Wenn der Bambus blüht…

Wenn der Bambus blüht… von Felsberg,  Georg
Wenn der Bambus blüht … ...kommen die Ratten, sagt der, der es wissen muss, ein stoppelhaariger junger Mann, der mit zusammengekniffe- nen Fußzehen ein totes Tier in seine Karre wirft. Er meint, es mache ihn weniger krank, wenn er das Vieh mit dem rechten Fuß greife und nicht mit der rechten Hand, mit der er ja essen müsse. „Jede tote Ratte bringt mir zwei Rupien. Staatskne- te“, erzählt er. „Aber ich muss die Schwänze abhacken, denn die Beamten in Mizoram zählen und bezahlen nur gebündel- te Schwänzchen.“ Der schwanzlose Rattenrest wird von ihm entsorgt. „Wenn du wissen willst, wohin, geh dem Geruch nach.“ Sein Rattenrevier liegt am Chaltlang Hill auf tausend Meter Höhe zwischen steilen Bergen und tiefen Schluchten, in die jeder seinen Abfall wirft. Das ist zwar verboten, aber „wohin denn sonst“. Er ist ein lustiger Mann, der Rattenfän- ger in Aizawl, der Hauptstadt des Bundesstaates Mizoram im indischen Nordosten, mit dem mich der Wirt meiner Unter- kunft am Hang bekannt gemacht hat. „Der ist einer“, meint er, „für die Fremden, die ja alle neugierig sind und etwas er- leben möchten.“ Sonst blieben sie doch zu Hause. „Ich wäre längst arbeitslos“, meint der Rattenfänger und lacht, „wenn sich die Viecher nicht so toll vermehrten. Sobald der Bambus blüht, fressen die alle Felder kahl. Der Bambus Wenn der Bambus blüht ... blüht in Mizoram zwar nur alle 48 Jahre, aber für mich gibt es auch in der Zwischenzeit genug zu tun.“ Die letzte Bam- busblüte gab es 2008. Angelockt wurden Millionen Ratten von den großen, birnenförmigen Früchten der immergrünen Bambusart, die Stärke und Protein enthalten. In Mizoram wird dieser Bambus „Muli“ genannt oder auch „Mautak“, das heißt „Hungersnot“. Das gespaltene Holz der Halme wird zum Bau von Hütten verwendet, für Matten, zum Kochen und Heizen. Alles wäre gut, wenn nicht plötzlich die Ratten kämen, alle Früchte schon an den Halmen fräßen und sich massenhaft vermehrten. Ein Rattenweibchen kann, sagt er, wenn es genug zu fressen hat, im Jahr bis zu 15 000 Nach- kommen haben. Glaube ich ihm das? Ein Rattenweibchen ist in der fünf- ten Woche ihres Lebens geschlechtsreif, ist alle vier Tage hit- zig und immer für mindestens fünf Stunden. Sie trägt etwa 22 Tage bis zum Wurf mit bis zu 14 Rattenbabys. Ich habe ihm das nicht geglaubt. Inzwischen habe ich nachgelesen. Die letzte Blühperiode hat Hungersnot und Krankheiten nach Aizawl gebracht: Cholera, Malaria und Typhus. Der Rattenfänger will nicht wahrhaben, welche Gefahr auch für ihn von den Tieren ausgeht. Die Ratten ernähren ihn. „Mi- litär, das gegen das Viehzeug vom indischen Staat eingesetzt worden ist, hat kläglich versagt. Du kannst keine Ratte tot- schießen, wenn du Ratten nicht kennst“, sagt er und lacht wieder. „Auch stehen sie vor keinem General stramm. Die sind schlau. Die verstecken sich. Die greifen dich plötzlich an, wenn du nicht aufpasst. Die lassen sich nicht verjagen. Aber wenn du sie getötet hast, dann kannst du dich rächen, dann kannst du sie essen. Dann musst du sie essen, weil du sonst krepierst, weil es sonst nichts mehr zu essen gibt. Ge- räucherte Ratte, ,Sazu Rep‘ aus den Wäldern, das musst du probieren. Es schmeckt wie magerer Hund. Mit viel Gemü- se, Chili und Ingwer, ich sage dir, das wirst du nie vergessen. Oder Ratte mit Purunzung, das ist so etwas wie Knoblauch, das hier wächst. Köstlich.“ Der Rattenfänger will mir nicht zeigen, wie er die Ratten tötet. „Die sterben vor Angst“, meint er, die haben schwache Herzen, wie die Schweine. Er hat einen Stock in seiner Kar- re. Der ist blutig. Ich denke, er erschlägt sie. Mein Rattenfänger ist so etwas wie ein Fremdenführer in Aizawl, wie einer, der auf den Spuren von Jack the Ripper in London für Touristen auf Gruseltour geht. Aber sein Stock glänzt blutig feucht. Und die 20 toten Tiere im Karren sind nicht ausgestopft und rot angemalt. Nachts erzählt mir der Wirt, der mich ins Herz geschlos- sen hat, dass Sami, der Rattenfänger, nur sagt, was wahr ist, vielleicht etwas ausschmückt mit blumiger oder auch ein wenig feuriger Fantasie, aber wahr sei es immer. „Aber“, schränkt er ein, „hier in Mizoram liegt das, was wahr ist und das, was wahr sein könnte, dicht beieinander.“ In etwa 40 Jah- ren könne ich ja prüfen, meint er und sieht mich an, als wolle er mein Alter schätzen, ob die Geschichte von der Invasion der Ratten bei der nächsten Bambusblüte stimmt.
Aktualisiert: 2018-11-01
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