoch instinktiv bewusst, dass solch eine Vision der engen ontologischen Beziehung zwischen der Stadt und ihrer Lagune zuwiderlaufen würde; nicht zuletzt, weil Venedig bis heute kein modernes Abwassersystem besitzt. Der Abtransport der Abwässer hängt immer noch stark davon ab, ob das Brackwasser in seinem täglichen Anstieg die gatoli (Abwassersystem aus gemauerten Hohlräumen und Rückhalte­becken unterhalb der Gehsteige) erreicht, um so das Abwasser zuerst in die Kanäle und dann weiter hinaus ins offene Meer zu spülen. ZWISCHEN FIXIERUNG UND TRANSFORMATION Sabbadinos und Cornaros gegensätzliche Visionen sind Ausdruck eines epochalen Wandels im kollektiven Verständnis von Venedig. Bis ins 14. Jahrhundert hinein war das städtische Wachstum Venedigs durch Zyklen der Land­gewinnung geprägt, bei denen die Grenzen der Stadt immer noch als dynamisch, provisorisch und instabil angesehen wurden. Erst zwischen 1530 und 1550 wurde dieser Ansatz infrage gestellt, auch durch die breitere Popularisierung von Bordones einflussreicher Darstellung der Stadt inmitten einer idealisierten, perfekt ovalen Lagune.9 Angefacht durch diese ikonografische Wende setzte sich im 16. Jahrhundert die Idee durch, die Beziehung zwischen der bebauten Fläche und dem Wasser dauerhaft zu fixieren. 1557 konzipierte Sabbadino ein umfassendes Programm zur Erweiterung und Festlegung der Grenzen der Stadt, im Rahmen dessen Stadterneuerungsmaßnahmen wie der Bau der nördlichen Uferbefestigung, der Fondamenta Nuove, in Gang gesetzt wurden. Zu dieser Zeit orientierte sich die Republik Venedig immer weniger Richtung Meer. Hintergrund dieser Entwicklung war der fortschreitende Bedeutungsverlust Venedigs als Seemacht durch die Erschließung neuer Handelsrouten am Ende des 15. Jahrhunderts, etwa die „Entdeckung“ Amerikas 1492 oder des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1498, und der damit verbundene Aufstieg neuer maritimer Mächte in Europa. Auf der Suche nach einem neuen politischen und ökonomischen Gleichgewicht richtete die Stadt ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf das Festland.10 Nach vielen großen wasserbaulichen Eingriffen, die im 17. Jahrhundert ausgeführt wurden – und von denen Sabbadino viele bereits vorgeschlagen hatte –, wähnte man die Lagune in Sicherheit vor den Sedimenten, die einst direkt von den Flüssen angespült wurden. Fortan begegnete die venezianische Regierung jedem Vorstoß einer räumlichen Erweiterung der Stadt mit einer konservativen Haltung, die darauf abzielte, jedwede mögliche Änderung am bestehenden Wasser- und Abwassersystem einzugrenzen. Die Magistrate der Republik befassten sich nunmehr weitgehend mit „einfachen“ technischen Instandhaltungsmaßnahmen. Diese Entwicklung gipfelte in der Festsetzung der Conterminazione Lagunare im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, welche die territorialen Grenzen der Lagune nach außen klar definierte und mit Grenzsteinen bis heute sichtbar markiert. Der definierte Bereich unterlag fortan der Zuständigkeit und administrativen Verwaltung des Magistrato alle Acque, innerhalb dessen die strengen Bestimmungen und Vorschriften zum Schutz der Lagune galten.11 Die administrative Konstruktion einer dauerhaften Stadtgrenze hatte zur Folge, dass von nun an alle planerischen Eingriffe in Venedig nur noch dem Zweck der Erhaltung, Verbesserung oder Anpassung dienen durften.12 Wir können nur spekulieren, wie sich die Magistrate verhalten hätten, wäre die Republik Venedig nicht 1797 in Napoleons Hände gefallen. Es ist allerdings klar, dass die unzulängliche Instandhaltung und der damit verbundene langsame Verfall der Lagune Ende des 18. Jahrhunderts unter französischer und später österreichischer Herrschaft einsetzten, die schlicht nicht über das Umweltbewusstsein und die technische Kultur verfügten, die venezianische Wasserbauingenieure über Jahrhunderte entwickelt hatten. Der tausend Jahre währende Inselstatus Venedigs wurde von den Österreichern 1846 mit der Einweihung der Eisenbahnbrücke über die Lagune abrupt beendet. Auch nach der Annexion Venedigs durch das Königreich Italien im Jahr 1866 verbesserte sich die Situation nicht wesentlich. So wurden unter italienischer Herrschaft viele Kanäle aufgefüllt und große Teile der Stadt abgerissen. Immer deutlicher wurde auch, dass die dauerhafte Notlage in der Wasserversorgung, welche eine Folge der jahrzehntelangen schlechten Instandhaltung der traditionell genutzten Regenwasserzisternen war, angegangen werden musste. 1884 wurde schließlich ein neues Aquädukt eingeweiht, welches nicht nur den jahrhundertealten Durst Venedigs nach Frischwasser löschte, sondern auch die Karriere des eigenwilligen Chefingenieurs der Stadt, Giuseppe Bianco, beendete. Er hatte zwischen 1857 und 1858 die ehrgeizige Unternehmung betrieben, eine detaillierte Erhebung von tausenden privaten und öffentlichen Regenwasserzisternen vorzunehmen. Es heißt, die Vorstellung des Aquädukts und das zeitgleiche Aufgeben der Zisternen hätten die psychische Erkrankung von Bianco so stark verschlimmert, dass er in die psychiatrische Anstalt auf der Insel San Servolo eingeliefert werden musste.13 Die Anekdote liest sich wie eine Warnung, dass jede große Innovation in Venedig unweigerlich der Eigenart und unvergleichlichen Struktur der Stadt Rechnung tragen muss. Heute übernimmt das städtische Unternehmen Insula S.p.A. – zu deren Gründungspartnern die Gemeinde Venedig und deren Versorgungsunternehmen gehören – die Instandhaltung der Stadt in einem umfassenderen Sinn: vom öffentlichen Wohnungsbau über die städtische Mobilitätsinfrastruktur bis hin zur Wartung der Kanäle.14 ZWISCHEN DESASTER UND GESETZGEBUNG Als die norditalienische Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, durchlief das venezianische Festland weitere einschneidende Veränderungen, darunter riesige neue Projekte der Landgewinnung, bei denen sich Cristoforo Sabbadino sicher im Grabe umgedreht hätte. 1920 begannen die Arbeiten für die Errichtung eines ersten Industriegebiets, dessen ursprünglicher Kern heute als Porto Marghera bekannt ist und später mit der Erschließung eines zweiten Industriegebiets erweitert wurde. 1924 wurden 2.300 Hektar der Lagune für die landwirtschaftliche Nutzung aufgefüllt und 1933 eine Autobrücke parallel zur Eisenbahnbrücke eröffnet. Zwischen 1961 und 1969 wurde der Malamocco-Marghera-Kanal, auch unter dem Spitznamen Canale dei Petroli (Erdölkanal) bekannt, in der flachen Lagune ausgehoben, damit große Öltanker von der Mündung des Hafens von Malamocco die Raffinerien im Hafen von Marghera erreichen konnten. Mit dem Aushub wurden zwei künstliche Inseln aufgeschüttet, die für ein weiteres Industriegebiet bestimmt waren, welches jedoch infolge der Ölkrise von 1973 nie realisiert wurde. Die boomende Tourismusindustrie spielte eine wichtige Rolle in diesem neuen Prozess der Landgewinnung: Von 1960 an wurde ein großes Gebiet mit Salzmarschen am nördlichen Ende der Lagune aufgefüllt, um Platz für den nach Marco Polo benannten internationalen Flughafen zu schaffen. Auch das historisch empfindliche Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Lagune als Ökosystem und der traditionellen extensiven Aquakultur – die beide auf die natürliche Migration von Fischen durch die Lagune angewiesen sind – ist durch die wachsende Fischzucht aufgrund der hohen touristischen Nachfrage stark beeinträchtigt worden. (Heute schirmen rund 100 Quadratkilometer geschlossener Rückhaltebecken zur Fischzucht mehr als ein Sechstel der Gesamtfläche der Lagune ab.) Eine Umweltkatastrophe markiert Mitte der 1960er-Jahre das jähe Ende dieser Phase der Transformation mit ihren infrastrukturellen Großprojekten: In der großen Flut von Venedig 1966 versank die Stadt knapp 2 Meter unter Wasser und musste sich ihres desolaten Zustands bitter bewusst werden. Dieses tragische Ereignis löste eine heftige politische und soziale Debatte über eine ganze Reihe von Anliegen aus, die nicht nur die Altstadt, sondern den gesamten Ballungsraum betrafen. Dazu gehörten der Bevölkerungsrückgang in der historischen Altstadt, die fehlende Instandhaltung der Murazzi – der alten Befestigungsanlagen zur Seeverteidigung –, die zunehmende Vernachlässigung und Aufgabe kleinerer Inseln und das rücksichtslose Ausheben immer tieferer Kanäle, um die Durchfahrt größerer Schiffe zu ermöglichen. All diese Faktoren führten zu der weit verbreiteten Überzeugung, dass ein spezieller gesetzlicher Schutz der Umwelt und der Sozialstruktur der Stadt notwendig sei. Ironischerweise wurde drei Jahre vor der großen Flut mit den Nuove norme relative alle lagune di Venezia e Marano-Grado [dt. Neue Vorschriften in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado] bereits ein solches Gesetz beschlossen, das jedoch nie umgesetzt wurde.15 Erst 1973 hob das Sondergesetz Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs] die herausragende Bedeutung der Stadt Venedig für das nationale öffentliche Interesse hervor und räumte dem italienischen Staat Sonderrechte ein mit Bezug auf den Schutz des Ökosystems der Lagune sowie der Regulierung der Wasserwege und Gezeiten.16 1984 wurde mit dem Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs] ein weiteres Sondergesetz verabschiedet, das die staatliche Planung, Erprobung und Ausführung groß angelegter Instandsetzungsarbeiten zur Erhaltung der Lagune, zur Abwendung des weiteren Zerfallsprozesses und zum Schutz der Siedlungen vor Hochwasser festschrieb.17 Es wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die eine umstrittene Monopolkonzession an das Consorzio Venezia Nuova, ein Konsortium aus 26 Firmen aus dem Bereich des Wasserbaus und des Bauingenieurswesens, erteilte, die ihm wesentliche Planungs-, Steuerungs- und Entscheidungsbefugnisse überantwortete. Dadurch wurde der Magistrato alle Acque, der über Jahrhunderte eine machtvolle planerische und exekutive Instanz war, zu einem administrativen Dienstleister des Konsortiums degradiert. Ein drittes Sondergesetz von 1992 steckte schließlich den rechtlichen Rahmen für Infrastrukturmaßnahmen zur stärkeren Kontrolle der drei Öffnungen der Lagune ins adriatische Meer bei Lido, Malamocco und Chioggia ab, um massiven Überschwemmungen der Lagunenstadt in Zukunft vorzubeugen.18 In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Großprojekt MOSE [Module Sperimentale Elettromeccanico, dt. Experimentelles Elektro-mechanisches Modul] vorangetrieben – ein äußerst kontroverses technisches Vorhaben, das die historische Altstadt mithilfe beweglicher Flutbarrieren an den Mündungen vor Hochwasser schützen soll. Das Sperrwerk, das nur im Falle von Sturmfluten mit einer Hochwassermarke von über 1,10 Meter (acqua alta) zum Einsatz kommt, unterbricht jedoch nicht die Gezeitenströmung in der Lagune, um das Funktionieren des empfindlichen Ökosystems sowie auch das spezielle Abwassersystem der Stadt zu erhalten. Obwohl noch nicht vollständig fertiggestellt, ist MOSE bereits einsatzfähig und hat gezeigt, dass es Venedig erfolgreich vor Hochwasser schützen kann. Sein Erfolg ging allerdings erneut zu Lasten der jahrhundertealten Institution des Magistrato alle Acque, der 2014 infolge mehrerer Korruptions- und Veruntreuungsskandale, an denen mächtige Repräsentant*innen des Komitees und auch der regionalen und nationalen Regierung beteiligt waren, aufgelöst wurde. EPILOG Vor dem Bau des Aquädukts reichte das Regenwasser oft nicht aus, um den Trinkwasserbedarf der Stadt zu stillen. Große Tankschiffe, burchi genannt, mussten zum Festland geschickt werden, um Süßwasser zu laden und nach Venedig zu bringen. Nicht die Frischwasserversorgung, sondern die Abwasserentsorgung stellt heute das Problem dar: In regelmäßigen Abständen werden Klärschiffe gerufen, um Tanks, Sickergruben und Abflussrohre zu reinigen. Der Einsatz von Klärgruben – von denen es schätzungsweise lediglich rund 7.000 in der Stadt gibt – hilft Venedig dabei, die Umweltschäden einzudämmen, die durch das Fehlen eines modernen Abwassersystems auftreten. Aber seit MOSE 2021 den Regelbetrieb aufgenommen hat, kann man sich mit ein bisschen Fantasie ein Szenario vorstellen, in dem nach dem globalen Anstieg des Meeresspiegels die Flutbarrieren immer öfter und länger geschlossen werden müssen – bis sie eines Tages endgültig zu bleiben. Dann würde ­Cornaros utopische Vision wahr und Venedig in ein modernes Tenochtitlán verwandelt werden.19 Dieses tragische Szenario würde Venedig jedoch wortwörtlich zu einer Kloake machen. So wie bei der Realisierung des Aquädukts vor 150 Jahren hätte die öffentliche Verwaltung dann keine andere Wahl, als die gigantische Aufgabe anzugehen, Venedig endlich mit einem modernen Abwassersystem auszustatten. Dieses Unterfangen würde die gelben Schleusentore von MOSE – die fortan die Adria permanent vom „heiligen See“ Venedigs abtrennen würden – in den Status eines neuen „ungewollten Denkmals“20 erheben, der Instandhaltung Venedigs und seiner Lagune gewidmet. 1 Vgl. Élisabeth Crouzet-Pavan: „La conquista e l’organizzazione dello spazio urbano“, in: Giorgio Cracco, Gherardo Ortalli (Hg.): Storia di Venezia, Bd. 2: L’età del Comune, Rom 1995, S. 550 2 Vgl. Salvatore Ciriacono: Building on Water – Venice, Holland and the Con­struction of the European Landscape in Early Modern Times, New York 2006, S. 101 3 Vgl. Manfredo Tafuri: Venice and the Renaissance, Cambridge 1995, S. 139–158 4 Vgl. Manfredo Tafuri: „‚Sapienza di stato‘ e ‚atti mancati‘ – architettura e tecnica urbana nella Venezia del’ 500“, in: Lionello Puppi (Hg.): Architettura e Utopia nella Venezia del Cinquecento, Ausst.-Kat. Palazzo Ducale, Venedig, Mailand 1980, S. 32 5 Vgl. ebd., S. 118 6 Vgl. Girolamo Fracastoro: Lettera di Girolamo Fracastoro sulle lagune di Venezia, 
ora per la prima volta pubblicata ed illustrata, Venedig 1815, S. 9 f. 7 Vgl. Alvise Cornaro: „Trattato di acque“ [1566], in: Roberto Cessi (Hg.): Antichi Scrittori d’idraulica Veneta, Bd. 2, Teil 2: Scritture Sopra La Laguna Di Alvise Cornaro e di Cristoforo Sabbadino, Venedig 1941, S. 60–69 8 Vgl. ebd.; siehe auch David Y. Kim: „Uneasy Reflections – Images of Venice and Tenochtitlan in Benedetto Bordone’s ,Isolario‘“, in: RES – Anthropology and ­Aesthetics 49/50 (Frühling/Herbst 2006), S. 80–91, hier S. 88 9 Vgl. André Corboz: „L’immagine di Venezia nella cultura figurativa del’ 500“, 
in: Puppi 1980 (siehe Anm. 4), S. 63 10 Vgl. Salvatore Ciriacono: „Scrittori d’idraulica e politica delle acque“, in: 
Girolamo Arnaldi, Manlio Pastori Stocchi (Hg.): Storia della cultura veneta – Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, S. 192 11 Vgl. Giovanni Caniato: „La conterminazione della laguna di Venezia“, in: 
Emanuele Armani u. a. (Hg.): I cento cippi di conterminazione lagunare, Venedig 1991, S. 11–52 12 Vgl. Ennio Concina: „Venezia, ‚tra due elementi sospesa‘“, in: ‚Tra due 
elementi sospesa‘ – Venezia, Costruzione di un paesaggio urbano, Venedig 2000, S. 46 13 Vgl. Giorgio Gianighian: „Una cisterna interna d’una casa doppia a Venezia (1555)“, in: Silvia Cipriano, Elena Pettenò (Hg.): Archeologia e tecnica dei pozzi per acqua dalla pre-protostoria all’età moderna, Triest 2011, S. 175 14 Insula S.p.A.: Venezia manutenzione urbana – Insula – 10 anni di lavori per la città, Ponzano Veneto 2007 15 Nuove norme relative alle lagune di Venezia e di Marano-Grado [dt. Neue 
Normen in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado], L. n. 366/1963 16 Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 141/1973 17 Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 798/1984 18 Interventi per la salvaguardia di Venezia e della sua laguna [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs und seiner Lagune], L. n. 139/1992 19 Vgl. Lorenzo Fabian, Ludovico Centis: The Lake of Venice – A Scenario for Venice and its Lagoon, Conegliano 2022 20 Zum Begriff des ungewollten Denkmals vgl. Alois Riegl: Der Moderne Denkmalkultus – Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903, S. 6
Aktualisiert: 2023-05-31
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Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet
OPEN FOR MAINTENANCE –WEGEN UMBAUGEÖFFNET Open for Maintenance ist keine Ausstellung. Es ist ein Handlungsansatz für eine Baukultur jenseits der vorherrschenden Ausbeutung von Ressourcen und Menschen. Im Fokus stehen gebrauchte Materialien von über 40 verschiedenen ­Länderpavillons der Kunstbiennale 2022 sowie ein breites Netzwerk venezianischer und deutscher Initiativen. Durch den behutsamen Umgang mit dem, was bereits materiell, sozial und urban vorhanden ist, macht der Deutsche Pavillon Prozesse der räumlichen und sozialen Sorgearbeit sichtbar, die normalerweise dem Blick der Öffentlichkeit entzogen sind. Open for Maintenance ist eine Instandbesetzung des Deutschen Pavillons „as found“, das heißt samt der Arbeit Relocating a Structure der Künstlerin Maria Eichhorn für die Kunstbiennale 2022. Kunst- und Architekturbiennale werden auf diese Weise erstmals räumlich und programmatisch miteinander verwoben. Die neuen baulichen Eingriffe orientieren sich an lokalen Bedarfen und umfassen eine inklusive Rampe, einen ökologischen und diskriminierungsfreien Sanitärraum, einen Versammlungsraum, eine Tee­küche, ein ­Materialdepot und eine Werkstatt. Die Interventionen bestehen aus dem gesammelten Material der Kunstbiennale 2022 und greifen neben der Ressourcenfrage auch Themen der gesellschaftlichen und räumlichen Inklusion auf. Open for Maintenance verwandelt den repräsentativen Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Gruppen werden von hier aus Studierende und Auszubildende des Handwerks im Rahmen des sechsmonatigen Werkstatt-Programms ­Maintenance 1:1 soziale Infrastrukturen in Venedig pflegen, reparieren und instand(be)setzen. Das Entwerfen mit dem Unplanbaren in materieller und partizipativer Hinsicht eröffnet optimistische Gestaltungsmöglichkeiten für die ­Architektur und trägt zugleich zu ihrer Erneuerung als ­soziale Praxis bei. DIE RAMPE
In Kooperation mit FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER + Goethe-Institut / Performing Architecture, Rebiennale / R3B 1938 baute der Architekt Ernst Haiger den 1909 errichteten Bayerischen Pavillon entsprechend der NS-Ideologie zu einer Monumentalarchitektur um. Seitdem prägen vier mächtige, kannelierte Pfeiler in der dorischen Ordnung den Portikus, den man über fünf Stufen betritt. Der Bau ist Träger einer Architekturideologie, die von Überlegenheit, Herrschafts- und Machtanspruch kündet. Alle, die nicht der Norm entsprechen, sind ausgeschlossen. Dies ist nicht nur politisch und kulturell gemeint, sondern auch ganz physisch: Der hier angewendete Klassizismus hat sich immer schon den gesunden – im National­sozialismus am rassistischen Idealbild orientierten – Körper zum Maßstab genommen. Andere Formen der Körperlichkeit wurden negiert. Open for Maintenance versteht die Reparatur bestehender Bausubstanz auch als Möglichkeit einer baulichen und ideologischen Korrektur, die die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen sowie ableistisch diskriminierter Körper ins Zentrum rückt. Die temporäre Umgestaltung der Eingangssituation des Deutschen Pavillons mit einer halbkreisförmigen Erschließungsrampe erleichtert sowohl Besucher*innen mit Mobilitätseinschränkungen als auch Reinigungskräften, Aufsichten und Handwerker*innen mit schwerem Gerät den Zugang. Die inklusive Rampe umschließt ein neues öffentliches Podium, das zur Eröffnung von der mixed-able FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER in Kooperation mit dem Programm-Partner Goethe-Institut aktiviert wird. DAS MATERIAL­DEPOT
In Kooperation mit Rebiennale / R3B, Concular Nach jeder Biennale werden, verborgen vor den Augen der Besucher*innen, tonnenweise Ausstellungsmaterialien mühsam von Hand, per Sackkarre und Boot durch Venedig bewegt. Nur ein Bruchteil davon wird weitergenutzt. Nicht zuletzt wegen nicht vorhandener Lagerflächen und hoher Logistikkosten – ein bekanntes Problem des zirkulären Bauens – landet das meiste Abbruchmaterial auf Müllhalden oder dem Wertstoffhof. Hier setzt der Beitrag Open for Maintenance an: Die Übernahme von Maria Eichhorns Arbeit Relocating a Structure für die Kunstbiennale 2022 direkt nach der Finissage ermöglichte den sofortigen Zugang und die Nutzung des ­Deutschen Pavillons als Materialdepot. Mit großem körperlichen Einsatz konnte in Kooperation mit Rebiennale / R3B Material aus über 40 verschiedenen Länderpavillons und Ausstellungen gerettet werden. Diese ­„Spolien“ der vorangegangenen Biennale werden Teil der baulichen Eingriffe im ­Deutschen Pavillon, die vollständig aus den gesammelten Resten umgesetzt sind. Mithilfe einer neu­geschaffenen digitalen Datenbank, die in Kooperation mit Concular entsteht, werden die inventarisierten Materialien während der Laufzeit der Architekturbiennale im Rahmen des Werk­statt-Programms ­Maintenance 1:1 für die Weiterverarbeitung verfügbar gemacht. DIE WERKSTATT In Kooperation mit Sto-Stiftung, AIT-Dialog, Rebiennale / R3B, Hochschulen, Ausbildungsbetrieben Die profitgetriebene Architekturproduktion ist auf Neubau statt Reparatur, auf Wachstum statt auf Erhalt ausgerichtet. Sie steht in krassem Widerspruch zu dem, was angesichts aktueller Krisen ökologisch und gesellschaftlich geboten ist. Reparatur – des Systems und der Bausub­stanz – wird somit zur unumgänglichen politischen und entwerferischen Praxis. Bereits heute sind mehr als 50 Prozent der euro­päischen Architekturprojekte Umbau- und Sanierungsmaßnahmen. In Zukunft wird das Machen von Architektur vor allem Reparieren bedeuten. Doch Reparatur bedarf des Wissens, der Werkzeuge und Fähigkeiten, die in einer voll ausgestatteten, allen Besucher*innen offenstehenden Werkstatt im Deutschen Pavillon bereitgestellt werden. Im Mittelpunkt steht die Ermächtigung der Menschen, damit sie ihre (gebaute) Umwelt instand halten können. Ein Werkstatt-Programm mit internationalen Initiativen, Universitäten und Ausbildungsstätten schafft den Sprung in die Praxis und über die Grenzen der Biennale hinaus: In kollaborativen Projekten werden kleinere Reparaturarbeiten in und um Venedig durchgeführt. Anhand konkreter Eingriffe lernen die Beteiligten, dass in der Reproduktion des Raums die soziale Frage untrennbar mit der ökologischen verknüpft ist. DER WASCHRAUM In Kooperation mit Arbeitsgruppe Sanitärwende ­(Eawag, finizio – Future Sanitation, KanTe – Kollektiv für angepasste Technik, klo:lektiv, IGZ – Leibniz-­Institut für Gemüse- und Zier­pflanzen­bau, urin*all u. a.), Agriluska, IDRO Group Um den Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion verwandeln und vor Ort arbeiten zu können, wird die bisher fehlende Sanitärinfrastruktur in den Pavillon integriert. Über diesen pragmatischen Ansatz hinaus setzt der neue Waschraum zentrale Themen einer „sanitären Wende“ um: Auf ökologischer Ebene ist ein wasserbasiertes Sanitärnetz angesichts der zunehmenden Dürre­perioden nicht länger tragbar. Besonders in Venedig, wo keine Kanalisation existiert und Fäkalien in den meisten Fällen ungeklärt in die Lagune gespült werden (lediglich ein kleiner Anteil der Gebäude verfügen über Klärgruben), bedarf es alternativer Lösungen, die den Wasserverbrauch drastisch reduzieren und den Stoffkreislauf schließen. Open for Maintenance setzt einen barrierefreien Prototyp für wasserlose Toiletten sowie ein Unisex-Urinal in Verbindung mit einem Urin-Reaktor ein. In Zusammenarbeit mit dem biologischen Landwirtschaftsbetrieb Agriluska im Veneto werden die Abfälle kompostiert und anschließend als Dünger verwendet (die Flüssigstoffe werden direkt im Reaktor zu Dünger verarbeitet). Auf gesellschaftspolitischer Ebene geht es im Zusammenhang mit einer solchen elementaren Bedürfnisbefriedigung wie dem Toilettengang, der Körperpflege sowie den zugehörigen Infrastrukturen der Instandhaltung und Reinigung jedoch auch um Fragen der Gerechtigkeit hinsichtlich Gender, Be_hinderung, Race und Klasse. Durch eingebaute Vorrichtungen zum Wickeln, Waschen und Reinigen wird Sorgearbeit näher thematisiert. DIE TEEKÜCHE In Kooperation mit Assemblea Sociale per La Casa, Centro Sociale Rivolta, ConstructLab, Haus der Materialisierung, Institute of Radical Imagination + S.a.L.E. Docks, Kotti & Co, Laboratorio Occupato Morion, Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco Maintenance ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen spielen bei Erhalt und Pflege baulicher und sozialer Infrastrukturen eine wesentliche Rolle. Um sich auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen und zu organisieren, ist ein niedrigschwelliges Angebot an Orten der Kommunikation und der kollektiven Fürsorge von entscheidender Bedeutung. Die Teeküche von Open for Maintenance übernimmt die Rolle einer solchen kommunikativen Schaltzentrale. Hier wird das breite zivilgesellschaftliche Netzwerk des Projekts mit all seinen ökologischen, stadtpolitischen und sozialen Forderungen gespiegelt. Anhand von Plakaten, Flugblättern und weiteren gesammelten Kommunikationsmitteln von Initiativen aus Venedig und Deutschland wie Assemblea Sociale per la Casa, Centro Sociale Rivolta, Laboratorio Occupato Morion oder Institute of Radical ­Imagination sowie Bellevue di Monaco, Haus der Materialisierung und Kotti & Co werden die sozialen Kämpfe um das Recht auf Stadt und das Recht auf Wohnen im Original wiedergegeben und gebündelt. DER VERSAMMLUNGS­RAUM In Kooperation mit Haus der Materialisierung, Crclr Haus (Concular, Die Zusammenarbeiter, Impact Hub Berlin, LXSY Architekten, TRNSFRM) Open for Maintenance vermittelt keine überraschende Erkenntnis: Es ist weithin bekannt, dass der Bausektor mehr als 40 Prozent zur globalen CO2-Emission beiträgt; dass Wohnraum in urbanen Ballungsräumen zunehmend unbezahlbar wird, auch aufgrund der Touristifizierung, die im Falle Venedigs gerade durch die Biennale weiter verschärft wird; dass die sozialen und ökologischen Folgen dieser Entwicklungen jene ohnehin vulnerablen und marginalisierten Gruppen zu spüren bekommen, die auf der ganzen Welt (räumliche) Sorge­arbeit leisten, den Bestand pflegen und instand halten. Es ist entscheidend, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Die aktuellen Krisen der Architektur sind nur durch neue Formen des Zusammen­arbeitens von Architekt*innen, Handwerker*innen, Ingenieur*innen, Künstler*innen, Forscher*innen und der Zivilgesellschaft lösbar. Der Versammlungsraum im Deutschen Pavillon schafft ein Angebot für diesen Austausch. Hier können aber auch Besucher*innen das Gesehene und Erfahrene spielerisch reflektieren: indem sie aus Restmaterialien der Kunstbiennale nach Schnittmustern von Haus der Materialisierung eine Tragehilfe produzieren oder anhand des von LXSY ­Architekten gemeinsam mit Impact Hub ­Berlin und ­Concular entwickelten Brettspiels Trivial Circuit die komplexe Neuordnung des Planungsprozesses beim zirkulären Bauen nachvollziehen, die die herkömmlichen Leistungsphasen hinterfragt und ökologische und soziale Aspekte in den Mittelpunkt stellt. Der Deutsche Pavillon macht mit dem Medium der Architektur die Maintenance-Arbeit an der Disziplin sowie am baulichen und sozialen Bestand erfahrbar. Die positive Bezugnahme auf den Begriff der ­Maintenance im Titel stellt sich in die Tradition einer feministischen Kunstpraxis, die den Stellenwert der alltäglich ausgeübten reproduktiven Sorge­arbeiten für den Erhalt von Gesellschaften betont. Das kuratorische Konzept übersetzt den Begriff der Maintenance im Sinne architektonischer Praxen des Pflegens, ­Reparierens und Instand(be)-setzens, die stets von den bestehenden materiellen und sozialen Netzwerken ausgehen und in ihrer Wartung, Ertüch­tigung und Transformation auf eine Wiederaneignung beziehungsweise Verstetigung ­dieser Strukturen zielen. Der Beitrag bezieht sich bewusst auf Venedig als Austragungsort der Biennale, um an diesem Fallbeispiel die Notwendigkeit eines „doppelten Bewusstseins“ in der Architektur, wie Lesley Lokko es in ihrem Konzept The ­Laboratory of the Future für die 18. Architekturbiennale gefordert hat, zu demonstrieren: Die Architektur muss stets die konkreten Problemlagen vor Ort und deren globale Zusammenhänge im Blick haben. Ein konkretes Beispiel: Die Bevölkerungszahl Venedigs nimmt stetig ab. Viele Menschen können sich das Leben in der Lagunenstadt nicht mehr leisten. Das Problem der Verdrängung hängt mit der Kommerzialisierung des städtischen Raums durch Massentourismus, Biennalen und Event-Industrie zusammen. Zunehmend verschwinden mit dem Alltagsleben auch gemeinwohlorientierte Netzwerke der sozialen und materiellen Maintenance aus der Stadt. Gleichzeitig bilden sich aufgrund dieser Missstände eine Vielzahl an Initiativen, die sich der Probleme tatkräftig annehmen, etwa die Assemblea Sociale per la Casa (ASC), die die Praxis der Instandbesetzung aktualisiert. Denn trotz der Verdrängungseffekte stehen in Venedig über 2.200 Wohnungen der öffentlichen Hand leer und verfallen. Die ASC besetzt solche Wohnungen und setzt sie mit gebrauchtem Material der Biennalen instand, um sie anschließend an bedürftige Familien und Wohnungssuchende zu vergeben. Sie erhält damit die urbane Struktur und stabilisiert das soziale Gefüge. Damit steht sie in der Tradition der historischen Instandbesetzungen, wie wir sie etwa aus den 1980er-Jahren aus Berlin kennen. Diese Praxis, die sich im Rahmen der IBA Alt im Programm der behutsamen Stadterneuerung offiziell verstetigte, hat wesentlich zum Erhalt der historischen Bausubstanz und der gewachsenen Gemeinschaften beigetragen. Ansässigen Initiativen wie der ASC dient der Deutsche Pavillon als eine solidarische Plattform. Die gemeinschaftlichen Interventionen im Pavillon und im städtischen Raum sind dabei nicht lediglich als Kritik an den Biennalen als Format und der Architektur als Disziplin gemeint. Vielmehr legt der praxisbezogene Ansatz die Vielzahl an möglichen Handlungsoptionen zu Umbau und Gestaltung einer inklusiven und sozialökologisch nachhaltigen Stadt und Architektur offen und betont dabei die Chancen und Potentiale der anstehenden Aufgaben. Die Freude, sich mit Gleichgesinnten an diesen abzuarbeiten, steht im Zentrum des deutschen Beitrags für die Architekturbiennale 2023. DANKSAGUNG Der deutsche Beitrag für die 18. Architekturbiennale hat sich zu einem internationalen Projekt mit über 100 Beteiligten entwickelt. Ohne ihr Vertrauen und ihren Einsatz wäre Open for Maintenance nicht möglich gewesen. Dafür möchten wir uns bei allen bedanken, die sich engagiert und das Projekt unterstützt haben. Es sind zu viele, um einzelne hier hervorzuheben, die ausführlichen Nennungen und Danksagungen finden sich am Ende des Heftes. Doch ohne die fantastischen ­ Teams von ARCH+, ­SUMMACUMFEMMER und BÜRO ­JULIANE GREB hätten wir das Projekt nicht umsetzen können: Elke ­Doppelbauer, Nora ­Dünser, ­Mirko Gatti, Anna Hugot, Sascha Kellermann, Beatrice Koch, ­Daniel ­Kuhnert, Arno ­Löbbecke, Victor Lortie, Vittorio ­Romieri, Barbara Schindler und Finn Steffens. Ihnen gebührt unser besonderer Dank. Text: Anne Femmer, Franziska Gödicke, Juliane Greb, Christian Hiller, Petter Krag, ­Melissa Makele, Anh-Linh Ngo, Florian Summa
Aktualisiert: 2023-05-30
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Unternehmen Architektur

Unternehmen Architektur
Arbeit Text: Peggy Deamer Laut einer Umfrage der deutschen Bundesarchitektenkammer betrug das Gesamt-Brutto-Jahresgehalt in Architektur- und Planungsbüros angestellter Kammermitglieder im Jahr 2021 im Durchschnitt 58.986 €, der Median lag bei 53.000 €. Bei weniger als 10 Jahren Berufserfahrung lag der Median bei 48.000 €. Knapp ein Drittel der Architekt*innen in Architektur- und Planungsbüros in Deutschland ist in Büros mit weniger als 10 Personen angestellt. Insbesondere Frauen sind häufiger in kleinen Büros angestellt. In großen Büros mit 50 und mehr Beschäftigten arbeiten gerade einmal 23 % der Architekt*innen. 47 % der europäischen Architekt*innen sind Partner*innen, Geschäftsführer*innen oder alleinige Inhaber*innen ihrer Büros. Prolog: Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Eine junge Zuhörerin hat vor kurzem auf einem Symposium die angesehenen Podiumsgäste gefragt, was sie von einem beruflichen Werdegang im Bereich Architektur erwarten könne. Einer der Teilnehmenden gab die inbrünstige Antwort: „Architektur ist kein Beruf. Sie ist eine Berufung!“ Diese Antwort zeugt von einer Selbsttäuschung und zeigt die ideologische Falle auf, in die Architekt*innen immer wieder tappen: Wir glauben gar nicht, dass wir arbeiten. Wir gehen ins Büro, wir bekommen ein Gehalt, sind aber der Meinung, dass das, was wir produzieren – nämlich Entwürfe –, mehr ist als ein Produkt oder eine Dienstleistung. Zwar erschaffen wir ein Objekt (ein ziemlich großes sogar), aber wir mögen die Vorstellung nicht, dass wir eine „Ware“ herstellen. Wir vergleichen uns mit Ärzt*innen und Rechtsanwält*innen, glauben aber, dass unsere Arbeit zu kreativ und kulturell zu bedeutsam ist, um unter „Dienstleistung“ eingeordnet zu werden. Folglich können wir unsere Arbeit nicht als Arbeit begreifen. Wenn man bedenkt, dass die meisten Beschäftigten im Architektursektor für durchschnittlich 55.000 Dollar im Jahr 70 Stunden in der Woche arbeiten sollen, dann sind das 15 Dollar pro Stunde, also ungefähr so viel wie meine Tochter fürs Babysitten bekommt und auch nicht mehr als ein Fabrikarbeiter verdient.1 Im Vergleich zu Dienstleistungsberufen beträgt das Einstiegsgehalt bei Architekt*innen – mit einer vergleichbaren Ausbildungsdauer an einer der Spitzenhochschulen wie Yale – weniger als ein Drittel des Gehalts von Anwält*innen und Ärzt*innen. Nach sechs Jahren schließt sich die Lücke etwas, liegt aber immer noch lediglich bei knapp über 45 Prozent.2 Der Grund, warum sich Architekt*innen in dieser Situation wiederfinden, liegt nicht nur in der Unfähigkeit, ihre Arbeit als Arbeit zu erkennen, sondern auch in der lächerlichen Vorstellung vom Entwerfen, die von der eigentlichen Arbeit abgekoppelt ist. Architekt*innen gestalten, Bauunternehmer*innen bauen; wir machen Kunst, sie arbeiten. Diese Aufteilung, im konzeptuellen, aber auch vertraglichen Sinne, verhindert nicht nur, dass Architekt*innen die oben beschriebenen finanziellen und monetären Vorteile der anderen Branchen erhalten, sie nimmt ihnen auch ihre gesellschaftliche Relevanz und ihre persönliche Zufriedenheit. Die Ähnlichkeit zwischen Architektur und McDonald’s als margenschwachen Branchen ist nicht von der Hand zu weisen. Wie oft haben wir schon die Rechtfertigung des unterbezahlten Beschäftigten gehört: „Wie kann ich mehr Geld verlangen, wenn ich weiß, dass der/die Chef*in auch schlecht bezahlt wird?“3 Wenn wir Entwerfen getrennt von Arbeit betrachten, kommt uns unsere gesellschaftliche Relevanz abhanden, da wir uns nicht als Teil der Arbeiter*innenklasse begreifen. Wenn wir über Mindestlöhne diskutieren, über Streiks von nicht gewerkschaftlich organisierten Lebensmitteldienstleistern lesen, oder wenn wir Entwürfe produzieren, die unter menschenunwürdigen Bedingungen von Arbeiter*innen in Asien und dem Nahen Osten gebaut werden, dann scheint uns all das nichts anzugehen. Mehr noch, Marx hat deutlich gemacht, dass Arbeit eine soziale Frage ist, nicht nur weil sie die Arbeitenden verbindet, sondern auch, weil sie jeden Aspekt unseres privaten Umfelds und unserer psychischen Innenwelt durchdringt. Wie lässt sich verhindern, dass Kunst und Kreativität von den Themen Arbeit/Lohnarbeit, Wert und Geld getrennt werden? Und warum ist die Vorstellung so weit verbreitet, dass Arbeit grundsätzlich keinen Spaß macht, nicht kreativ und ästhetisch ist? Theoretiker*innen, und zwar sowohl jene mit utopischen als auch jene mit pragmatischen Ideen, die den kreativen Charakter von Arbeit verfechten, können uns befreiende Sichtweisen auf neu strukturierte Konzeptionen und Formulierungen von Arbeit eröffnen. Die Implikationen für die Architektur sind hier von wesentlicher Bedeutung. Teil I: Kunst als Arbeit/Lohnarbeit „Ich war schon immer der Überzeugung, dass Kunst eine Lohnarbeit ist, die eine angemessene Vergütung verdient. Es ist oft schwierig, dies auf allen Ebenen des Kunstsystems geltend zu machen. Ich bin mir sicher, dass alle Beteiligten darin übereinstimmen, dass Kunst einen ‚Wert‘ hat, aber wenn es um deren Vergütung geht, wird die Sache diffus. Ich finde die Annahme problematisch, dass Kunst zu produzieren an sich lohnenswert ist und keine Vergütung braucht.“4 (Christine Hill) Während die Ästhetik dazu tendiert, sich von Fragen der Arbeit zu distanzieren, sind beide – Ästhetik und Arbeit – doch historisch miteinander verflochten. Arbeit als Begriff, der sich vom Prinzip der Lehenspflicht unterschied, kristallisierte sich im späten 15. Jahrhundert mit jenen Handwerkern heraus, die Waren für den Handel bereitstellten. Der Umstand, dass diese Waren aus „freier Arbeit“ stammten, erlaubte es, ihnen einen Tauschwert zuzuschreiben.5 Obwohl die handwerkliche Arbeit nicht von Arbeitern im Auftrag der Arbeitgeber geleistet bzw. zwischen unabhängigen Händlern getauscht wurde, war sie doch von zentraler Bedeutung für das merkantile System, den Vorboten des Kapitalismus.6 Als durch die Industrialisierung der Einfluss der Zünfte auf die „freien“ Handwerker abbrach, wurden diese zu autonomen Arbeitern; gleichzeitig wurde ihre Arbeit, wie alle Arbeit, als Arbeitskraft tauschbar. Mit dieser Veränderung entstand die Unterscheidung zwischen Künstlern und Handwerkern, da Handwerker nun am Fließband standen. Für Marx besaß die Kunst als geistige Produktion das Potential, der kapitalistischen Besitzergreifung von Arbeit zu entgehen. Demnach sind wir alle potentiell Künstler*innen, da der Begriff „Künstler“ nur in Gesellschaften existiert, die durch Arbeitsteilung definiert und strukturiert sind. „In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen“, schreibt Marx.7 In einer idealen Gesellschaft, „wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann“, ist es möglich „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“8 Die künstlerische Arbeit ist jedoch nach Marx nicht frei, wenn sie dem Kapitalismus in die Hände spielt. „Ein Schriftsteller ist ein produktiver Arbeiter, nicht insofern er Ideen produziert, sondern insofern er den Buchhändler bereichert, der den Verlag seiner Schriften betreibt, oder sofern er der Lohnarbeiter eines Kapitalisten ist.“9 Auch wenn Marx die kapitalistische Umklammerung der Tätigkeiten sicherlich nicht gutheißt, verweist er doch auf deren Unvermeidbarkeit. Im frühen 20. Jahrhundert gingen die russischen Konstruktivisten mit ihrer Behauptung, dass Kunst Arbeit sei, noch einen Schritt weiter. Angesichts der politischen Atmosphäre versuchten sie auf überzeugende Weise darzulegen, dass die Kunst proletarisch und nicht bürgerlich sei, indem sie deren Verwandtschaft mit der Produktion hervorhoben. Wladimir Majakowski hat 1928 in der Zeitschrift Contemporary Architecture die für die Dichtung erforderlichen Voraussetzungen aufgelistet. An erster Stelle findet sich der Kommentar: „Dichten ist eine Produktion. Ungemein schwer, ungemein kompliziert, aber eine Produktion.“ Später fügt er hinzu: „Nur die Produktionstheorie der Kunst wird den Zerfall, die Grundsatzlosigkeit des Geschmacks, den Individualismus des Urteils beseitigen. Nur die Produktionstheorie wird den verschiedenen Arten der literarischen Arbeit die richtige Stelle zuweisen: dem Gedicht wie der Mitteilung des Arbeiterkorrespondenten. Sie wird an Stelle mystischer Erörterungen über ein poetisches Thema die Möglichkeit geben, exakt an die reifgewordene Frage nach der dichterischen Entlohnung und Bewertung heranzugehen.“10 Ebenso, wenn auch früher, schrieb Alexander Malinowski, alias Bogdanow: „Kreatives Schaffen, ob technologisch, sozio-ökonomisch, politisch, häuslich, wissenschaftlich oder künstlerisch, ist eine Form von Arbeit […], deren Produkt nicht ein repetitives, vorgefertigtes Stereotyp ist, sondern etwas ‚Neues‘. Es gibt keine und kann keine strikte Abgrenzung zwischen kreativem Schaffen und gewöhnlicher Arbeit geben; nicht nur gibt es auf allen Ebenen ein Wechselspiel, es ist oft auch unmöglich zu sagen, welche der beiden Bezeichnungen zutreffender wäre […].“11 Diese inspirierenden Äußerungen verdanken sich zwar einer erzwungenen konformistischen Haltung zum Kommunismus, dennoch zeugen sie auch von der Bereitschaft, Kunst nicht nur als Arbeit zu betrachten, sondern ihre Koexistenz in einem durch Arbeit definierten sozialen Gefüge anzuerkennen. Die deutschen Marxisten jener Zeit, obwohl sie im Gegensatz zu den Russen den Sozialismus aus der Außenperspektive betrachteten, teilten diese Überzeugung. Einige Mitglieder der Frankfurter Schule, darunter vor allem Walter Benjamin, griffen die Idee auf, dass die Arbeit als Modell für die Kunst dienen könnte. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) verknüpft Benjamin geistige und künstlerische mit materieller und technischer Produktion. Damit folgte er Bertolt Brechts Anweisungen für ein episches Theater, das die Unterscheidung von Autor*innen und Darsteller*innen, Darsteller*innen und Bühnenarbeiter*innen sowie Darsteller*innen/Bühnenarbeiter*innen und Publikum aufhebt, da alle als kreativ Arbeitende betrachtet werden. In einigen künstlerischen Praktiken in den späten 1960er- und 1970er-Jahren wurde, wie auch bei den Konstruktivisten, das Eindringen des Arbeitsbegriffs in die künstlerische Praxis diskutiert. Um der Erschöpfung des Kunstbegriffs entgegenzuwirken, inszenierte die Artist Placement Group (APG) sogenannte „Placements“, die gleichermaßen Performance und finanzielle Verhandlung waren.12 Sie sorgte dafür, dass die Kunst nicht von Wertesystemen, Arbeit und sozialem Wandel abgekoppelt wurde, indem sie Gewerkschaftsvertreter*innen in ihrem „Vorstand“ oder ihre Künstler*innen in Industriebetrieben und öffentlichen Institutionen unterbrachte, damit diese sich vor Ort an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beteiligen konnten. In der gleichen Tradition steht der etwas später durch den französischen Kunstkritiker Nicolas Bourriaud geprägte Begriff der Relationalen Ästhetik, mit der eine bestimmte Entwicklung in der Kunst der 1990er-Jahre beschrieben wird und die sich für eine Kunst einsetzt, die, „sich als redaktionelles Instrumentarium versteht, mit dem soziale Formen verändert, umstrukturiert und in ursprüngliche Szenarien integriert werden, wobei das Narrativ, auf dem ihre illusorische Legitimität begründet wurde, dekonstruiert wird. Der Künstler überschreibt bestehende Programme mit neuen und schlägt andere Verwendungsmöglichkeiten für die uns zur Verfügung stehenden Techniken, Werkzeuge und Räume vor.“13 In ihrer 1996 eröffneten Volksboutique in Berlin betrieb Christine Hill, die mit der Relationalen Ästhetik in Verbindung gebracht wird und die „immer der Überzeugung war, dass Kunst Arbeit ist und eine angemessene Entlohnung verdient“14, einen Secondhandladen, in dem sie in der Doppelrolle als Künstlerin und Verkäuferin Tee servierte, Secondhandkleidung verkaufte und Diskussionen anstieß. Als sie das Projekt 1997 für die documenta X in Kassel einrichtete, übertrug sie die Rolle der Verkäuferin im Secondhandladen auf Stellvertreterinnen. In einem anderen Fall kochte und servierte Rirkrit Tiravanija den Besucher*innen seiner Ausstellung Untitled 2002 Essen – das Werk wurde vom Guggenheim Museum mit Unterstützung von American Express angekauft, dessen PR-Abteilung die Programmgestaltung übernahm und nachfolgende Projekte und Veranstaltungen konzipierte.15 Bourriauds Relationale Ästhetik wurde von Künstler*innen, die außerhalb des Systems von Museen und Galerien arbeiteten, für ihre pseudo-soziale Beschäftigung mit einem exklusiven Publikum kritisiert. Dennoch agierten die künstlerischen Vertreter*innen der Relationalen Ästhetik in dem vollen Vertrauen, dass ihre Arbeit innerhalb eines Wertesystems funktionierte, mit dem gespielt werden konnte. Eine andere Sichtweise auf diese Beziehung zwischen Wert und Kunst vertrat der französische Philosoph Jacques Rancière. Rancière betonte, dass Arbeit durch die Logik der Kunst geprägt sei und nicht umgekehrt. In Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (2006) schreibt er, dass das „ästhetische Regime“ der Kunst (im Gegensatz zum trivialeren „ethischen Regime“ oder „poetischen Regime“) mit seiner „Formalität“ und „Sinnlichkeit“ unsere politischen Identitäten und damit auch unsere Haltung zur Arbeit prägt.16 In Die Nacht der Proletarier (1981) vertritt Rancière die Ansicht, dass die Arbeiter in der Französischen Revolution von 1830 nicht gegen ihre harten Lebensbedingungen kämpften, sondern gegen die Begrenztheit ihres Lebens. Anstatt sich nachts für die Arbeit am nächsten Tag zu erholen, lasen sie die Werke von Dichtern und Schriftstellern, die wiederum ihre Nächte damit verbrachten, eine Sprache der Befreiung zu erschaffen. Nachdem sie sich diese Sprache angeeignet hatten und dieses andere Leben lebten, verfügten die Arbeiter über die für eine Rebellion erforderlichen Strategien. Die künstlerische Praxis „antizipiert die Arbeit, weil sie deren Prinzip verwirklicht, nämlich die Umwandlung der sinnlichen Materie in die Selbstdarstellung der Gemeinschaft“.17 Unabhängig davon, ob die Kunst ihrer Verbindung zur Arbeit vorausgeht oder ihr folgt, haben Künstler*innen und Ästhetiker*innen in der Vergangenheit den schmalen Grat dazwischen immer wieder erkundet. Warum ist das an der Architektur vorbeigegangen? Teil II: Arbeit als Kunst/Spiel „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“18 (Karl Marx) So wie die Auffassung von Kunst als Arbeit nahelegt, dass die Architektur als Berufsstand den „Wert der Arbeit“ berücksichtigen sollte, sollte auch die Tradition, die menschliche Arbeit als inhärent einfallsreich, kreativ und erfüllend versteht, in gleicher Weise von Architekt*innen aufgegriffen werden. Kreativität in der Architektur beruht nicht auf einer ständig erweiterten kategorischen Einbeziehung der Formgebung, sondern vielmehr auf einem fantasievollen Ansatz der Problemlösung. Der entscheidende Text für fast alle, die sich mit den befreienden, spielerischen Aspekten von Arbeit befassen, ist Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Schiller spricht zwar nicht explizit von Arbeit, aber er befasst sich mit der grundlegenden Bedeutung von ästhetischem Spiel und Kunst in den „zivilen Klassen“. Kultur, so Schiller, unterdrücke den „sinnlichen Trieb“ zugunsten des „Formtriebs“, sodass das Sinnliche zerstörerisch wirke, wenn es aus seinem Zustand der Unterdrückung hervortrete. Kunst und Spiel könnten diese negative Entladung überwinden, indem sie die falsche Dichotomie zwischen Bedeutung und Form transzendieren.19 Als Verteidigung gegen den möglichen Einwand, dass Kunst in ihrer Ausrichtung auf das „bloße“ Spiel herabgesetzt werde, schreibt Schiller: „aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel, und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? Was Sie […] Einschränkung nennen, das nenne ich […] Erweiterung.“20 Ausgehend von Schiller rechtfertigt Gottfried Semper seine ästhetische Position in seiner „Prolegomena“ von Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik – Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (1860), indem er die Bedeutung der Freude und des Spiels unterstreicht. So schreibt er: „Was wir mit Schönheitssinn, Freuden am Schönen, Kunstgenuss, Kunsttrieb u.s.w. bezeichnen, ist in erhabnerer Sphäre analog mit denjenigen Trieben, Genüssen und Befriedigungen, durch welche die Erhaltung des gemeinen tellurischen Daseins bedungen ist, und die, genau betrachtet, sich auf Schmerz und dessen momentanes Beseitigen, Betäuben oder Vergessen zurückführen lassen. […] Umgeben von einer Welt voller Wunder und Kräfte, deren Gesetze der Mensch ahnt […], zaubert er sich die fehlende Vollkommenheit im Spiel hervor […], in diesem Spiel befriedigt er seinen kosmogonischen Instinkt.“21 Wie bereits beschrieben, werden nach Marx’ Vorstellung von der idealen sozialistischen Gesellschaft, die durch seine Lektüre von Schiller und anderen deutschen Philosophen der Romantik geprägt ist,22 alle Arbeiter als schöpferisch und jeder als Künstler aufgefasst, wohingegen „Freiheit“ nur außerhalb von Arbeit zu finden ist, wenn diese dem Kapital dient. Mit anderen Worten, Marx stellt das negative und durch den Kapitalismus aufgezwungene Bild von Arbeit dar, das optimistischere Theoretiker später zu revidieren versuchten. Utopisten schwanken zwischen Marx’ negativem Bild der industriellen Produktion und der Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der alle Arbeit fantasiereich ist. So zum Beispiel der amerikanische Sozialist Edward Bellamy, der in seinem utopischen Roman Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 (1888) ein Regime beschreibt, welches die strikte Arbeitsteilung durchsetzt und die Trennung von Arbeit und Freizeit vorschreibt,23 während der englische Textildesigner sowie Marxist/Sozialist William Morris in Neues aus Nirgendland (1890), seiner kritischen Replik auf Bellamys Ein Rückblick, beschreibt, wie Menschen in seiner Vorstellung einer idealen Gemeinschaft Marx’ Vision ausleben, „morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren“24, und ihre Art der Arbeit zur persönlichen Erbauung nach Belieben wechseln. Ebenezer Howards präzise Unterteilung von privater Arbeit und gemeinsamem Vergnügen in seiner Gartenstadt setzte Frank Lloyd Wright seine Broadacre City entgegen und bestand darauf, dass „unsere Freizeit, unsere Kultur und unsere Arbeit unser eigen sind und mit größter Wahrscheinlichkeit Eins sein werden“.25 Le Corbusier, der den grundlegenden Wert des (echten) Spiels verfocht, sagte: „Nur die, die spielen, sind ernsthafte Menschen […]. Die Bergsteiger, Rugbyspieler, Karten- und Glücksspieler sind Betrüger, da sie nicht spielen.“26 Während diese Utopisten mit ihrer Vision einer idealen Form von Arbeit vor allem deren tatsächliche Unannehmlichkeit hervorheben, richten die Philosophen des 20. Jahrhunderts – die entweder dem Lager der Neomarxisten oder dem der Pragmatisten angehören – den Blick auf die kreativen Aspekte von Arbeit im Kapitalismus. Herbert Marcuse greift Marx’ philosophische Hinterfragung von Schillers Betonung der Bedeutung des Spiels in den „zivilen Klassen“ auf. Indem er Schillers Dichotomie von sinnlichem Trieb und Formtrieb mit Freuds Lust- und Realitätsprinzip gleichsetzt, erhebt Marcuse Arbeit zum Lustprinzip. Er schreibt: „Abschaffung der Mühsal, Verbesserung der Umgebung […] All diese Tätigkeiten entspringen direkt dem Lustprinzip und begründen gleichzeitig Arbeiten und Werke, die die Einzelnen zu ‚größeren Einheiten‘ zusammenführen. Befreit aus der verstümmelnden Herrschaft des Leistungsprinzips modifizieren sie die Impulse, ohne sie vom Ziel abzulenken. So gibt es Sublimierung und infolgedessen Kultur; aber die Sublimierung geht in einem System dauerhafter und sich ausweitender libidinöser Beziehungen vor sich, die in sich selbst Werkbeziehungen sind.“27 In jüngerer Zeit betonen Neomarxisten das gemeinschaftliche, kooperative und kollaborative Wesen von Arbeit. Maurizio Lazzarato spricht in seinem Essay „Immaterielle Arbeit“ (1996) von dieser als „Begriff […], der die neue, die informationelle und kulturelle Dimension der Ware hervorbringende Qualität von Arbeit artikuliert“.28 Und in Bezug auf den Übergang von einer Dienstleistungs- zu einer Informationswirtschaft schreiben Antonio Negri und Michael Hardt in Empire – Die neue Weltordnung (2002): „Die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent.“29 Nach Lazzarato ist Arbeit nunmehr die Domäne von „Massenintellektualität“, und von den Arbeitenden „wird erwartet, ‚aktive Subjekte‘ bei der Koordination unterschiedlicher Funktionen innerhalb der Produktion zu werden, statt sie bloß als einfaches Kommando zu ertragen. Ein kollektiver Lernprozeß rückt ins Herz der Produktivität, da es nicht länger darum geht, bereits kodifizierte professionelle Kompetenzen in unterschiedlicher Weise zusammenzusetzen oder zu organisieren, sondern es nach neuen zu suchen gilt.“30 Da das alte Modell für die Beschreibung von Produktion und Konsum nicht mehr brauchbar ist, so Lazzarato, solle man sich jenem Modell der Ästhetik zuwenden, welches „Autorschaft, Reproduktion und Rezeption“ umfasst: wenn der/die Autor*in seine Individualität verliert, wird „Reproduktion“ Organisation und „Rezeption“ ist dann auch Kommunikation. Lazzarato besteht darauf, dass dies nicht „utopisch“ sei, da diese Form von Arbeit immer noch die Funktionsweise des Kapitalismus beschreibe, da die Subjekte immer noch den Anforderungen der „Produktion um der Produktion willen“ entsprechen müssen. Kritiker*innen der immateriellen Arbeit weisen darauf hin, dass Arbeit schon immer eine immaterielle Seite hatte – Marx hat in seiner Argumentation nie die physische Natur der Arbeit betont, sondern vielmehr die soziale und subjektive Konstruktion von Arbeit. Und immaterielle Arbeit wird immer eine materielle Seite haben – während wir schwitzend unsere Zeit vor Computer, Spülbecken oder Ladentheke verbringen. Für Alexander Galloway ist das Spiel – das ultimative Ziel – bereits in unsere kapitalistischen Produktionsstrukturen eingebettet, wie er in seiner Erörterung des Postkapitalismus darlegt: „Nach dem Versuch, sich ein Leben nach dem Kapitalismus vorzustellen […], sieht man, wie sich zwei der bislang nützlichsten Tropen für die Kommunikation eines Lebens nach oder außerhalb des Kapitalismus – Netzwerk und Spiel – langsam verschieben […]. Klar ist, dass die Möglichkeit eines Lebens nach dem Kapitalismus heute oftmals durch eine Anwendung der grundlegenden Merkmale des Kapitalismus selbst zum Ausdruck gebracht wird. Spiel ist Arbeit und Netzwerke sind Souveräne.“31 Peter Drucker, „der Mann, der die Unternehmergesellschaft erfand“ und der von den 1950er- bis weit in die 1980er-Jahre der Guru der Unternehmensführung war, nahm die Dezentralisierung des Kapitalismus, die Privatisierung und das Marketing vorweg. In Die postkapitalistische Gesellschaft (1993) geht Drucker jedoch einen Schritt weiter, wenn er das Wesen der Arbeit im Spätkapitalismus beschreibt. Im 18. Jahrhundert, so argumentiert Drucker, sei das Wissen des Arbeiters auf Werkzeuge, im 19. und frühen 20. Jahrhundert sei es hingegen auf Produktivität angewendet worden (Taylorisierung); gegenwärtig würde es auf das Wissen selbst angewendet. Heute würden „Wissensarbeiter*innen“ mit dem Wissen die Produktionsmittel besitzen. Da sich dank der Fähigkeiten dieser Arbeiter*innen – Forschung, Produktdesign, Herstellung, Marketing, Werbung, Kundenberatung, Finanzwesen, Vertragswesen – technische Einsichten mit Marketingstrategien und finanzieller Expertise verbinden lassen, wird die herkömmliche Unterscheidung zwischen Waren und Dienstleistungen aufgehoben. Da, so betont er, Unternehmen zu sehr „auf Dinge fokussiert“ waren und zu viele Dinge produziert haben, plädiere er für einen „geplanten Verzicht“, die Verblendung angesichts der Erfolge von gestern müsse ein Ende finden, die Dinge müssten verschlankt und eine Destabilisierung in Kauf genommen werden. Ziel von Organisationsmanagement sei die Erkenntnis, dass Arbeitnehmer*innen die wertvollste Ressource sind (die flexibelste und intelligenteste Komponente des Systems); außerdem müssten alternative, auf Spezialist*innen basierende Organisationsmodelle aufgebaut werden und die Unternehmen müssten sich eingestehen, dass das eigentliche Geschäft nicht „darin besteht, wie die Dinge richtig gemacht werden, sondern darin, das Richtige zu tun“. Diese Art von Arbeit, wie sie die Architektur verkörpert – nicht weil sie Form generiert, sondern weil sie so fließend organisiert ist –, klingt ziemlich vielversprechend. Teil III: Architektur Die beiden Argumentationsstränge, die hier verfolgt werden, führen zu bemerkenswert ähnlichen Projektionen für eine postfordistische Arbeit: Kreativität, die nicht auf die Herstellung von Objekten, sondern auf Prozesse angewandt wird; Destabilisierung; organisatorische Flexibilität; Sollbruchstellen; Stärkung der Autonomie des Arbeitenden. Die Architektur funktioniert zunehmend auf diese Weise, auch wenn ihre sichtbaren Strukturen dies noch nicht widerspiegeln. Design umfasst heutzutage nicht nur die Erfindung eines Objekts, sondern es ist eine Tätigkeit, die die Definition und Lösung von Problemen sowie eine Strukturierung von Informationen einschließt und auf der Grundlage anerkannter Bedingungen und Regeln eine bestimmte Vorgehensweise definiert.32 Die architektonische Arbeit wird nicht länger von Architekt*innen ausgeführt, vielmehr handelt es sich um eine kreative Bearbeitung eines von Spezialist*innen angefertigten Designs, welches von einer Vielzahl von Beitragenden entwickelt wurde. Architektonische Arbeit ist zunehmend dezentral und aufgefächert, kollaborativ und unternehmerisch, wissensbasiert und quelloffen, spezialisiert und flexibel. Der Vorteil für Architekt*innen – wenn wir die Idee aufgreifen, dass unser Wissen und unsere Leistung eine räumliche, materielle und organisatorische Innovation ist – ist eine Neukonzeption unserer Vergütung und unserer Position im sozialen Gefüge. Eine solche Neukonzeption der Vergütung beginnt mit der Abschaffung eines Honorars auf Basis der prozentualen Baukosten, was die fatale Vorstellung begünstigt, dass unser Wert sich am Objekt bemisst, das wir produzieren, und nicht am Wissen, das seiner Entwicklung zugrunde liegt. Nicht nur die Einmaligkeit des Objekts erhält hier fälschlicherweise einen Stellenwert, sondern wir werden sozusagen für Akkordarbeit bezahlt, die entwürdigendste Form der Entlohnung. Marx spricht diesbezüglich klare Worte: „Sie bildet daher sowohl die Grundlage der früher geschilderten modernen Hausarbeit als eines hierarchisch gegliederten Systems der Exploitation und Unterdrückung.“ Und er fährt fort: „Den Stücklohn gegeben, ist es natürlich das persönliche Interesse des Arbeiters, seine Arbeitskraft möglichst intensiv anzuspannen, was dem Kapitalisten eine Erhöhung des Normalgrads der Intensität erleichtert. Es ist ebenso das persönliche Interesse des Arbeiters, den Arbeitstag zu verlängern, weil damit sein Tages- oder Wochenlohn steigt.“33 Architekt*innen dürfte dies nur allzu bekannt vorkommen. Wenn dieses Szenario nur für den/die Partner*in des Architekturbüros im Verhältnis zu Kund*innen zuzutreffen scheint und nicht für die angestellten Mitarbeiter*innen, die den Großteil des Berufsstandes ausmachen, hat Marx auch dafür eine Erklärung parat: „Das [hierarchisch gegliederte System der Exploitation und Unterdrückung] besitzt zwei Grundformen. Der Stücklohn erleichtert einerseits das Zwischenschieben von Parasiten zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, Unterverpachtung der Arbeit (subletting of labour). Der Gewinn der Zwischenpersonen fließt ausschließlich aus der Differenz zwischen dem Arbeitspreis, den der Kapitalist zahlt, und dem Teil dieses Preises, den sie dem Arbeiter wirklich zukommen lassen. […] Andrerseits erlaubt der Stücklohn dem Kapitalisten, mit dem Hauptarbeiter […] einen Kontrakt für soviel per Stück zu schließen, zu einem Preis, wofür der Hauptarbeiter selbst die Anwerbung und Zahlung seiner Hilfsarbeiter übernimmt. Die Exploitation der Arbeiter durch das Kapital verwirklicht sich hier vermittelst der Exploitation des Arbeiters durch den Arbeiter.“34 Das ursprüngliche und eigentliche Problem ist die Angepasstheit. Alternativen dazu widersetzen sich nicht nur dem Akkordmodell der Vergütung, sondern auch einer Struktur, in der Architekt*innen den Bauherr*innen untergeordnet sind. Die naheliegende Option wäre hier die Baugruppe, es existieren aber auch findigere und weniger kostenintensive Ansätze. Bei der integrierten Projektabwicklung mit einer Zweckgesellschaft, einer Art Gesellschaft mit beschränkter Haftung, legen die Eigentümer*innen einen vereinbarten Geldbetrag beiseite, der als Wert des Projekts festgelegt wird; die Architekt*innen und die Auftragnehmer*innen (und andere) kalkulieren ihre Leistungen nach Aufwand, sodass sie in keinem Fall Geld verlieren. Es wird ferner vereinbart, dass es keine Gerichtsverfahren geben kann. Wenn die Arbeitskosten unter den Zielkosten liegen, werden die Ersparnisse durch drei geteilt. Ebenso würde die Bezahlung nach Gewinnanteil – eine Berechnung, die für die Bezahlung unabhängiger Projektmanager*innen zugrunde gelegt wird – den Mehrwert der architektonischen Intervention aufzeigen, eine Zahl, die nicht schwer zu ermitteln wäre. Andere Vergütungsmodelle als das übliche Stunden- oder Jahresgehalt bieten sich auch für Architekt*innen an. Wissensbasierte Unternehmen konkurrieren um die besten und klügsten Köpfe und passen ständig ihre Vergütungsmodelle an, um ein Gleichgewicht zwischen der Attraktivität des Arbeitsplatzes sowie der Bindung der Spitzenkandidaten und der Rentabilität des Unternehmens herzustellen. Dass die Architekturbüros diesem Ansatz bei der Einstellung und Entlohnung noch nicht folgen, hat sicher damit zu tun, dass sich die Hochschulabsolvent*innen trotz ihrer teuren und sieben Jahre dauernden Ausbildung immer noch als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Wie dem auch sei, anstelle von Pauschalvergütungen sollten anreizbasierte Löhne in Betracht gezogen werden. Miteigentümerschaft, leistungsabhängige Vergütung, variable Vergütungskomponenten, Aktienoptionen für Mitarbeiter*innen oder andere Verträge zwischen Unternehmenseigentümern und Mitarbeiter*innen, bei denen die Wertschöpfung und der Gewinn geteilt werden, sind in Vergütungsmodellen der New Economy und der Wissensarbeit üblich. In der Erörterung des Stücklohns findet sich in Marx’ Kapital folgende Fußnote: „Selbst der apologetische Watts bemerkt: ‚Es wäre eine große Verbesserung des Stücklohnsystems, wenn alle an einem Stück Arbeit Beschäftigten Teilhaber am Vertrag wären, jeder entsprechend seinen Fähigkeiten, statt daß ein Mann daran interessiert ist, seine Kameraden für seinen eigenen Vorteil abzurackern‘.“35 Wenn wir nie wieder hören wollen, dass potentiell Beschäftigte im Bereich Architektur sagen, dass sie verstehen, warum sie so gut wie nichts bezahlt bekommen, denn sie wissen, dass das Unternehmen, für das sie arbeiten möchten, so gut wie nichts verdient, müssen wir auch Gewerkschaften und Betriebsräte ins Auge fassen. Gewerkschaften standen traditionellerweise immer schon im Dienst von kreativen Unternehmen – sie sind der moderne Inbegriff des Zunftwesens, das in der Architektur für seine Einbindung von Designer*innen/Hersteller*innen so bewundert wird, aber den Personalapparat für den Berufsstand völlig zu übersehen scheint. Diese Gewerkschaften, einst kämpferische Organisationen, deren Mitglieder zum Streik bereit waren, sind heute weniger gegen das Management gerichtet und verstehen sich eher als Gemeinschaften zur Unterstützung und Förderung. Diese alternativen Formen der Vergütung und Sicherheit, die im Herzen des Kapitalismus funktionieren, sollten nicht als ideale Lösungen für humanistische, ästhetische Produkte betrachtet werden. Aber das Unbehagen, welches wir angesichts dieser alternativen Organisationsmodelle empfinden, ist ein Hinweis auf die unentschuldbare intellektuelle Distanz zwischen architektonischer Arbeit und anderen Arbeitsstrukturen. Das Beängstigende ist nicht die mangelnde Vertrautheit mit diesen Strukturen, sondern unsere selbstgerechte Ignoranz ihnen gegenüber. Der soziale Nutzen, den man für Architektur aus der Geschichte der Lohnarbeit ziehen kann, besteht darin, gesellschaftlich überhaupt erst erkannt zu werden. Arbeitende identifizieren sich mit Arbeitenden. Während viele der mit der Relationalen Ästhetik assoziierten Künstler*innen sich geweigert haben, ihre Werke im Guggenheim Museum in Abu Dhabi auszustellen – einem Gebäude, welches von Zwangsarbeiter*innen errichtet wurde –, bleiben die Architekt*innen unbeeindruckt. Die Appelle der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch an Architekt*innen, die in den Emiraten und China Gebäudeentwürfe entwickeln, doch auf ihre Kunden einzuwirken, da- mit diese die miserablen Baubedingungen ändern, stießen auf taube Ohren. Architekt*innen weisen zu Recht darauf hin, dass sie nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, weigern sich aber leider, darüber nachzudenken, welche Folgen ihr mangelndes Engagement hat. Die Architektur muss ihre Aphasie ablegen und sich als eine Gemeinschaft von Arbeitenden verstehen. Nur dann hat ihr kulturelles Gütesiegel einen echten gesellschaftlichen Wert. In dieser Phase des Übergangs im Architekturberuf, in der die Verantwortung für die Gestaltung und das finanzielle Know-how auf verschiedene Akteur*innen verteilt sind, ist die Schaffung eines neuen Modells für die Architekturpraxis völlig offen. Jetzt ist es an der Zeit, umfassend darüber nachzudenken, wie diese neue Praxis aussehen soll und wie ihre Organisation mit dem übergreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gefüge verknüpft werden kann. Als frisch aufgeklärte Akteur*innen in der Arbeitswelt haben Architekt*innen nun die Freiheit, ein imaginiertes Ideal in die Realität umzusetzen. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die deutschsprachige Erstveröffentlichung des Textes „Work“, der 2014 in einer längeren Version in der Zeitschrift Perspecta 47: Money, S. 27–39, erschienen ist. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Perspecta, Yale School of Architecture. Abb.1 Alexander Deineka Friedliche Baustelle, Studie für ein Wandmosaik, 1959/60, Öl auf Leinwand, 160 x 180 cm Die Grenzen zwischen Arbeit und Kunst – oder Arbeit und Freizeit – verschwimmen in dieser Studie für ein Mosaik, das auf der Ersten Nationalen Kunstausstellung „Sowjetisches Russland“ 1960 in Moskau gezeigt werden sollte. Abb.2 Christine Hill in der Volksboutique Small Business, Choriner Straße, Berlin, 2010, Installation Ausgehend von ihrer Installation Volksboutique, die unter anderem 1997 auf der documenta X ausgestellt wurde, setzt sich Christine Hill – im Bild bei einer Neuauflage der Volksboutique – immer wieder mit dem Arbeitsbegriff in der Kunst auseinander. Abb.3 Hans Hollein: Eben gelandet. Hans Hollein in seinem mobilen Büro, 1969 Hans Holleins mobiles Büro bestand aus einer pneumatischen Konstruktion, die es den Nutzer*innen ermöglicht, überall zu arbeiten. Angesichts gegenwärtiger Prozesse von Globalisierung und Digitalisierung sowie Phänomenen wie Digital Nomads und Clickworkern scheint diese künstlerische Auseinandersetzung Debatten um den Ort und die Transparenz der Arbeit vorwegzunehmen. Abb.4 Wang Qingsong: Work! Work! Work!, 2012, C-Print, 180 x 300 cm Die aufwändig inszenierten Arbeiten des Fotografen Wang Qingsong verstehen sich als Kommentare zu den ökonomischen Zwängen und zur unwägbaren Zukunft einer zunehmend kapitalistischen chinesischen Gesellschaft. Dieses Foto entstand im Pekinger Büro des Architekten Ole Scheeren. 1 Anm. d. Red.: Peggy Deamers Beobachtungen und Analysen bezüglich der Arbeitssituation von Architekt*innen beziehen sich auf den US-Kontext. 2 Vgl. Phil Bernstein: „Money, Value, Architects, Buildings“, in: Perspecta 47: Money, 2014, S. 15–21 3 James Surowiecki: „The Pay Is too Damn Low“, in: The New Yorker, 12.8.2013, www.newyorker.com/magazine/2013/08/12/the-pay-is-too-damn-low (Stand: 17.11.2022) 4 Régine Debatty: „Interview with Christine Hill“, in: We Make Money Not Art Blog, 4.7.2007, we-make-money-not-art.com/interview_with_20 (Stand: 17.11.2022); siehe auch Lucy Lippard, Barbara Steiner (Hg.): Inventory – The Work of Christine Hill and Volksboutique, Ostfildern 2004 5 Richard Biernacki: The Fabrication of Labor – Germany and Britain 1640–1914, Berkeley 1997, S. 215 6 Ebd., S. 235 7 Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie – Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. 1845–1846, MEW Bd. 5, Berlin 1969, S. 379 8 Ebd., S. 33 9 Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, MEW Bd. 26/1, Berlin 1965, S. 128 10 Wladimir Majakowski: Wie man Verse macht, Zürich 1960, S. 52 11 Alexander A. Bogdanow: „Puti proletarskogo tworchestwa“ (Wege der proletarischen kreativen Arbeit), in: O Proletarskoi kulture, Bd. 15/16, 1920, S. 50 ff. 12 Gegründet 1966, hat diese von Künstlern geführte Organisation in London Kunst aus den Galerien herausgeholt und in die Geschäfts- und Regierungswelt eingeführt. 13 Nicolas Bourriaud: „Precarious Constructions – Answers to Jacques Rancière on Art and Politics“, in: Open 17 (2009), S. 20–37, hier S. 35 14 Debatty 2007 (wie Anm. 4) 15 Siehe Walead Beshty: „Neo-Avantgarde and Service Industry – Notes on the Brave New World of Relational Aesthetics“, in: TEXTE ZUR KUNST 59 (September 2005), S. 150–157, www.textezurkunst.de/59/neo-avantgarde-and-service-industry
(Stand: 18.11.2022) 16 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006 17 17 Ebd., S. 69 18 Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, MEW Bd. 23, Berlin 1973, S. 193 19 Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, Tübingen 1795 20 Ebd., S. 86 21 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik – Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Frankfurt a. M., 1860, S. XXI 22 Vgl. die Darstellung von Marx’ Glauben an die Vorstellungswelt der Antike, in: George E. McCarthy: Classical Horizons – The Origins of Sociology in Ancient Greece, Albany 2003 23 Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887, Leipzig o. J. [1890], hg. v. Wolfgang Both, Berlin 2017 24 Marx, Engels 1969 (wie Anm. 7), S. 33 25 Frank Lloyd Wright: When Democracy Builds, Chicago 1945, zitiert nach Robert Fishman: Urban Utopias in the Twentieth Century, Cambridge 1982, S. 129 26 Le Corbusier: Last Works, London 1970, S. 174 27 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1965, S. 209 28 Maurizio Lazzarato: „Immaterielle Arbeit – Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus“, in: Antonio Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten – Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998, S. 39–52, hier S. 39 29 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire – Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./ New York 2002, S. 305 30 Lazzarato 1998 (wie Anm. 28), S. 42 31 Alexander R. Galloway: „Warcraft and Utopia“, in: ctheory.net: 1000 Days of Theory, journals.uvic.ca/index.php/ctheory/article/view/14501/5342 (Stand: 18.11.2022) 32 Für eine hervorragende Darstellung der Verwirrung in der Architektur bezüglich deren Arbeitspraktiken, siehe Paolo Tombesi: „On the Cultural Separation of Design Labor“, in: Peggy Deamer, Phillip G. Bernstein (Hg.): Building (in) the Future – Recasting Labor in Architecture, New York 2010, S. 117–136 33 Marx 1973 (wie Anm. 18), S. 577 f. 34 Ebd., S. 577 35 Ebd.
Aktualisiert: 2023-03-23
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The Great Repair

The Great Repair
Politiken einer Reparaturgesellschaft 
 Text: Florian Hertweck, Christian Hiller, Markus Krieger, Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo, Milica Topalović 
 Wir sind zur Reparatur verdammt. Angesichts einer Welt, die in jedem Augenblick altert, vergeht, ist dies keine überraschende Erkenntnis. Die kapitalistische Moderne mit ihrer Betonung von Innovation, Wachstum und Fortschritt, ihrem auf Verbrauch, Vernutzung und Verschwendung basierenden Wirtschaftssystem und der damit einhergehenden rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hat jedoch eine Wegwerfmentalität in unseren Köpfen verankert: Alles ist ersetzbar. Das noch bessere Produkt steht bereit. Reparatur lohnt sich nicht. Im Architekturdiskurs kulminiert diese Denkweise in dem euphemistischen Begriff des Ersatzneubaus. Und so verwundert es nicht, dass Bau- und Abbruchabfälle heute über die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens in Deutschland ausmachen. Verdrängt wird dabei, dass das Ausmaß dessen, was repariert werden muss, beständig zunimmt. Schließlich geht die totale Mechanisierung und Technisierung der modernen Lebenswelt mit einer naturgemäßen (oder geplanten) Obsoleszenz der eingesetzten Technik einher. Bei nüchterner Betrachtung kann man allerdings trotz der vorherrschenden Wegwerfmentalität feststellen, dass Städte, Infrastrukturen und Gebäude insgesamt öfter umgebaut und weitergenutzt als abgerissen werden. Auch eine Vielzahl technischer Geräte wird täglich repariert und gewartet. Wartung, Reparatur und Instandhaltung bilden einen wichtigen Wirtschaftszweig. Einschlägigen Statistiken zufolge arbeiten heute weltweit mehr Ingenieur*innen in der Reparatur als in der Entwicklung.1 Diese Tatsache ist kaum bekannt, da Reparatur eine unglamouröse Sisyphusarbeit ist. Sie vollzieht sich im Verborgenen, Alltäglichen, im Kleinen. Gerade dort entfaltet sie ihre Wirkmacht, und gerade dort setzt das Projekt The Great Repair an, um über die pragmatische Ebene hinaus auf die geopolitischen, sozioökonomischen und ökologischen Abhängigkeiten hinzuweisen, die 
hinter den Materialassemblagen, Infrastrukturen und sozialen Interaktionen unserer Gesellschaften stehen. Es sind diese großen, reparaturbedürftigen Zusammenhänge gemeint, wenn wir von der Großen Reparatur sprechen. Groß ist der Reparaturbedarf auch angesichts des Zerstörungsgrads der Welt. Die Auswirkungen der Klimakrise und des Ressourcenschwunds mit Verlust der Biodiversität und mit Waldsterben, mit Überschwemmungen und Stürmen, Hitzewellen und Dürreperioden sind bereits heute Auslöser von Tod, Hunger und Migration im Globalen Süden, wo großflächig Habitate von Menschen und Tieren unbewohnbar werden. Militärische Konflikte um Energie, Infrastruktur und Nahrungsmittel werden in Zukunft durch die Folgen der Klimakrise mit ihren unausweichlichen Kämpfen um geopolitische Kontrolle über Territorien und Ressourcen zunehmen. Hier zeigt sich, dass unter diesen Einflüssen nicht nur das Alltagsleben, sondern auch geopolitische Architekturen und Grenzen destabilisiert werden. Das trifft allerdings nicht nur auf den Globalen Süden zu, sondern auch längst auf Europa, wo in den letzten 30 Jahren die Temperatur um durchschnittlich 0,5 °C pro Jahrzehnt gestiegen ist.2 Wie kann angesichts dieses planetarischen Ausmaßes der eskalierenden Krisen ein so behutsames Konzept wie das der Reparatur helfen? Sicherlich werden nicht wenige einwenden: Müssen wir nicht wie ehemals in der modernBewegungen eher große Visionen beschwören, anstatt die Große Reparatur auszurufen? Es ist allerdings dieser Kontrast zwischen der Behutsamkeit und der globalen Perspektive, der das Projekt The Great Repair auszeichnet. Angesichts der Großkrisen, die gerade durch die Visionen der Moderne hervorgerufen wurden, bedarf es eines neuen Paradigmas. Um etwas Kaputtes zu reparieren, muss man sich zunächst einmal des Schadens bewusst sein. Wir sollten daher „Erosion, Zerfall und Verfall statt Neuheit, Wachstum und Fortschritt als Ausgangspunkt unseres Denkens“ nehmen, meint der Informationsforscher Steven J. Jackson. Doch im Globalen Norden gilt weiterhin das wirkmächtige Narrativ, allein mit technologischer Innovation und Entwicklung ließe sich die Klima- und Ressourcenkrise in den Griff bekommen und wirtschaftliches Wachstum von den Umweltauswirkungen entkoppeln. In dieser Vision einer grünen kapitalistischen Transformation würden erneuerbare Energien den Bedarf von Industrie und einer ständig wachsenden Zahl von städtischen Verbraucher*innen klimaneutral decken, intelligente Technologien die Ströme von Menschen, Gütern und Energie mit steigender Effizienz regeln, das Recycling von Materialien managen, Energiekreisläufe schließen und Treibhausgase binden. Der Verlust der Artenvielfalt und die Auslaugung der Böden würden durch die Automatisierung der industriellen Landwirtschaft, die Lebensmitteltechnologie, die Verringerung der Lebensmittelverschwendung in der gesamten Lieferkette und durch die massenhafte Einführung veganer Ernährung und Produkte gelöst werden. Notwendige Rohstoffe ließen sich durch Zukunftstechnologien möglicherweise sogar extraterrestrisch abbauen. Mit dieser Vision ist die politische Hoffnung verbunden, dass der wachsende materielle Wohlstand auf der Grundlage grüner Technologien die Stärkung und Ausbreitung der „liberalen Marktdemokratien“ gegen die „zunehmende Bedrohung durch den Autoritarismus“ ermöglichen würde. Diese Narrative sind attraktiv, weil sie in letzter Konsequenz den politischen Status quo stützen: Weder müssen sich Politik noch die Bürger*innen strukturell verändern, noch wird das zugrundeliegende kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen Mechanismen der Ausbeutung und ungleichen Verteilung infrage gestellt. Die Gefahr einer solchen Denkweise liegt darin, dass sie die notwendige Reparatur des Systems in die Zukunft verschiebt, die globale Geografie der Ungleichheiten weiter verschärft und die Klimakrise mit einer Inflation von Greenwashing und innovation speak oberflächlich übertüncht. Die Widersprüche solcher Visionen sind kaum zu leugnen: Trotz vieler technologischer Innovationen und Effizienzsteigerungen in den letzten Jahren klaffen Anspruch und Wirklichkeit, die ehrgeizigen Ziele des Pariser Klimaabkommens und die realen Treibhausgasemissionen kontinuierlich auseinander. Trotz massiver Bemühungen funktioniert die „grüne Lösung“ noch nicht. Reparaturgesellschaft Deshalb entwirft das Projekt The Great Repair ein Gegennarrativ, das auf die Fähigkeit des Menschen zielt, seine Beziehungen innerhalb der sozialen und natürlichen Umwelt neu zu gestalten: von den Produktionsbedingungen über die gesellschaftliche Teilhabe bis hin zu Fragen der Gerechtigkeit, von der gebauten Umwelt über die Ökosysteme bis hin zum Erdklima. Als Gegenstrategie zur kreativen Zerstörung der kapitalistischen Moderne plädieren wir für einen reparativen Ansatz, in dem Pflege, Wartung und Reparatur die wesentlichen Handlungsstrategien werden. Wobei Reparatur hier nicht die Wiederherstellung eines idealisierten, usprünglichen Zustands meint, sondern auf eine regenerative Transformation hin zu einem besseren Zustand abzielt. Im Gegensatz zu (Techno)-Fixes geht es nicht lediglich darum, Funktionsstörungen zu beheben: Reparatur bedeute, die Welt „wieder ins Gleiche bringen“, so der Denkmalpflege­theoretiker Wilfried Lipp in seinem bahnbrechenden Essay „Rettung von Geschichte für die Reparaturgesellschaft im 21. Jahrhundert“ ein altes Konversationslexikon zitierend.3 Lipp prägte bereits 1993 auf einer Denkmalpflege-Tagung den Begriff der Reparaturgesellschaft als neues gesellschaftliches Leitbild,4 das er „sowohl diagnostisch als therapeutisch, ja perspektivisch appellativ, versteht“.5 Wir sind also mittendrin in „Reparatur“. 
Übe­r­all wird repariert. Das betrifft – hier nur in Schlagworten angeblitzt – allgemeine Umweltmaßnahmen für Luft (Abgasverminderung), Wasser (Güte, Kanalisation, Verbrauch), Meere (Verringerung der Belastungsfaktoren), Boden (Überdüngung), Holz, Wald („Wald­sterben“, Überschlägerung, Regenwälder). […] Es ist so etwas wie eine „Reparatur 
am Menschen“ in Gang gekommen. […] Es läuft letztlich auf eine „Reparatur“ am System einer volkswirtschaftlich vorwiegend an Produktion und Absatz festgemachten Arbeit hinaus, die sich – in unserer Logik – als end­lose Kette von Fülle – Stau – Abfall definiert.6 Kurz nach Lipp rief der Politologe Claus Leggewie in seinem 1995 erschienenen Buch Die 89er – Portrait einer Generation7 ebenfalls die Reparaturgesellschaft aus, ein Konzept, das er 2016 gemeinsam mit Jürgen Bertling wieder aufgriff: „Die Reparaturgesellschaft. Ein Beitrag zur großen Transformation?“8. Mit der Anspielung auf Karl Polanyis The Great Transformation (1944)9 verorten Leggewie und Bertling den Reparaturdiskurs in der technikhistorischen Perspektive der „großen Transformation“ der Industrialisierung, die Polanyi zu­folge zur Verselbstständigung und Hegemonie des „freien“ Marktes gegenüber der Gesellschaft geführt hat: „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“10 Die Folge dieser „großen Transformation“ ist die rücksichtslose Ausbeutung von Mensch und Natur. Dieser Prozess lässt sich laut Polanyi nur umkehren, wenn statt des Ideals eines freien und sich selbst regu­lierenden Marktes, dem alles Gesellschaftliche untergeordnet ist, die Vorstellung einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft das politische Handeln bestimmt. In diesem Sinne geht es im Projekt The Great Repair um nicht weniger als eine Neuausrichtung der Grundlagen, Normen, Prozesse und Ziele unseres Wirtschaftssystems hin zu Ökonomien der Reparatur und Sorge, um die 
Wirtschaft wieder in die Gesellschaft und diese wiederum in die natürliche Umwelt einzubetten. Fast beiläufig geben Leggewie und Bertling einen Hinweis darauf, an welcher Sollbruchstelle das Projekt The Great Repair ansetzen muss: Es kann davon ausgegangen werden, dass das Fertigen und Reparieren der Dinge vor Herausbildung des Manufakturwesens und nachfolgender Industrialisierung von den gleichen Akteuren betrieben wurde. Für beide Handlungen wurden die gleichen Kompetenzen und Werkzeuge benötigt und in vielen Fällen dürfte bereits bei der Fertigung die spätere Reparatur berück­sichtigt worden sein. Aus technikhistorischer Per­spektive trennten sich Fertigung und Reparatur im Zusammenhang mit der zu­nehmenden Mechanisierung vor allem der Kernprozesse der Fertigung: Stoffumwandlung und Formgebung.11 Das kapitalistische industrielle Wirtschaftssystem basiert also nicht nur auf dem „Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“12, wie Karl Marx es beschrieb, sondern auch auf der Trennung von Produktion und Reparatur – sowie letztlich darauf, dass Waren zirkulieren, die austauschbare Blackboxes bar jeglicher sozialer Beziehungen sind. Die dadurch entstehende Entfremdung ist tiefgreifend, sie reicht von den Produktionsbedingungen bis zum individuellen Konsumverhalten: Der zum Verbrauch bestimmte Artikel besitzt weder eine Verbindung zu den Arbeitsprozessen, die seiner Herstellung vorausgingen, noch zu solchen, die zu seiner Instandhaltung und Reparatur notwendig wären. Gesellschaftlich geht die Entwicklung mit einer Technikunmündigkeit der Menschen einher, einem Verlust an „Kompetenzen und Werkzeugen“, mit denen sie ihre Lebenswelt gestalten und reparieren können. Im Umkehrschluss bedeutet es, dass die Große Reparatur nur dann emanzipatorisch wirken kann, wenn sie den Menschen Werkzeuge der Reparatur an die Hand gibt. Sie muss dem Motto folgen, das der Architekt Yoshiharu Tsukamoto von Atelier Bow-Wow im Zusammenhang mit seinem Forschungsprojekt Satoyama School of Design13 formuliert hat: „Tools to the People!“14 Dieser Aufruf berührt ein zentrales Thema der marxistischen Theorie, wenn wir Werkzeuge im Sinne von „Produktionsmitteln“ übersetzen. Für Marx bildet die Konzentration des Eigentums an Werkzeugen, Werkstoffen und Maschinen als „Produktionsmittel“ in den Händen weniger den Kern des kapitalistischen Systems, zu dessen Überwindung – in der Theorie – die Wiederaneignung beziehungsweise Vergesellschaftung der Produktionsmittel notwendig wäre. Hier allerdings setzt das Projekt The Great Repair zunächst bescheidener an, weniger revolutionär als vielmehr alltagsweltlich. Es geht darum, die Handlungsmacht des Einzelnen dadurch zu erhöhen, dass statt des anonymen Verbrauchs die Sorge und Pflege der eigenen Lebenswelt ins Zentrum rückt. Man könnte mit Kant pathetisch sagen: Die Große Reparatur ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten technischen Unmündigkeit. Werkzeuge für alle Den Menschen die Werkzeuge und den Dingen die Reparaturfähigkeit zurückzugeben mag auf den ersten Blick einen antitechnischen Duktus haben. Doch der in vielen Fällen damit einhergehende DIY- und Low-Tech-Ansatz ist nicht in erster Linie gegen Technik gerichtet, sondern folgt dem Wunsch, die sozialen Beziehungen, die der Produktion eingeschrieben sind, zu entkommo­difizieren. Polanyi zufolge liegt im Warencharakter des Sozialen das Kernproblem des gegenwärtigen Systems: „Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nichts Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren.“15 Diese Entwicklung hat uns in eine Sackgasse geführt, aus der uns nur die Erkenntnis befreit, dass wir einem falschen Bewusstsein aufgesessen sind: „Indessen sind Arbeit, Boden und Geld ganz offensichtlich keine Waren: Die Behauptung, dass alles, was gekauft und verkauft wird, zum Zwecke des Verkaufs produziert werden musste, ist in Bezug auf diese Faktoren eindeutig falsch.“16 Nicht von ungefähr stellen viele reparative Ansätze, bei denen es um Formen des Empowerment geht, das Verhältnis zur Arbeit, zum Boden und zum Geld ins Zentrum der Auseinandersetzungen. „Werkzeuge für alle“ meint somit die konkrete Selbstermächtigung des Menschen. Auch Leggewie und Bertling zielen mit ihrem Beitrag zu „Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis“ in dieselbe Richtung. Deswegen stehen Wissen und Werkzeuge im Zentrum des Projekts The Great Repair. Doch um neu-alte Werkzeuge zu erarbeiten oder zurückzu­­ge­winnen, müssen wir zunächst unsere Wissensbestände, unsere epistemologischen Grundlagen infrage stellen – und anerkennen, dass wir im Namen des Fortschritts eine Vielzahl von Wissenswelten, von Zugängen zur Welt verdrängt, marginalisiert und verloren haben. Dazu gehört das Wissen über nachhaltige Materialgewinnung, Bautechniken und Bodennutzung, aber auch die damit verbundene Erfahrung mit Formen der Bewirtschaftung von Gemeingütern. In diesem Sinne führt der Reparaturprozess auch zu einem neuen Verständnis von Territorium und Gesetzen als spezifischen Governance-Instrumenten, durch die unsere – derzeit ungleichen und ungerechten – sozio-ökologischen Systeme reproduziert werden. Wir brauchen angesichts der verheerenden ökologischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Fortschrittserzählung dringend ein alternatives Narrativ. Reparatur als Gegenstrategie zur Obsoleszenz könnte zumindest dazu beitragen, den Fortschrittsmotor mit seiner Logik der unablässigen Destruktion und 
Rekonstruktion zu verlangsamen.17 Aus dieser Perspektive muss das Konzept der Reparatur immer wieder gegen das falsche Ideal einer anachronistischen Rückkehr zu vorindustriellen Ökonomien oder zu einem vermeintlich „natürlichen“ Zustand verteidigt werden. Nicht zuletzt weil dieser Weg spätestens mit der Veröffentlichung des Club-of-Rome-Berichts Die Grenzen des Wachstums vor genau fünfzig Jahren abgeschnitten war. Allerdings lauern heute in der Ver­tauschung von beobachteten Wachstumsgrenzen mit den Ursachen der Klimakrise oft neomalthusianische Weltbilder, die vor allem gegen die Entwicklung des Globalen Südens gerichtet werden können. So weist der Sozialgeograf Jason W. Moore darauf hin, dass die 
umfassende Umgestaltung der globalen Natur bereits vor der Erfindung der Dampfmaschine mit der früh­neuzeitlichen Eroberung neuer Territorien durch die aufstrebenden europäischen Imperien begann. Diese Produktionssteigerung im „Netz des Lebens“ (web of life) drehte sich laut Moore um die Konzeption der „Great Frontiers“ und die damit untrennbar verbundenen kolonialen Praktiken der Expansion, Aneignung und Aus­beutung für die Produktion „billiger Natur“ (cheap nature). In diesem Sinn richtet sich das Paradigma der Großen Reparatur wie dargelegt nicht per se gegen Technologie, sondern gegen Technologie als Mittel zur Reproduktion von Ungleichheit und zur Ausbeutung der nichtmenschlichen Welt, sowohl auf planetarer als auch auf lokaler Ebene. Reparatur und Reparation Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Ausbeutung der „billigen Natur“ und der billigen Arbeitskraft des Globalen Südens kann Reparatur im planetaren Maßstab die Mitbedeutung der Reparation nicht außer Acht lassen. Auch wenn die bereits angerichteten sozialen und ökologischen Schäden nicht reparabel sind, geht es beim Thema der Klimagerechtigkeit um die Anerkennung der Verantwortung und das Bemühen um einen Ausgleich zwischen den bisherigen Profiteur*innen des klimaschädigenden Wirtschaftssystems und denjenigen, die von den Folgen der Klimakrise am stärksten betroffen sind. Der Ausgleichsfonds für Klimaschäden für ärmere Länder, den die Weltklimakonferenz COP27 in Scharm el-Scheich trotz ihres Scheiterns verabschiedet hat, ist ein erster Schritt in einen Mechanismus der Reparation. Reparationen für Klimaschäden sind in diesem Zusammenhang jedoch nur ein Beispiel für notwendige Prozesse der Dekolonisierung. The Great Repair strebt, neben der Dekommodifizierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse wie weiter oben ausgeführt, vor allem die Dekolonisierung der sozialen Beziehungen, einschließlich der gesellschaftlichen Institutionen, als eine umfassendere Form der dekolonialen Reparationsleistung an. Der Begriff ist im Deutschen vor allem im Zusammenhang mit Kriegsentschädigungen gebräuchlich. Diejenige Partei, die Verantwortung für den Krieg trägt und diesen verliert, muss in der Regel Reparationsleistungen zahlen. Allerdings weist Lipp darauf hin, dass beim Thema der Nachhaltigkeit die Kategorien durcheinandergeraten: Der Begriff von „Reparatur“ ist dem martia­lischen von Reparation verwandt. […] Die Verlierer müssen zahlen. Aber – paradox, und reparationsgeschichtlich neu – es gibt keine Gewinner. Die Reparation trifft alle. Ihre Währung heißt „Reparatur“.18 Politiken der Reparaturgesellschaft Wir sollten uns jedoch davor hüten, Reparatur als Wert an sich zu verabsolutieren. Nur als politische Kategorie, die Handlung und Aushandlung zugleich umfasst, ist sie sozial wirksam. Was muss wie, mit welchen Werkzeugen repariert werden? Welcher Zustand wird angestrebt? Als Bezugsrahmen für diesen offenen Aushandlungs­prozess haben wir sechs Politiken bestimmt, die aus unserer Sicht das Handeln einer Reparatur­gesellschaft strukturieren – wobei klar ist, dass dies keine abschließende Aufzählung darstellt. Suffizienz Angesichts des Auseinanderklaffens von Ambition und Aktion wird Suffizienz immer wichtiger. Natur­gemäß wird sie von der Green-Tech-Ideologie jedoch ausgeblendet. Suffizienz ist nicht das Gegenteil von Effizienz. Vielmehr beschreibt sie – wider die Logik der planetarischen Materialgewinnung und der langen Lieferketten, die die Bauindustrie speisen – die Vision einer materiellen Kultur, in der die Menschheit und insbesondere der Globale Norden mit weniger aus-kommen muss: weniger Energie, weniger Ressourcen, weniger Flächenverbrauch durch einen sorgsamen Umgang mit dem, was bereits da ist. Suffizienz ist zudem nicht zu verwechseln mit Austerität, bei der es um die Reduktion der individuellen Lebensweise zu Lasten der sozial Schwachen geht, sondern ist als gesellschaftliches Planungs- und Governance-Paradigma zu verstehen, das eine Gestaltung der gebauten und unbebauten Umwelt in einer Weise steuert, die ein suffizientes Leben möglich macht. Entscheidend ist dabei auch eine Reterritorialisierung, also die Einbettung von Produktions- und Lieferketten in re­gionale und lokale Kontexte. Langlebigkeit Im Gegensatz zur Nachhaltigkeit, die heute in erster Linie die Übertragung wirtschaftlicher Prinzipien auf die Ökologie bedeutet, geht es bei Langlebigkeit darum, die Lebensdauer und Lebenszyklen von Ma­terialien, Gegenständen und Techniken so lange wie möglich auszudehnen. Recycling fungiert in dieser Perspektive lediglich als Schmiermittel des unhinterfragten produktiven Systems, während Reparieren die Langlebigkeit der Dinge zum Ziel hat. Einen wich­tigen Beitrag zum Designdiskurs leistet die Right-to-Repair-Bewegung, die gegen Wegwerfkultur und geplante Obsoleszenz ankämpft. Gleichzeitig ver­deutlicht die Realität der zunehmenden Migration, insbesondere der erzwungenen Migration von Klimaflüchtenden, die Notwendigkeit, Unbeständigkeit und Bewegung von Architektur und Siedlungsräumen neu zu denken. Langlebigkeit ist nicht das Gegenteil von Leichtigkeit und Flexibilität. Care Reparatur beinhaltet nicht nur die Reparatur von Dingen, sondern auch die Fürsorge für Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und Ökosysteme. Sie setzt voraus, dass bislang unsichtbare Arbeit anerkannt wird. Dazu gehören die bisher externalisierten Kosten der häuslichen und reproduktiven Arbeit, aber auch die Arbeit der Natur. Auf der Grundlage dieses erweiterten Verständnisses können „Ökologien der Reparatur“ geschaffen werden, die ein Netz menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungen spannen. Wiederaneignung Die rassistische und koloniale Gewalt, sowohl territorialer als auch kultureller Art, ist eine der un­abdingbaren Voraussetzungen für die kapitalistische Produktion von „billiger Natur“ (cheap nature), im Globalen Norden wie im Globalen Süden. Sie ist daher aus einem kritischen Klimadiskurs nicht wegzudenken. In diesem Kontext müssen Praktiken der Reparatur die dekoloniale Wiederaneignung des Entwendeten und Entwerteten berücksichtigen. Sie reichen von Objekten über Orte und Territorien bis hin zu kulturellen Praktiken und Epistemen. Solidarität Im Zentrum einer Vielzahl von Praktiken der Re­paratur steht die Politik der Solidarität. Reparatur wird hier als sozialer Akt verstanden, der das Zusammen­leben, das gemeinschaftliche Arbeiten, soziale Eigentumsformen sowie Ökonomien des Gemeinwohls und der geteilten Risiken fördert. Der Schwerpunkt liegt auf der lokalen, städtischen oder kommunalen Ebene, oft jenseits von Markt und Staat. Die Er­for­schung und Stärkung kleinerer kollaborativer Struk­turen und Ökonomien trägt zu ihrer zunehmenden Widerstandsfähigkeit bei, zum Beispiel in Bezug auf die gemeinsame Nutzung von Ressourcen und die Klimaanpassung. Pluralität In dem Bemühen, die gesellschaftlichen Bezie­hungen zu entkommodifizieren und zu dekolonisieren, problematisiert die Reparaturgesellschaft die Einseitigkeit der technowissenschaftlichen Rationalität und strebt stattdessen nach Pluralität. Damit ist insbesondere das Bestreben gemeint, die Wissensproduktion außerhalb der staatlich und marktwirtschaftlich va­lidierten Wissenskreisläufe zu pluralisieren und sie für unterschiedliche Wissenssysteme und -praktiken zu öffnen. Dazu gehören Praktiken, die auf indigenem, handwerklichem oder bricoleurhaftem Wissen basieren und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Probleme lösen. Dadurch wird die Expert*innenposition infrage gestellt und die Akteurskonstellation verändert. Statt auf Neuheit und individuelle Urheberschaft setzt Pluralität auf kollaborative Formen der Wissensproduktion und Selbstermächtigung. Selbstreparatur Diese aktuellen Debatten um Repair, Care und Maintenance finden in der Architektur- und Stadt­forschung nicht nur großen Widerhall, sondern haben auch das Potential, mit dem spezifischen Reparatur-Wissen der Disziplin andere Diskurse und Praxen zu befruchten. Schließlich sind Strategien der Reparatur seit jeher ein wichtiger Bestandteil des Repertoires der Architektur. Angefangen bei Leon Battista Albertis Buch Über die Wiederherstellung der Bauwerke19, über die Arts- and Crafts-Bewegung bis hin zu Carlo Scarpas Umgang mit historischer Bausubstanz oder dem as found-Konzept von Alison und Peter Smithson. Von besonderer Bedeutung sind „Instandbesetzungen“, die Reparatur mit Aneignungsstrategien von unten kombinierten, sowie Stadtreparatur und andere großmaßstäbliche Planungsprojekte, die unter anderem auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die Folgen der Deindustrialisierung und schrumpfende Städte reagierten. Bei The Great Repair geht es nicht zuletzt auch um eine Selbstreparatur der Architektur als Disziplin: die Reparatur ihres Arbeitsbegriffs, ihrer Arbeitsprozesse, ihres Verständnisses von Autorschaft, ihres Ausbildungssystems und ihrer Kommunikationsformen. Allerdings handelt es sich längst nicht mehr um die Suche nach einer Inter- oder Transdisziplinarität, bei der die disziplinäre Verortung noch im Vordergrund steht und man, bildlich gesprochen, nach der Überfahrt wieder in den sicheren Hafen der Disziplin zurückkehrt. Eine Selbstreparatur der Disziplin bedeutet jedoch auch nicht die völlige Aufgabe von Verortung. Schließlich hat die feministische Kritik offengelegt, dass wir so frei nicht sind. Wir haben es im kulturellen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich stets mit Situiertheiten und Framings zu tun, die uns als Person mehrfach binden. Die Herausforderung der Politiken der Reparaturgesellschaft besteht darin, dass wir aufgrund dieser Situiertheit intersektional denken und handeln müssen, um gesellschaftliche Emanzipation zu erreichen. Wenn die Große Reparatur der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten technischen Unmündigkeit ist, ist die Selbstreparatur der Ausgang der Disziplin aus ihrer selbstverschuldeten sozialen Unmündigkeit. Das Projekt The Great Repair ist ein Projekt der ARCH+ gGmbH in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin, dem Departement für Geographie und Raumplanung der Universität Luxemburg und dem Departement Architektur der ETH Zürich. Das Projekt umfasst zwei ARCH+ Ausgaben sowie ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm, das vom 14. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 in der Akademie der Künste, Berlin, stattfinden wird. Die vorliegende Ausgabe dient der theoretischen Einführung, die zweite wird Praktiken der Reparatur vorstellen und zur Eröffnung der Ausstellung am 13. Oktober 2023 als Katalog erscheinen. Danksagung Ohne die Unterstützung und das Vertrauen der Akademie der Künste, insbesondere von Johannes Odenthal, dem ehemaligen Programmbeauftragten der Akademie der Künste, Berlin, und seiner Nachfolgerin Johanna M. Keller wäre das Projekt in dieser Tiefe nicht zustande gekommen. Allen Förderern, insbesondere der Kulturstiftung des Bundes und der Wüstenrot Stiftung, allen Autor*innen, Gesprächspartner*innen, Künstler*innen und nicht zuletzt unseren Kolleginnen Marija Marić und Nazlı Tümerdem sowie dem ARCH+ Team, allen voran Nora Dünser und Felix Hofmann, gilt unser aufrichtiger Dank. Hortensia Völckers sprechen wir unseren tief empfundenen Dank aus. Ohne ihren Mut und ihre Vision von Kultur als gesellschaftliche Herausforderung hätten wir in ihrer nun auslaufenden Amtszeit als künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes solche ambitionierten
Forschungs-, Diskurs- und Ausstellungsvorhaben wie projekt bauhaus, Cohabitation oder The Great Repair nicht umsetzen können. 
 1 Vgl. Stefan Krebs, Gabriele Schabacher, Heike Weber (Hg.): Kulturen des 
Reparierens. Dinge – Wissen – Praktiken, Bielefeld 2018, S. 20: „Betrachten wir 
die Beschäftigungsstruktur von Ingenieuren als zentrale Akteure des Technischen, 
so sind die meisten heutigen Ingenieure nicht im Bereich von Entwicklung und 
Konstruktion tätig, sondern in Wartung und Reparatur.“ 2 Vgl. The World Meteorological Organization: „Temperatures in Europe increase more than twice global average“, Pressemitteilung vom 2.11.2022, public.wmo.int/en/media/press-release/temperatures-europe-increase-more-twice-global-average (Stand: 29.11.2022) 3 Wilfried Lipp: „Rettung von Geschichte für die Reparaturgesellschaft im 
21. Jahrhundert. Sub specie conservatoris“, in: ICOMOS – Hefte des Deutschen 
Nationalkomitees, Band 21 (1996): Das Denkmal als Altlast? Auf dem Weg in die Reparaturgesellschaft, S. 143–151, hier S. 146 4 Vgl. Wilfried Lipp: „Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Aspekte zur Reparaturgesellschaft“, in: Ders., Michael Petzet (Hg.): Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? Denkmalpflege am Ende des 20. Jahrhunderts, 7. Jahrestagung der Bayerischen Denkmalpflege, Passau, 14.–16. Oktober 1993, 
Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, Arbeitsheft 69, München 1994, S. 6–12 5 Lipp 1996 (wie Anm. 3), S. 144 6 Ebd., S. 146 f. 7 Siehe Claus Leggewie: Die 89er – Portrait einer Generation, Hamburg 1995 8 Siehe Jürgen Bertling, Claus Leggewie: „Die Reparaturgesellschaft. Ein 
Beitrag zur großen Transformation?“, in: Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.): Die Welt reparieren – Open Source und Selbermachen als 
postkapitalistische Praxis, Bielefeld 2016, S. 275–286 9 Karl Polanyi: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), übers. v. Heinrich Jelinek, Frankfurt a. M. 1978 10 Ebd., S. 88 f. 11 Bertling, Leggewie 2016 (wie Anm. 8), S. 276 12 Karl Marx: Das Kapital, Band I, MEW Band 23, S. 742 13 Siehe Yoshiharu Tsukamoto, Siena Hirao: „Lernen im Feld: Die Satoyama School of Design“, in: ARCH+ 249: Learning Spaces (September 2022), S. 196–203 14 Ein Claim, den Tsukamoto im Gespräch mit den Kurator*innen erhoben 
hat und gemeinsam mit Momoyo Kaijima für ihren geplanten Ausstellungsbeitrag für 
The Great Repair ausarbeiten wird. 15 Polanyi 1978 (wie Anm. 9), S. 70 16 Ebd., S. 107 17 Vgl. Daniel M. Abramson: Obsolescence – An Architectural History, 
Chicago/London 2016 18 Lipp 1996 (wie Anm. 3), S. 148 19 Leon Battista Alberti: „Zehntes Buch: Über die Wiederherstellung der 
Bauwerke“, in: Zehn Bücher über die Baukunst, übersetzt und hg. von Max Theuer, Darmstadt 1991 (Nachdruck der 1. Auflage von 1912), S. 523 ff. Editorial
Aktualisiert: 2023-01-05
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Stuttgart

Stuttgart
Über die Attraktivität Stuttgarts kursieren widersprüchliche Einschätzungen: Der ehemalige Spiegel-Jugendableger bento feierte die von Hängen umsäumte Stadt vor wenigen Jahren noch als, nun ja, „schönste Stadt der Welt“1 – jedenfalls wenn der Feinstaub sich legt. Jan 
Böhmermann hingegen bezeichnete die schwäbische Metropole vor einiger Zeit als „so schön wie zwei ineinander verkeilte Porsche Cayenne“2.Widersprüchlich klingen auch folgende Bewertungen: Stuttgart, so erkannte eine von CNN, Vogue und dem World Economic Forum verbreitete Studie im Jahre 2017, sei 
die „least stressful city in the world“3. Nur etwas später, im Jahre 2021, wurde Stuttgart mit Blick auf die Mietpreis­entwicklungen der Titel „teuerste 
Großstadt Deutschlands“ verliehen4. 
Wie passt all das zusammen? Fakt ist 
jedenfalls, dass Stuttgart zwar nur 
die sechstgrößte Stadt Deutschlands 
ist (nach Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt am Main), aber mit seiner Region ein Bruttoinlandspro­­dukt von 149 Milliarden Euro erwirtschaftet (was ungefähr der Wirtschaftskraft 
Ungarns entspricht). Nirgends in Deutsch­land werden mehr Patente angemeldet als in der Region Stuttgart mit ihren Global Players Mercedes-Benz, Porsche
und Bosch sowie weiteren etwa 
1.500 Firmen, darunter vielen Weltmarktführern. Gleichzeitig gehört die Stadt
mit rund 400 Hektar Rebfläche zu den größten Weinbau­gemeinden Deutschlands und verfügt nach Budapest 
über das zweitgrößte Mineralwasser­vor­kommen Europas. Doch über dem 
Vexierbild Stuttgart, das zwischen Land­schaftsraum und hochverdichteter Metropole, Kurortqualitäten und Industrie­standort changiert, dräuen dunkle Wolken, die da „Transformationsprozesse in der Automobilindustrie“ heißen. In der Region Stuttgart sind 
circa 215.500 Beschäftigte – das sind 
17,1 Prozent – in der Automobilwirtschaft beschäftigt.5 Doch die Branche wird 
zunehmend von Innovationen aus dem Silicon Valley und China unter Druck 
gesetzt. Man will in Stuttgart weder zum Detroit noch zum Ruhrgebiet der Zukunft werden. Daher stehen die Stadt und 
ihre Region vor der großen Aufgabe, sich proaktiv neu zu erfinden, nicht zuletzt mithilfe von Architektur und Stadtplanung. IBA’ 27 StadtRegion Stuttgart Vor diesem Hintergrund haben fünf lokale Akteure – die Stadt, 
der Verband Region Stuttgart, die 
Wirtschaftsförderung Region Stuttgart, die Universität und die Architektenkammer Baden-Württemberg – 
das Heft des Handelns in die 
Hand genommen und 2017 die 
Internationale Bauausstellung 2027 
StadtRegion Stuttgart (IBA’27) ins Leben gerufen. Diese IBA, die 
mit zehnjähriger Laufzeit eine Region in ihrer vollen industrialisierten 
Blüte in den Fokus nimmt, kann als 
Antithese zur IBA Emscher Park betrachtet werden, die zwischen 1989 und 1999 devn Strukturwandel des nördlichen Ruhrgebietes in Richtung postindustrieller Landschaft zu bewältigen versuchte. Eine Zwischenbilanz nach fünfjähriger Laufzeit der IBA’27 zieht die vor­liegende ARCH+ Ausgabe. Sie wurde in Kooperation mit dem Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart erarbeitet. Wie gestaltet sich in einem der wirtschaftlich stärksten Zentren Europas und 100 Jahre nach dem Aufbruch der Architekturmoderne am Stuttgarter Weissenhof die Zukunft des Bauens und Zusammenlebens? IBA-Intendant 
Andreas Hofer sieht die Antwort
im Programm einer „Produktiven 
Stadtregion“6. Die IBA-Webseite erläutert hierzu: „Digitale Transformation, roboterisierte Fabrikation und neue Mobilitätskonzepte ver­ändern Produkte und Produktions­weisen in der Region Stuttgart. Dies er­möglicht neue vertikal verdichtete 
Fabrikkonzepte und ihre Nähe zu lärm­em­pfindlichen Nutzungen, wie zum Beispiel dem Wohnen oder 
der Bildung. Für viele Räume in 
der Region eröffnet sich damit die 
Chance, sich neu zu erfinden. 
Die Produktion kehrt in die Stadt 
zurück, und Industrieareale werden zu Stadtbausteinen. Kleinteilige urbane Landwirtschaft versorgt die Stadt mit hochwertigen Lebens­mitteln, moderiert das Klima und erhöht die Biodiversität. Mit dieser neuen pro­duktiven Mischung
können heute gesichtslose Gewerbe und reine Wohngebiete zu ge­mischten, lebendigen und kreativen 
Stadtquartieren werden. Die Rückkehr der Produktion geht aber 
weit über die Nutzungs­mischung hinaus. Sie findet nicht nur klein­teilig in Erd­geschossen und 
Hinterhöfen statt, sondern nimmt die Fabrik als gleichberechtigten Stadtbaustein.“7 Das Programm der „Produktiven Stadtregion“ erfordert auf (architektur-)theoretischer Ebene eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Begriffe der Produktion, der Produktivität und der Arbeit, zumal auch die 
Corona-Pandemie auf dem Feld der Architektur, der Stadtplanung und der Arbeitsprozesse massiv Folgen zeitigt – nicht zuletzt in der Stadtregion Stuttgart. 
Auch dort wird wohl nach der Pandemie die jahrzehntelang typische Fünf-Tage-Bürowoche für einige Arbeitnehmer*innen obsolet sein. Wie im Juni 2021 die 
Stuttgarter Nachrichten berichteten, haben etliche Unternehmen ihren Mitarbeiter*innen flexiblere Arbeitsmodelle für die Zukunft zugesichert.8 Vor allem IT-
Unternehmen gehen noch weiter und wollen das 
Homeoffice dauerhaft als neue Normalität etablieren. Cawa Younosi, der als Deutschland-Personalchef bei Europas größtem Softwarekonzern SAP für rund 25.000 Beschäftigte zuständig ist, sagt: „Bei den meisten SAP-Mitarbeitern spielt es keine Rolle, von wo aus sie arbeiten. Wenn es die Tätigkeit nicht zwingend verlangt, an einem bestimmten Ort präsent zu sein, haben die Mitarbeiter bei der Wahl ihres Standorts alle Freiheiten.“9 Besonders radikal positioniert sich in diesem Zusammenhang das US-amerikanische IT-Unternehmen Hewlett Packard, dessen deutscher Ableger in 
Böblingen rund 2.000 Mitarbeiter*innen beschäftigt: 
Es erklärte das Homeoffice generell zum neuen 
Standard-Arbeitsort für die meisten Mitarbeiter*innen und erlaubt künftig möglichst immer Homeoffice. 
Im Zuge dieses Wandels sollen die Büros zu Orten 
„der Begegnungen und des Austauschs“ umgestaltet werden.10 Das Unternehmen erklärte: „Man geht dort 
also vor allem hin, um an Besprechungen, Team-
Meetings, Workshops, Trainings oder Feiern mit Kollegen, Kunden und Partnern teilzunehmen.“11 Man wisse
aus Mitarbeiterumfragen, dass ortsunabhängige Arbeit von einer großen Mehrheit nicht nur sehr 
geschätzt werde, sondern obendrein zu einer höheren Produktivität führe.12 Selbst in der in puncto Präsenzarbeit eher traditionell eingestellten Automobilbranche hat sich durch Corona einiges bewegt. So können beispielsweise bei Porsche die Mitarbeiter*innen 
künftig an bis zu zwölf Tagen im Monat mobil arbeiten, wenn sie nicht in der Produktion arbeiten.13 Vor der Pandemie waren zwei Homeoffice-Tage in der Woche erlaubt. Die Corona-Pandemie – soviel ist schon jetzt deutlich geworden – wird starke Auswirkungen auf gängige Vorstellungen vom Zusammenspiel von 
Wohnen und Arbeiten haben. Die vorliegende ARCH+ geht im Sinne eines „(Post-)Corona Issue“ diesem 
Wandel nach. Zum Aufbau des Heftes Damit ist der Fluchtpunkt dieses Heftes bereits angesprochen. Um in umgekehrter Reihenfolge mit dem Schlusskapitel zu beginnen, das sich der Zukunft der Arbeit im Kontext einer (Post-)Covid-City widmet: 
In drei so genannten Transformation Talks geht 
es auf drei unterschiedlichen Maßstabsebenen – 
dem Betrieb, der Stadtregion (Stuttgart) und 
dem Land (Baden-Württemberg) – um laufende Trans­formations­prozesse in Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie sowie deren Konsequenzen für Architektur, Stadt- und Raumplanung. Flankiert werden diese Gespräche von zwei theoretischen Beiträgen: einmal Leo Herrmanns Analyse der Handlungsspielräume 
einer Region-Stuttgart-IBA, die den Anspruch einer „präemptiven Transformation“ formuliert hat; und schließlich Christian Holls Entwurf einer „Zukunft
der Arbeit als kulturelles Projekt“. Dem Schlusskapitel voran geht ein Mittelteil, in dem ausgewählte IBA’27-Projekte und -Quartiere in Stuttgart und in den umliegenden Orten Backnang, Fellbach, Kernen, Sindelfingen, Wendlingen und Winnenden vorgestellt werden. Da noch keine der Projekte und Quartiere 
fertig gestellt sind, werden aktuelle Planungsstände mit Referenzprojekten kombiniert und in Kommentaren 
evaluiert. Im Grundsatzbeitrag des Mittelteils, der den Titel „Die Stadt der Zukunft ist gebaut“ trägt, em­­pfiehlt Andreas Hofer, die gerade in Stuttgart besonders nervös geführten Debatten zwischen Modernen und Traditionalisten bzw. Postmodernen zu beenden 
und „sich den Herausforderungen einer Zukunft zu stellen, die keinen Platz für heroische Neuschöpfungen lässt“. Dafür müsse „das Herrische und Normative radikal aus dem Schöpfungsprozess von Stadtplanung und Architektur“ gestrichen und durch „die Ko-
Kreation von Raum und Gemeinschaft“ ersetzt werden. Es geht, so Hofer, „um eine prozesshafte Kultur 
des Weiterbauens anstelle von auf den Neubau aus­gerichteten, baurechtlichen Regeln“. Hofers pragmatisches Plädoyer dafür, den Status quo (Stuttgarts) als potentielles Terrain für eine Zukunft nicht-utopischer Orte zu verstehen, steht im Dienste des „Zielbildes“: der „produktive, gerechte und lebenswerte Metropolraum im postfossilen Zeitalter“. Diesem Zielbild wird mit dem Einstiegskapitel, 
in dem es um eine Geschichte Stuttgarts und seiner Region mit besonderem Fokus auf das Produktions­paradigma geht, eine historische Grundlage bereitet. Den (geologischen) Grund bereitet hier Maik Novotny mit einem „mineralischen Psychogramm Stuttgarts 
und seiner Region“, gefolgt von Leo Herrmanns industriegeschichtlichem Aufsatz über Stuttgart zwischen „Motor und Verzweiflung“. Dem schließen sich Kerstin Renz’ Analyse des Stuttgarter Charlottenplatz als Hochamt der autogerechten Stadt sowie ein Beitrag des Verfassers zur Antithese dazu an: dem Schicksal der postmodernen Stadt am Beispiel Stuttgarts. Den Abschluss des historischen Überblicks bilden die von Verena Hartbaum vor dem Hintergrund von „Stuttgart 21“ formulierte Rekapitulation von Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung in Stuttgart 
und anderswo, Katharina Stolz’ und Klaus Jan 
Philipps historische Parade über unverwirklichte „Stuttgarter Utopien“ sowie Elena Markus’ und Nick Försters Odyssee durch Stuttgarts „dirty realism“ 
der industriellen Stadt. Im beigefügten Heft-im-Heft 
des ARCH+ features findet sich – neben einer Teil­dokumentation des Entwurfs einer „Metaeuropäischen Stadt“ am IGmA der letzten Jahre – auch ein Porträt eines Stuttgarters, der ideell gleichsam über dem gesamten Heft schwebt: Wolfgang Frey (1960–2012). Frey errichtete in einem geheimen, kafkaesk an­mutenden Zwischengeschoss der S-Bahnhaltestelle Schwabstraße jahrzehntelang eine gigantische, schließlich auf 180 Quadratmeter angewachsene Modelleisenbahnanlage, die das komplette Gleis­feld seiner Heimatstadt Stuttgart und die daran anschlie­ßenden Stadtteile in detailgetreuer Nachbildung inklusive aller Verkehrszeichen zeigt. Um an die Pläne der komplizierten Trassenführung des Hauptbahnhofs zu gelangen, heuerte er bei der Bahn an, ließ sich 
zum Fahrdienstleiter ausbilden und arbeitete in dieser Funktion jahrelang im Hauptstellwerk von Stuttgart.14 Innig verwachsen mit seinem Job, fertigte er für 
den Vorraum seiner Modelleisenbahnanlage sogar 
eine exakte 1:1-Replik seines Arbeitsplatzes im Hauptstellwerk an. Selten fallen Leben und Arbeiten 
so in eins wie bei Wolfgang Frey. Entsprechend wird 
er als personifiziertes Dementi sowohl der Charta 
von Athen mit ihren feinsäuberlich getrennten Funktionszonen Arbeit, Wohnen, Freizeit und Verkehr als auch der „Europäischen Stadt“ mit ihrem Tertiärisierungsfokus und ihrer Ignoranz industrieller Produktionssphären vorgestellt. Diese ARCH+ über Stuttgart (und seine Region) musste eine Auswahl unter den vielen IBA’27-Projekten treffen – und thematisiert insbesondere jene, die 
einen engen Bezug zum Heftthema der „produktiven Stadtregion“ aufweisen. Spektakuläre Uni-Stuttgart-Projekte wie das derzeit auf dem Campus Vaihingen 
im Bau befindliche, 36 Meter messende Hochhaus 
des SFB 1244 „Adaptive Hüllen und Strukturen 
für die gebaute Umwelt von morgen“ (das bereits
offizielles IBA-Projekt ist) oder das sich noch in 
Planung befindliche Demonstrator-Gebäude 
(Large-Scale Construction Robotics Laboratory) des Exzellenzclusters „Integratives computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur“ (IntCDC; hier 
ist der Prozess für die Nominierung als IBA-Projekt noch im Gange), seien an anderer Stelle gewürdigt.15 Dieses Heft versteht sich vor allem als ein Kommentar zu den Städtebaudebatten der letzten Jahrzehnte, 
die ab den 1970er-Jahren und besonders intensiv seit den 1980er-Jahren von Stichworten wie „kompakte Stadt“, „Europäische Stadt“, „Postindustrialisierung“, „Eventisierung“ und „Neoliberalisierung“ geprägt sind, und die eine Art großes Unbewusstes des Urbanismus erzeugt haben: die Welt der Industrieanlagen, der Fabriken, der Produktionssphäre (und damit auch der Frage nach dem Verkehrsaufkommen zwischen 
Arbeit und Wohnen) – ausgerechnet jene Arbeitswelten also, die zur Herausbildung der modernen Disziplin „Städtebau“ überhaupt erst geführt hatten. Insbesondere der Fall des Eisernen Vorhangs hatte eine noch 
nie dagewesene und kaum noch zu überblickende Verlängerung der globalen Lieferketten zur Folge. Seither – und Ausnahmen bestätigen nur die Regel 16 – entfalten sich die weltumspannenden Vernetzungen 
der Industrieanlagen auf der einen Seite und ein nach wie vor und viel zu stark auf tertiarisierte „Mitten“ fokussierter Urbanismusdiskurs auf der anderen Seite in weitgehender kognitiver Entkopplung zueinander. Metropolregionen wie Stuttgart, deren „schmutziger Realismus“ nach wie vor durch klein-, mittel- und großmaßstäbliche Industrieanlagen geprägt ist, kommt daher eine wichtige Korrektivrolle zu: Städte – 
daran erinnern uns unter deutschen Großstädten vor allem Stuttgart und sein Speckgürtel – sind eben 
nicht nur touristisch optimierte Dienstleistungs- und Konsum-Monokulturen mit flächendeckender Versorgung ungeahnter Kaffeekreationen, sondern können auch Poiesis-Territorien sein: Orte, an denen breitenwirksam und großmaßstäblich handelbare Artefakte entwickelt, patentiert und gefertigt werden. Dies alles wieder in das Blickfeld von Architektur 
und Stadtplanung zu bringen und mit den Wohn- und Lebensformen der Gegenwart und wünschbaren Zukunft abzugleichen, möge zum Erkenntnisspektrum dieser Ausgabe gehören. Mein herzlicher Dank gilt Leo Herrmann, der 
von Seiten des IGmA die Redaktionsarbeit für 
diese Ausgabe leitete, sowie allen Autor*innen und Gesprächspartner*innen, die zu dieser Ausgabe beigetragen haben. Ebenso herzlich möchte ich Andreas Hofer und seinem Team von der IBA’27 sowie Anh-Linh Ngo und allen Mitarbeiter*innen der ARCH+ für die angenehme und fruchtbare Zusammenarbeit danken. 1 Uwe Bogen: „Stuttgart, der ewige Spitzenreiter: Willkommen in der schönsten Stadt der Welt!“, in: Stuttgarter Nachrichten, 25.1.2017, www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-der-ewige-spitzenreiter-willkommen-in-der-schoensten-stadt-‘der-welt.ef368308-d558-4548-aa96-a62626f6eee2.html (Stand: 1.5.2022) 2 Zit. nach Tag24.de: „Jan Böhmermann zieht in seiner ZDF-Show über 
Stuttgart her“, 5.12.2020, www.tag24.de/unterhaltung/promis/jan-boehmermann/
jan-boehmermann-zieht-in-seiner-zdf-show-ueber-stuttgart-her-1750300 (Stand: 1.5.2022) 3 Elise Taylor: „Travel – Why Is Stuttgart, Germany, The Least Stressful City 
In The World?“, in: Vogue, 15.9.2017, www.vogue.com/article/why-is-stuttgart-
germany-the-least-stressful-city-in-the-world (Stand: 1.5.2022) 4 Vgl. „Stuttgart ist die teuerste Großstadt Deutschlands“, in: Stuttgarter 
Zeitung, 25.3.2021, www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.bestandsmieten-2020-
gestiegen-stuttgart-ist-die-teuerste-grossstadt-deutschlands.b3b04ea3-44ef-4c93-b7a1-a74453d09462.html (Stand: 1. Mai 2022) 5 Jürgen Dispan, Andreas Koch, Tobias König: Strukturbericht der Region 
Stuttgart 2019, Stuttgart/Tübingen 2019, www.iaw.edu/files/dokumente/
Strukturbericht_Region_Stuttgart_2019.pdf, S. 79 6 Vgl. IBA’27: „Die IBA’27 hat ihr Programm gefunden: ‚Produktive Stadtregion‘ im Mittelpunkt“, www.iba27.de/die-iba27-hat-ihr-programm-gefunden-produktive-stadtregion-im-mittelpunkt (Stand: 1.5.2022) 7 Zit. nach IBA’27: „Neuerfindung einer Stadtregion: Themen und Räume“, 
www.iba27.de/wissen/iba27/themen-und-raeume (Stand: 1.5.2022) 8 Vgl. „Diese Firmen machen das Homeoffice zur neuen Arbeitsnormalität“, in: Stuttgarter Nachrichten, 3.6.2021, www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.
coronapandemie-diese-firmen-machen-das-homeoffice-zur-neuen-arbeitsnormalitaet.
3fa6a286-261d-4a15-9d4e-d63873801eb9.html (Stand: 1.5.2022) 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Zit. nach ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. hierzu und im Folgenden Begleitbüro SOUP: „Das Wolfgang-Frey-
Projekt“, begleitbuero.de/das-wolfgang-frey-projekt-2 (Stand: 1.5.2022) 15 Weitere Informationen zur Beteiligung der Universität Stuttgart an der IBA’27 finden sich hier: www.beschaeftigte.uni-stuttgart.de/uni-aktuell/meldungen/
iba2027-lenkungskreis (Stand: 1.5.2022) 16 Als Ausnahme der Regel ist beispielsweise zu erwähnen: Hiromi Hosoya, 
Markus Schaefer (Hg.): Industrie.Stadt – Urbane Industrie im digitalen Zeitalter, Zürich 2021
Aktualisiert: 2022-07-07
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Fassadenmanifest

Fassadenmanifest
Anh-Linh Ngo mit Sascha Kellermann Fassadenmanifest Die Herausbildung des modernen Architekten fällt mit der Erfindung der Fassade als eigenständige Bauaufgabe zusammen. Es waren Theoretiker wie Leon Battista Alberti oder Filarete, die im 15. Jahrhundert den Architekten als Urheber architektonischer Konzepte, als Planverfasser, oder, wie es Filarete formulierte, als „zeichnenden Denker“, mithin als geistigen Arbeiter aus der handwerklichen Tradition des Baumeisters herauszulösen suchten. In diesem epochalen Umbruch sind die architekturtheoretischen Traktate von Alberti und Filarete zu verorten, die „Architektur als politische Sprache“ etablieren und damit den Architekten diskursiv auf Augenhöhe mit den Herrschenden emporheben wollten, wie der französische Historiker Patrick Boucheron überzeugend argumentierte.1 Dies hat weit­reichende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Disziplin, denn der Architekt ist fortan, so Boucheron, „nicht allein dazu da, dem Wunsch des Auftraggebers zu folgen, sondern dazu, ihn zu interpretieren und zu einem Diskurs zu verarbeiten, der die Zustimmung der Mehrzahl finden soll“. Im 15. Jahrhundert wird im Übergang von der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung zur Neuzeit die absolutistische Macht neu konfiguriert. In dieser Umbruchszeit fällt den Architekten eine neue Aufgabe zu: Sie sollen dort, wo die Interessen der Bauherrschaft mit den Interessen des Gemeinwohls aufeinandertreffen – an der Schnittstelle des Bauwerks zum öffentlichen Raum also – architektonischen Ausdruck und politische Aussage in Einklang bringen und legitimieren. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die bahnbrechenden Ideen Albertis und vieler seiner Zeitgenossen sich zunächst vor allem im Medium der Fassade äußerten. Je nach politischer Programmatik bedienten sie sich dabei der Rhetorik der Einschüchterung, der Beeindruckung oder auch der Überzeugung, um der Gesellschaft die Machtverhältnisse zu vermitteln. Auch wenn Alberti für eine angemessene politische Sprache (der Architektur wie der Macht) und deren Einbindung in die Stadt eintritt, führt dieser Schritt den Berufstand in ein unentrinnbares Dilemma: In dem Moment, in dem sich der Architekt als Denker neu erfindet, macht er sich zugleich gemein mit der Programmatik der Macht, die er architektonisch diskursiviert. Das heißt, er kann von nun an intellektuell in Mit-Haftung genommen werden und sich nicht mehr auf die Position des Handwerkers zurückziehen, der nur ausführt, was andere gedacht haben. Diesem Widerspruch wird er von nun an nicht mehr entkommen, egal welchem Auftraggeber er auch immer mit seinen Diskursen zu Diensten sein wird – und sei es einer solch abstrakten Macht wie dem Kapital heute. Es ist dieser Hintergrund, der uns noch heute Fassaden als Trägerinnen von Bedeutung und Ideologie ansehen lässt. Die Diskursivierung der Fassade ermöglicht es, die nonverbale, bildhafte Wirkung von Häuserfronten zu beschreiben, zu analysieren und auf ihre rhetorischen Figuren hin zu untersuchen. In ihnen manifestieren sich ideologische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Programme, nicht zuletzt im Sinne der Verdinglichung der arbeitsteiligen, kapitalistisch organisierten Gesellschaft, wie der Philosoph Wolfgang Scheppe nicht müde wird zu betonen.2 In seinem Leitartikel für dieses Heft arbeitet Scheppe heraus, dass die Behandlung der Gebäudeschauseiten seit der Renaissance bis in die Gegenwart als Ausdruck der jeweiligen Macht- und Produktionsverhältnisse betrachtet werden kann. Die Fassade kommt, so Scheppe, immer dann ins Spiel, „wenn der physische Nutzen und also Gebrauchswert transzendiert wird in einen gegen ihn selbständigen und indifferenten Zeichencharakter.“ Diese Entkoppelung des Gebrauchswertes von seiner Erscheinung hat bereits der Philosoph Wolfgang Fritz Haug in gleicher marxistischer Tradition in seiner Kritik der Warenästhetik (1971) beschrieben: „Hinfort wird bei aller Warenproduktion ein Doppeltes produziert: erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes. […] Mit dem System von Verkauf und Kauf tritt auch der ästhetische Schein, das Gebrauchswertversprechen der Ware, als eigenständige Verkaufsfunktion auf den Plan.“3 Einen ähnlichen Vorgang können wir im Zusammenhang mit der Fassade feststellen: So wie die Erscheinung einer Ware ein bestimmtes „Gebrauchswertversprechen“ signalisiert, dieser ästhetische Schein sich aber von der Ware löst und zur „eigenständigen Verkaufsfunktion“ wird, so können wir auch die Ablösung der Schaufassade vom dahinterliegenden Gebäude beobachten. Es sind vor allem die Fassaden, die in Anbetracht der Globalisierung und Digitalisierung im Wettbewerb stehen und mit ihrer massenhaften Verbreitung gesellschaftliche Diskurse prägen. In ihrem Essay zur Architektur im Zeitalter ihrer digitalen Darstellung und Verbreitung umschreiben die beiden Kuratorinnen Fabiola Fiocco und Giulia Pistone die Verschärfung dieses Phänomens mit dem Begriff digitaler Konsum: „Es geht dabei nicht in erster Linie um ihre architektonische Nutzung – Häuser, in denen man wohnt, Restaurants, in denen man speist, Museen, die man besucht –, sondern um ihre visuellen Qualitäten. Es geht um Bilder von ihnen und die Rolle, die diese in der Darstellung von in den sozialen Medien beliebten Lifestyles spielen.“ Mit Haug gesprochen löst sich in der Spätmoderne der ästhetische Schein bzw. das Gebrauchswertversprechen (die Fassade) nicht nur von der Ware (das zu nutzende Gebäude), sondern wird selbst zur Ware (das digital zu konsumierende Abbild). Dabei kann die Fassade längst nicht mehr auf die Außenseiten eines Gebäudes reduziert werden. „Die Schauseite – ob der Personen, Kutschen oder Gebäude – ist zum Repräsentieren. Die private Sphäre ist der Rückzugsraum hinter der Bühne. Draußen ist ständig Theater, drinnen darf man sich vom Auftritt erholen und auf das Auftreten vorbereiten“4, schreibt der Architekturtheoretiker Georg Franck noch 1998 über den begrenzten Zugriff in der Welt der Aufmerksamkeitsökonomie. Eine Aussage, die heute längst überholt ist: Denn mit dem umfassenden Zugriff der Sozialen Medien und digitalen Plattformen dringt das Prinzip der Schauseite auch in privateste Lebensbereiche vor und erodiert den Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Räumen und Rollen. Alles ist Bühne, jede Handlung ein Auftritt. Oder wie es Walter Benjamin, ein Stichwortgeber für dieses Heft (das ursprünglich den anspruchsvollen Arbeitstitel „Das Fassaden-Werk“ trug), in seinem monumentalen geistigen Steinbruch Das Passagen-Werk als Vorahnung bereits formulierte: „Das Interieur tritt nach außen. Es ist als wäre der Bürger seines gefesteten Wohlstands so sicher, daß er die Fassade verschmäht, um zu erklären: mein Haus, wo immer ihr den Schnitt hindurch legen mögt, ist Fassade. […] Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße. Der betrachtende Passant steht gleichsam im Erker.“5 Während sich für Benjamin in der „Passage“ der Kapitalismus im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts architektonisch manifestierte, spiegelt für uns die Fassade politische und ökonomische Strategien und ästhetische Fragen am deutlichsten im Raum wider – nicht zuletzt, weil sie mindestens seit der Renaissance, wie eingangs dargelegt, einem politischen Diskurs unterliegt und dadurch die in der Gesellschaft vorherrschenden Kräfte und Ideologien ablesbar macht. Auf eine dieser Wirkmächte weisen verschiedene Autor*innen in dieser Ausgabe hin. Die Bildproduktion und der Bildkonsum von Architektur haben Fiocco und Pistone zufolge längst wirtschaftlich relevante Dimensionen erreicht. Ob die Umsetzung eines Großprojektes erfolgreich ist, hängt nicht zuletzt vom Erfolg der werbenden Bilder ab. So war das Rendering der Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron Jahre im Voraus medial präsent und wurde zum politischen Instrument, welches das Verhältnis von Objekt und Abbild umkehrte: Die Realität muss sich am digitalen Vorbild messen. Dieser Vorgang zeitigt längst unheimliche Entwirklichungseffekte vor allem bei internationalen Großprojekten, wie die Architekturkritikerin Simone Brott im Interview feststellt. Man könnte sagen, die Welt ist zum Bild geworden, und dieses Bild legt sich stets retinal über die Wirklichkeit. Die Betrachtung der Fassade kann also nicht mehr nur auf den physischen Raum reduziert werden, sondern muss deren digitalen Zwilling mit in den Blick nehmen. Das Bild hat sich verselbständigt und sich im Zuge dessen verfestigt. Es ist entgegen dem Gerede von seiner Flüchtigkeit und Immaterialität dasjenige, das am längsten währt und am weitesten reicht. Die härteste Währung unserer Zeit – wenn man den astronomischen Preisen von NFT-Kunstwerken Glauben schenkt. Das vorliegende Heft schaut der zeitgenössischen globalisierten Stadt ins Gesicht, versucht, hinter ihre Masken zu blicken und den Wert ihrer Bildnisse einzuschätzen. Anhand ausgewählter Projekte untersucht die Ausgabe nicht nur, welche gesellschaftlichen Kräfte und Machtverhältnisse auf die Entstehung von Fassaden einwirken, sondern auch, welche Kräfte von ihnen ausgehen. Von der Londoner City über Selbstbauviertel von Mexikostadt bis in virtuelle Welten. Das Fassadenmanifest, wie wir dieses Heft selbstbewusst nennen, ruft dazu auf, die Fassaden und Architekturbilder nicht einfach nur zu konsumieren, sondern sie in einer intellektuellen Anschauung zu entziffern. Der Erkenntnisgewinn dabei lautet: dass der Kampf um Aufmerksamkeit global tobt und sich lokal auswirkt; dass Bilder auch konkrete und diffuse Gewalt ausüben; dass Fassaden in unseren Städten gesellschaftliche Diskurse prägen; dass bei diesem Kampf Fragen der Repräsentation, der Identität, der Teilhabe meistens auf der Strecke bleiben. Doch klar ist auch, dass es kein Zurück in vordigitale Zeiten geben wird, zumindest nicht um den Preis der Regression. Die Zukunftsaufgabe wird sein, dem ungeregelten öffentlichen Raum des Internet „eine visuell-ästhetische Ordnung zu geben“, wie es der Ausblick von Michel Kessler am Ende der Ausgabe formuliert. Wir müssen uns dazu befähigen, „mit den Spezies aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz, mit den Cyborgs, Chimären, Mutanten und Bots zu kommunizieren, sie zu zähmen, ja aus einer sinnlichen und geistigen Lust hinter ihre Fassaden zu steigen und mit synthetischen Zungen aus ihnen heraus zu reden.“ Anders gesagt: Wir müssen uns – wie ehedem Alberti im 15. Jahrhundert – diskursiv auf Augenhöhe mit den herrschenden Mächten unserer Zeit emporheben, die in Form von Codes und Algorithmen dem Alltag bereits ihren Stempel aufdrücken. Der Preis, den wir zu zahlen haben, ist bekannt: Die Programmatik der Macht von heute architektonisch zu diskursivieren heißt, dass wir abermals intellektuell mit in Haftung genommen werden und uns nicht mehr auf die Position zurückziehen können, wir führten nur aus, was die Algorithmen uns eingeben. In dieser Verantwortung stehen Architekt*innen im 21. Jahrhundert. Dank Für die Initiative zu dieser Ausgabe möchte ich Raphael Dillhof und Stefan Fuchs meinen großen Dank aussprechen. Sie haben uns mit auf eine faszinierende Reise hinter die Fassade genommen. Dank gebührt auch Nina Lucia Groß, die den beiden mit Rat und Tat zur Seite stand und deren Exkurs zum Bild europäischer Architektur in Florida wir online veröffentlichen. Ein weiterer Online-Beitrag stammt von Bettina Vismann. Danken möchte ich auch dem ARCH+ Team, allen voran Sascha Kellermann sowie Nora Dünser, Max Kaldenhoff, Michel Kessler, Markus Krieger, Goran Travar und Joanna von Essen. ALN 1 Patrick Boucheron: „Von Alberti zu Macchiavelli: die architektonischen Formen politischer Persuasion im Italien des Quattrocento“, in: trivium. Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften (Februar 2008), übers. v. Achim Russer, doi.org/10.4000/trivium.2292 (Stand 11.10.2021) 2 Vgl. Wolfgang Scheppe: „Architektur als Verdinglichung – Realabstraktion und Fassade“, in: ARCH+ 204: Krise der Repräsentation (Oktober 2011), S. 8–17 3 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971, S. 16 f. 4 Georg Frank: Ökonomie der Aufmerksamkeit – Ein Entwurf. München 2007, S. 54 5 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1982, S. 512
Aktualisiert: 2021-11-25
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Wien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)

Wien: Das Ende des Wohnbaus (als Typologie)
Wenn nach Vorbildern für eine gelungene Wohnbaupolitik gesucht wird, landet man über kurz oder lang immer im Roten Wien. Sein Mythos ist nach wie vor ungebrochen und verdankt sich der anhaltenden politischen Einsicht der Wiener Kommune, dass Wohnen eine gesellschaftliche Aufgabe ist und nicht allein dem Markt überlassen werden darf. Im Laufe eines bewegten Jahrhunderts hat die Wiener Wohnbaupolitik trotz dieses Grundkonsenses viele Häutungen und Wandlungen durchlaufen und ist dabei durchaus auch marktförmiger geworden. Doch zwei entscheidende Dinge hat sie nie aus dem Blick verloren: Die Notwendigkeit des Aufbaus und Unterhalts eines Wohnraumbestands und seiner dauerhaften sozialen Bindung sowie die Bodenbevorratung. Vor diesem Hintergrund und dem enormen Bevölkerungswachstum der österreichischen Hauptstadt, mit dem aktuell eine rege Bau- und Entwicklungstätigkeit einhergeht, wird in dieser Ausgabe am Beispiel Wien ganz allgemein der Status quo des Wohnbaus thematisiert. Wenn heute Wohnraum bauen, dann wie? Entsprechen monofunktionale Typologien und die funktional-räumliche Trennung von Leben und Arbeiten noch unseren Lebensrealitäten? Wie sozial ist sozialer Wohnungsbau? Diese und viele andere Fragen zu der Zukunftsperspektive des (Wiener) Wohnens beantwortet ARCH+ 244 anhand von Essays, Projektvorstellungen und Gesprächen mit Akteur*innen des Wiener Wohnbauwesens. Diese Ausgabe ist in enger redaktioneller Zusammenarbeit mit dem Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien entstanden, namentlich mit Michael Obrist (Professor für Wohnbau und Entwerfen) sowie Christina Lenart (Projektleitung) und Bernadette Krejs, deren Forschungsprojekt „Diskursraum Wohnbau Wien“ diesem Heft zugrunde liegt.
Aktualisiert: 2021-08-19
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Klaus Heinrich – Dahlemer Vorlesungen. Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt

Klaus Heinrich – Dahlemer Vorlesungen. Zum Verhältnis von ästhetischem und transzendentalem Subjekt von Heinrich,  Klaus
Fast vier Jahrzehnte nachdem der Religionsphilosoph Klaus Heinrich Ende der 1970er-Jahre seine Architekturvorlesungen an der Freien Universität Berlin gehalten hat, veröffentlichen wir dieses originäre Werk, das in seinem aufklärerischen Impetus unerhört aktuell geblieben ist. Faszinierend ist nicht nur das breite Wissen, auf das Heinrich seine Argumentation aufbaut, sondern vor allem seine Art Fragen zu stellen, die in dieser Form ein Architekturhistoriker nicht aufgeworfen hätte. Die Vorlesungen stellen im Kern eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit dem NS dar und fragen nach der Willfährigkeit des Klassizismus.
Aktualisiert: 2022-01-27
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Contested Modernities

Contested Modernities
Editorial In der Moderne heimisch werden Text: Anh-Linh Ngo Architektur und Städtebau waren immer schon Instrumente der Identitätskonstruktion. Das gilt nicht nur für die Rekonstruktion verlorener historischer Bauten und Stadtensembles, wie sie derzeit als rechtsgerichtete Projekte in Europa realisiert werden. Es gilt auch in besonderer Weise für die Epoche der Moderne. Die Imagination einer heilen Vergangenheit und der Entwurf einer besseren Zukunft sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf diesen politischen Zusammenhang weist die vorliegende Ausgabe zur Architekturmoderne in Kambodscha, Indonesien, Myanmar und Singapur hin, die als Ausdruck des Ringens dieser Gesellschaften um eine postkoloniale Zukunft diskutiert wird. Dieser politische Betrachtungswinkel hebt sie aus einer rein architekturhistorischen Betrachtung heraus und greift in den aktuellen Diskurs ein. Die Relevanz dieses Heftes besteht nämlich darin, dass es uns in den Begegnungen mit der südostasiatischen Moderne daran erinnert, wie eng Architektur und Ideologie miteinander verwoben sind, im Guten wie im Schlechten. Im Schlechten, weil die Moderne von Machthabern unterschiedlichster Couleur top-down benutzt wurde, um ihre nationalistischen Interessen durchzusetzen. Im Guten, weil sich mit den Zukunftsentwürfen stets auch eine progressive Vorstellung von Gesellschaft verband. Im Kontext des Siegeszuges des entpolitisierten Internationalen Stils nach dem Zweiten Weltkrieg ist es eine aufregende Entdeckung, wie stark die Moderne in Südostasien politisch aufgeladen war. Doch Architektur allein aus dem Blickwinkel des ideologischen Überbaus zu betrachten, würde bedeuten, den entscheidenden Aspekt ihrer Wirkmacht zu übersehen. Es hieße, wie der indonesische Kurator Setiadi Sopandi in dieser Ausgabe treffend bemerkt, dass man „die Komplexität der Architektur auf eine bloße Repräsentationsfunktion reduziert“. Unter allen menschlichen Kulturerzeugnissen sticht die Architektur insofern hervor, als sie Über- und Unterbau zugleich ist, wie der marxistische Architekturtheoretiker Douglas Spencer in ARCH+ 231 The Property Issue betont hat (S. 174). Denn sie prägt nicht nur als gesellschaftliches Narrativ unser Denken, sondern greift auch als Unterbau, als materielle Grundlage unseres Alltagslebens, in die Le­bens­realität der Menschen ein, die in ihr leben und arbeiten. Aufgrund dieses dualen Charakters ist sie in der Lage, nicht nur Ideologien, sondern auch kulturelle Grenzen zu transzendieren. Die originären Ausprägungen, Interpretationen und Aneignungen der Moderne in Kambodscha, Indonesien, Myanmar und Singapur, die in dieser Ausgabe vorgestellt und kritisch diskutiert werden, verdeutlichen diesen Spagat eindrücklich. Und schließlich erinnert die Auseinandersetzung mit der südostasiatischen Moderne uns daran, dass die moderne Bewegung keine exklusiv westliche Entwicklung war, sondern vielstimmig und vielschichtig, global eingebunden. Es geht hier jedoch nicht um die kulturelle Aneignung stilistischer Merkmale allein, sondern vielmehr um die Aneignungsoffenheit der Moderne für die Lebensweisen der Nutzer­*innen und Bewohner*innen an sich. Erst wenn sie bottom-up, von unten im Gebrauch das Leben der Menschen bereichert, wird Architektur lokal wirkmächtig. Diese – gar nicht so neue – Einsicht macht auch klar, welche Aufgabe uns immer noch bevorsteht: die Spannung zwischen universalistischen Ansprüchen und spezifischen gesellschaftlichen Kontexten zu balancieren. Erst dann können wir in der Moderne heimisch werden. P.S.: Während wir die Ausgabe fertigstellen, werden die demokratischen Proteste in Myanmar durch das Militär brutal niedergeschlagen. Der Kampf für eine emanzipatorische Zukunft dauert an. Indem wir mit dem Ringen um eine lokale Moderne eine bisher kaum bekannte Seite des Landes vorstellen, bringen wir unseren Respekt und Solidarität mit den Menschen in Myanmar zum Ausdruck. Dank Diese Ausgabe verdankt sich der Pionierarbeit des Projekts Encounters with Southeast Asian Modernism von Sally Below, Moritz Henning, Christian Hiller und Eduard Kögel, die es 2019 initiiert und kuratiert haben, um im Rahmen des Bauhausjubiläums die Vielstimmigkeit in der Rezeption und die Gleichrangigkeit der unterschiedlichen Perspektiven der Moderne(n) in Südostasien zu untersuchen. Für die fruchtbare Zusammenarbeit im Rahmen der Gastredaktion möchte ich ihnen ebenso wie allen Beitragenden herzlich danken. Ein großer Dank gilt auch dem Team von ARCH+ für die Übersetzung dieses Wissenskorpus in eine außergewöhnliche Ausgabe, allen voran Mirko Gatti (Projektleiter), Nora Dünser (CvD), Max Kaldenhoff (Kreativleitung), Melissa Koch (Redaktion) sowie Julius Grambow und Leonie Hartung (Redaktions­assistenz).
Aktualisiert: 2021-07-20
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Berlin Praxis

Berlin Praxis
Dieses Heft ist die zweite unserer beiden Berlin-Ausgaben, die wir im Nachgang zu unserer Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin herausgeben. Wenn man so will, hat die erste Ausgabe von den verlorenen Kämpfen der Vergangenheit gehandelt. Dieses Heft fragt nun danach, wie praktizierende Architekt*innen wieder mehr Handlungsoptionen gewinnen können. Wir behandeln drei zentrale Aspekte, die zu einer neuen Berliner Praxis führen: die Ökonomie des Bauens angesichts des überhitzten Immobilienmarktes, die Entdeckung der Peripherie vor dem Hintergrund der Verknappung von Bauland in der Stadt, und die unter Planungsbüros wie bei der Kritik immer noch ungeliebte und missverstandene Frage der Partizipation.
Aktualisiert: 2021-02-05
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Berlin Theorie

Berlin Theorie
Der Zusammenhang von Identität und Ökonomie wurde im Berlindiskurs bisher viel zu wenig beleuchtet. Dieses Heft legt offen, dass der Berlinische Neohistorismus, die Fassadendiskussion, die Kritische Rekonstruktion und später der Diskurs über die Kreative Stadt neben den identitätspolitischen Zielen nach der Wiedervereinigung maßgeblich der Durchsetzung einer Ökonomie der Stadt dienten, die auf Privatisierung basiert. Geschichte und Kreativität wurden in diesem Prozess zu Marketinginstrumenten der Immobilienbranche im globalen Standortwettbewerb. Die Auswirkungen dieser reaktionären Projektion setzen Berlin heute sozialräumlich unter Spannung.
Aktualisiert: 2021-01-07
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Neuer Realismus in der französischen Architektur

Neuer Realismus in der französischen Architektur
In Frankreich hat sich eine neue Generation von Architekt*innen herausgebildet, die an die rationalistische Diskurstradition anknüpft und diese zugleich mit einer radikalen Einlassung auf die Realitäten des städtischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontextes poetisch weiterentwickelt. Darin folgen die Protagonist*innen einerseits lokalen Vorbildern, andererseits lässt sich eine Geistesverwandtschaft mit gegenwärtigen europäischen Architekturentwicklungen wie jene in Flandern nicht leugnen. ARCH+ 240 ist diesen aktuellen Strömungen gewidmet und stellt die junge Szene in Essays, Interviews, Statements und Projektpräsentationen vor.
Aktualisiert: 2020-10-15
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Europa – Infrastrukturen der Externalisierung

Europa – Infrastrukturen der Externalisierung
Seit Europa in der Neuzeit begann, die Welt zum eigenen Nutzen zu erschließen und auszubeuten, setzte es seine Interessen mithilfe von Infrastrukturmaßnahmen durch. Die negativen Folgen seines wirtschaftlichen Handels lagerte es aus – zuvorderst nach Afrika. Der Mythos vom Friedensprojekt eines postkolonialen Europa muss kritisch hinterfragt werden, um das immer noch herrschende Machtgefälle, den Paternalismus und die Ungleichheit zu überwinden. Diese Ausgabe handelt vom strukturellen Rassismus Europas als Raumpolitik: vom infrastrukturellen Rassismus.
Aktualisiert: 2020-12-10
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Architekturethnografie

Architekturethnografie
Was bedeutet es, wenn sich Architekt*innen wieder verstärkt der Lebenswelt in ethnografisch deskriptiver Weise zuwenden? Um anzudeuten, dass es sich bei dabei um eine kritische Herangehensweise handelt, sei sie hier provisorisch reflexive Ethnografie genannt. Reflexiv meint, ein Bewusstsein für das Machtgefälle zwischen Beobachtenden und Beobachteten zu entwickeln, für das Andere in uns. Sie ist eine Methode, mit der wir uns die Welt zeichnerisch erschließen, um unsere eigene Verstrickungen in die unterschiedlichsten Regime und Netzwerke oder die Potentiale und Ambitionen einer gesellschaftlichen Situation aufzudecken.
Aktualisiert: 2022-11-03
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Nikolaus Kuhnert: Eine architektonische Selbstbiografie

Nikolaus Kuhnert: Eine architektonische Selbstbiografie
Die Arbeit hat mein Leben bestimmt. Ein Resümee zu ziehen, wie ich es an dieser Stelle vorhabe, ist ein schwieriges Unterfangen. Mit den folgenden Überlegungen suche ich Themen zu destillieren, die sich durch meine jahrzehntelange Arbeit an der ARCH+ verdichten lassen. Ein Thema wäre das diskursive Entwerfen. Eine Kartierung dieses Themas ergäbe eine Linie, die mit den Stadtbauwelt-Ausgaben beginnt, die ich Anfang der 1980er-Jahre zusammengestellt habe und sich mit denen der ARCH+ fortsetzt, die ich in mittlerweile fast fünfzig Jahren verantwortet habe. Begleitet hat mich in all den Jahren auch meine Vergangenheit. Ich wurde am 7. März 1939 geboren, als Kind einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters. Aus den Erzählungen meiner Eltern wusste ich, dass die Nazihorden am 9. November 1938, also nur wenige Monate vor meiner Geburt, vor der Tür standen, um meine Eltern zu massakrieren. Gerettet hat uns unser Nachbar Ziesenitz. Aus der Recherche zu dieser Selbstbiografie weiß ich, dass die Aktion Sonderkommando J, auch Herbstaktion genannt, im Rahmen derer mein Vater in das Arbeitslager Zerbst bei Dessau kam, nur der erste Schritt sein sollte zur endgültigen Lösung der Frage der jüdischen „Mischlinge“. Gerettet hat uns der schnellere Vormarsch der Amerikaner und der Sowjets, die Ende April Dessau einnahmen und Anfang Mai Potsdam-Babelsberg, wo wir damals lebten. Die Einsicht in die fragile Endlichkeit meines Lebens hat sich schon in meiner Kindheit in mich eingeschrieben. Nun bin ich 80, und es ist an der Zeit, zurückzublicken. Nikolaus Kuhnert
Aktualisiert: 2020-06-30
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Posthumane Architektur

Posthumane Architektur
Wir sind nie human gewesen. Posthumane Architektur und algorithmische Planung Beim Posthumanismus geht es nicht darum, den Humanismus zu Grabe zu tragen, vielmehr geht es um das Eingeständnis der menschlichen Fehler und Fehleinschätzungen hinsichtlich der Frage, was uns überhaupt zum Menschen macht. Der Humanismus hat dem Menschen die zentrale Stellung zugewiesen. Aber dieser Anthropozentrismus steht heutzutage, angesichts des menschengemachten Klimawandels und der fortschreitenden Zerstörung der Umwelt, vor allem für die ethische Überhebung des Menschen. Hinzu kommt die zunehmende Marginalisierung des Menschen durch autonom agierende Technik. Gerade für den Bereich der Architektur hat diese Entwicklung weitreichende Folgen. Mit dem Smart-City-Diskurs dringen Technologieunternehmen schon weit in das Feld der Architekt*innen und Planer*innen vor. Grundlage der Entwicklungen, von mobilen Anwendungen wie Liefer- oder Mobilitätsservices bis zu den städtebaulichen Projekten von Alibaba und Alphabet, bilden unsere (Nutzer-)Daten. Sie ermöglichen nicht zuletzt neue Planungs- und Entwurfswerkzeuge. Die Algorithmen, Gleichungen und Schlüsse hinter diesen Werkzeugen und Anwendungen sind jedoch keine unhinterfragbaren Wahrheiten. Sie sind weder neutral noch objektiv oder gar faktisch. Hinter ihnen stehen Menschen – Datenanalysten und Programmierer, Konzerne und private Netzwerke –, deren Entscheidungen unsere Vorstellungswelt prägen und über unser Zusammenleben bestimmen. Die Smart City verspricht Sicherheit, Komfort und Nachhaltigkeit, ohne über gleiche Voraussetzungen und Lebensverhältnisse für die Bürger*innen zu sprechen. Sie unterwandert damit die tradierten Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als gesellschaftliche und städtebauliche Leitmotive der Stadt. Die Implikationen betreffen also nicht nur das gesellschaftliche Miteinander, sondern auch unser Selbstverständnis. Das zu gewährleisten, war und ist die Kernaufgabe von Architekt*innen. Und daran sollte sich auch im Zeitalter der posthumanen Architektur nichts ändern.
Aktualisiert: 2020-01-17
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