“Hunger tut weh, und zwar in der Seele”, so Eliete Paragassu, eine Fischerin Quilombola-Anführerin1, die auf der Insel Ilha da Maré im Bundesstaat Bahia lebt. Am 16. Oktober 2021, dem Welternährungstag, stand sie früh auf, nahm ihr Boot und verteilte Körbe mit Lebensmittel an die Bevölkerung. Der Hunger ist Teil des Alltags vieler Bewohner*innen des Bundesstaates und auch bittere Realität in anderen urbanen und ländlichen Räumen des riesigen lateinamerikanisches Landes. Die Aktion war Teil der Kampagne “Tem gente com fome” (auf Deutsch etwa „Die Menschen haben Hunger“), die von dem Bündnis “Schwarze Koalition für Rechte” [Coalizão Negra por Direitos] während der Covid-Pandemie vorangetrieben wurde.
In den letzten zehn Jahren hat die Ernährungsunsicherheit in Brasilien massiv zugenommen und mit dem Auftreten der Pandemie verschärften sich viele Ungleichheiten im Brasilianischen Ernährungssystem weiter. Ende 2020 waren 59,4% der befragten Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen – besonders augenfällig ist hier der allgemeine Rückgang von 85% beim Verzehr gesunder Lebensmittel. Außerdem ist die Bevölkerung von der Ernährungsunsicherheit ungleich betroffen: Die höchsten Prozentsätze werden in Familien registriert, in denen nur eine Person für die Einkommenserzielung verantwortlich ist (66,3%), insbesondere wenn diese Person schwarz ist (66,8%). Auch in Haushalten mit Kindern bis zu 4 Jahren (70,6%), in den Regionen Nordost (73,1%) und Nord (67,7%) sowie in ländlichen Gebieten (75,2%) ist sie höher. Somit war die Hungerlage in Brasilien ähnlich wie im Jahr 2004, am Anfang der Regierung Lula und deren Hungerbekämpfungsagenda.
2022 leben 58,7% der Bevölkerung in Ernährungsunsicherheit und die Zahl der an Hunger leidenden Brasilianer*innen beläuft sich auf mehr als 33,1 Millionen (s. Graphik 1) – ein Anstieg von 14 Millionen Personen im Vergleich zu 2020, sodass nur 4 von 10 Haushalten in Ernährungssicherheit leben. Welche weiteren Faktoren neben den Auswirkungen der Pandemie haben zu diesem enormen Anstieg beigetragen und Brasilien zurück in den Hunger getrieben?
Aktualisiert: 2023-06-08
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Dekarbonisierung ist das Schlüsselwort für die nächsten Dekaden. In historisch einmaliger Weise hat sich die Weltgemeinschaft im Pariser Abkommen zu diesem Ziel bekannt, wenn auch in der etwas unklareren Version der „Klimaneutralität“, die einem ganzen Bündel von Kompensationsmechanismen und fragwürdiger CO2-Bilanzierung das Tor öffnet. 2050 soll das Ziel erreicht werden. Seit der Unterzeichnung des Abkommens am 12. Dezember 2015 ist viel passiert: die Covid-19-Pandemie, einschließlich Wirtschaftskrise und der Ukraine-Krieg mit einer Explosion der Preise für Energie und Weizen. Und während das Pariser Abkommen noch aus einer Zeit der globalen Kooperation zu kommen scheint, stehen nun die Zeichen auf ein Revival von Geopolitik, das durch die Konkurrenz und Konfrontation großer Blöcke bestimmt ist. Ohne Zweifel, die Lage ist unübersichtlich und hat in Europa eine einigermaßen klar definierte Agenda für das Vorantreiben der Dekarbonisierung ins Wanken gebracht. Plötzlich ist Kohle wieder gefragt und die Brücken(-technologie) Gas in Teilen eingestürzt.
Aber 2022 kamen auch die Bilder von brennenden Wäldern nicht mehr nur aus Amazonien, sondern auch aus Frankreich und Brandenburg. Eine lange Periode der Trockenheit und ungekannte Hitzewellen haben das Klimathema wieder zurück in die öffentliche Aufmerksamkeit gebracht, so wie das Ziel, zumindest langfristig weitgehend von Öl und Gas unabhängig zu werden. Trotz vieler Verwirrungen für die kurzfristigen Perspektiven bleibt also die Langzeitperspektive Dekarbonisierung/Klimaneutralität aktuell, und wird sowohl im deutschen Klimaschutzplan wie in dem European Green Deal der EU konkretisiert.
Es ist dieser Kontext, der dem Konzept einer „Bioökonomie“ Bedeutung verleiht. Zwar konzentrieren sich in Europa die Kräfte der Dekarbonisierung auf den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, welche nicht zur Bioökonomie zu rechnen sind. Aber der Einsatz natürlicher Ressourcen (als Biomasse) ist sozusagen die zweite Säule für die Strategien der Dekarbonisierung und hat auch bereits jetzt eine große Bedeutung, die gerade in Europa oft unterschätzt wird. Das Verbrennen von Holz zu Heizzwecken, der Einsatz von „Biosprit“, all das ist Bioökonomie. Dazu kommt, dass die bioenergetische Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Europa nach wie vor die meistgenutzte erneuerbare Energiequelle ist.
Bioökonomie ist daher mehr als ein Buzzword und eine Modeerscheinung, es ist eine entscheidende Baustelle der Dekarbonisierung. Allerdings ist Bioökonomie auch ein sehr weit gefasstes Feld, das von unterschiedlichen Akteuren aufgriffen wird. Landwirtschaft gehört nach allen gängigen Definitionen zu Bioökonomie. Vor diesem Hintergrund ist Bioökonomie auch ein Feld, in dem global um Welternährung und/oder Ernährungssouveränität gerungen wird. Ankoppeln können sich an das Konzept auch die Konzerne, die durch Gentechnologie, Digitalisierung und massiven Einsatz von Agrargiften die Produktivität der Landwirtschaft steigern wollen, um so ‚die Welt zu ernähren‘. In dieser Gemengelage wird die Bioökonomie zugleich zum Hoffnungsträger wie zum Schreckgespenst. Mehr als ein klar definiertes Konzept markiert Bioökonomie eine Kampfzone verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ihrer Visionen einer sozial-ökologischen Transformation.
Diese Kampfzone ist so global wie die Landwirtschaft. Es ist inzwischen Allgemeinwissen, dass die europäische Landwirtschaft von Importen abhängig ist. Das gesamte Modell der hiesigen Fleischproduktion hängt an Sojaimporten aus Argentinien, Brasilien und den USA. Umgekehrt ist das Agrarmodell dieser Länder abhängig von den multinational agierenden Chemie- und Saatgutkonzernen wie Bayer/Monsanto und BASF. Für die Bioökonomie und deren Nachhaltigkeitsanspruch ist die Frage zentral, wo die notwendige Biomasse herkommen soll und unter welchen Bedingungen sie produziert wird. In diesem Kontext richtet die vorliegende Publikation den Blick auf Lateinamerika, mit deutlichem Schwerpunkt auf Brasilien. Denn wenn es ein Bioökonomieland auf diesem
Planeten gibt, dann ist es Brasilien –ein Gigant aufgrund seiner Natur, wie es in der brasilianischen Nationalhymne heißt.
Die Beiträge von Thomas Fatheuer (Kapitel 2 und 3) analysieren das Beispiel Brasilien und zeigen auf, wie in der tropischen Agrargroßmacht Bioökonomie vom Agrobusiness gekapert worden ist. Aber dabei dient Bioökonomie nicht nur dem Greenwashing des Agrobusiness, es ist auch ein Werkzeug, technologische Innovationen voranzutreiben und den Agrarsektor als Teil einer Dekarbonisierungsrhetorik neu aufzustellen. In diesem Kontext kommt dem ausführlich abgehandelten Zuckerrohr-Ethanol-Komplex eine herausragende und strategische Bedeutung zu. Allerdings fehlt der brasilianischen Bioökonomie ein belastbares Konzept von Nachhaltigkeit und eine Transformationsperspektive. Wie die Einordnung in das größere Bild der Entwicklung der Energieversorgung in Brasilien zeigt: zusammen mit dem Bioökonomiesektor soll auch die Förderung von Erdöl und Gas wachsen.
Der Beitrag von Thomas Vogelpohl vertieft einen zentralen Aspekt des brasilianischen Modells der Bioökonomie (Kapitel 4). Deren dynamischster Sektor ist die Produktion von Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr. Mit dem Programm Renavabio soll nun auch das Potential eines CO2-Marktes erschlossen werden, eine Schlüsselstrategie in der neoliberalen Vision der Dekarbonisierung.
Fabricio Rodríguez beleuchtet in seinem Beitrag die unterschiedlichen Facetten des Handels mit Agrarprodukten, die im Kontext der Bioökonomie nun auch zur Biomasse deklariert werden (Kapitel 5). Dieser Handel reproduziert globale Ungleichheiten und es fehlt ihm jeglicher Bezug zu Gerechtigkeitsfragen und der Überwindung der sozialen Spaltung der Welt.
Ein kurzer Ausblick auf weitere Länder des Subkontinents (Kapitel 6) mit den Beiträgen von Anne Tittor, Philip Koch und Thomas Fatheuer zeigt in Argentinien ähnliche Tendenzen wie in Brasilien, während in Ecuador und Kolumbien Bioökonomie mit einer anderen Bedeutung verbunden wird. In diesen Ländern ist Bio nicht das neue Wort für Agro, sondern es stellt den Bezug zur Biodiversität her. Beide Länder sehen Biodiversität als strategische Ressource und in deren kommerzieller Nutzung einen wichtigen Baustein für eine Green Economy.
Dem Resümee (Kapitel 8) zu dieser Publikation nachgestellt findet sich als Anhang ein ergänzender Beitrag von Camila Moreno (Kapitel 9). Sie versucht sich in einen Überblick über das komplexe globale Koordinatenfeld, in dem die Bioökonomie heute eingelassen ist und zeichnet nach, wie sich die Agenda für eine Bioökonomie im Kontext eines globalen Klima- und Umwelt-Governance-Rahmens entwickelt. Der Text kann in seiner Kürze nicht alle diese Felder analysieren, er bietet jedoch Anstöße für weitere Debatten und zeigt die vielfältigen sowie teilweise widersprüchlichen globalen Tendenzen im Übergang zu einer „Green Economy“ auf.
Aktualisiert: 2023-05-11
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Dekarbonisierung ist das Schlüsselwort für die nächsten Dekaden. In historisch einmaliger Weise hat sich die Weltgemeinschaft im Pariser Abkommen zu diesem Ziel bekannt, wenn auch in der etwas unklareren Version der „Klimaneutralität“, die einem ganzen Bündel von Kompensationsmechanismen und fragwürdiger CO2-Bilanzierung das Tor öffnet. 2050 soll das Ziel erreicht werden. Seit der Unterzeichnung des Abkommens am 12. Dezember 2015 ist viel passiert: die Covid-19-Pandemie, einschließlich Wirtschaftskrise und der Ukraine-Krieg mit einer Explosion der Preise für Energie und Weizen. Und während das Pariser Abkommen noch aus einer Zeit der globalen Kooperation zu kommen scheint, stehen nun die Zeichen auf ein Revival von Geopolitik, das durch die Konkurrenz und Konfrontation großer Blöcke bestimmt ist. Ohne Zweifel, die Lage ist unübersichtlich und hat in Europa eine einigermaßen klar definierte Agenda für das Vorantreiben der Dekarbonisierung ins Wanken gebracht. Plötzlich ist Kohle wieder gefragt und die Brücken(-technologie) Gas in Teilen eingestürzt.
Aber 2022 kamen auch die Bilder von brennenden Wäldern nicht mehr nur aus Amazonien, sondern auch aus Frankreich und Brandenburg. Eine lange Periode der Trockenheit und ungekannte Hitzewellen haben das Klimathema wieder zurück in die öffentliche Aufmerksamkeit gebracht, so wie das Ziel, zumindest langfristig weitgehend von Öl und Gas unabhängig zu werden. Trotz vieler Verwirrungen für die kurzfristigen Perspektiven bleibt also die Langzeitperspektive Dekarbonisierung/Klimaneutralität aktuell, und wird sowohl im deutschen Klimaschutzplan wie in dem European Green Deal der EU konkretisiert.
Es ist dieser Kontext, der dem Konzept einer „Bioökonomie“ Bedeutung verleiht. Zwar konzentrieren sich in Europa die Kräfte der Dekarbonisierung auf den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie, welche nicht zur Bioökonomie zu rechnen sind. Aber der Einsatz natürlicher Ressourcen (als Biomasse) ist sozusagen die zweite Säule für die Strategien der Dekarbonisierung und hat auch bereits jetzt eine große Bedeutung, die gerade in Europa oft unterschätzt wird. Das Verbrennen von Holz zu Heizzwecken, der Einsatz von „Biosprit“, all das ist Bioökonomie. Dazu kommt, dass die bioenergetische Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Europa nach wie vor die meistgenutzte erneuerbare Energiequelle ist.
Bioökonomie ist daher mehr als ein Buzzword und eine Modeerscheinung, es ist eine entscheidende Baustelle der Dekarbonisierung. Allerdings ist Bioökonomie auch ein sehr weit gefasstes Feld, das von unterschiedlichen Akteuren aufgriffen wird. Landwirtschaft gehört nach allen gängigen Definitionen zu Bioökonomie. Vor diesem Hintergrund ist Bioökonomie auch ein Feld, in dem global um Welternährung und/oder Ernährungssouveränität gerungen wird. Ankoppeln können sich an das Konzept auch die Konzerne, die durch Gentechnologie, Digitalisierung und massiven Einsatz von Agrargiften die Produktivität der Landwirtschaft steigern wollen, um so ‚die Welt zu ernähren‘. In dieser Gemengelage wird die Bioökonomie zugleich zum Hoffnungsträger wie zum Schreckgespenst. Mehr als ein klar definiertes Konzept markiert Bioökonomie eine Kampfzone verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und ihrer Visionen einer sozial-ökologischen Transformation.
Diese Kampfzone ist so global wie die Landwirtschaft. Es ist inzwischen Allgemeinwissen, dass die europäische Landwirtschaft von Importen abhängig ist. Das gesamte Modell der hiesigen Fleischproduktion hängt an Sojaimporten aus Argentinien, Brasilien und den USA. Umgekehrt ist das Agrarmodell dieser Länder abhängig von den multinational agierenden Chemie- und Saatgutkonzernen wie Bayer/Monsanto und BASF. Für die Bioökonomie und deren Nachhaltigkeitsanspruch ist die Frage zentral, wo die notwendige Biomasse herkommen soll und unter welchen Bedingungen sie produziert wird. In diesem Kontext richtet die vorliegende Publikation den Blick auf Lateinamerika, mit deutlichem Schwerpunkt auf Brasilien. Denn wenn es ein Bioökonomieland auf diesem
Planeten gibt, dann ist es Brasilien –ein Gigant aufgrund seiner Natur, wie es in der brasilianischen Nationalhymne heißt.
Die Beiträge von Thomas Fatheuer (Kapitel 2 und 3) analysieren das Beispiel Brasilien und zeigen auf, wie in der tropischen Agrargroßmacht Bioökonomie vom Agrobusiness gekapert worden ist. Aber dabei dient Bioökonomie nicht nur dem Greenwashing des Agrobusiness, es ist auch ein Werkzeug, technologische Innovationen voranzutreiben und den Agrarsektor als Teil einer Dekarbonisierungsrhetorik neu aufzustellen. In diesem Kontext kommt dem ausführlich abgehandelten Zuckerrohr-Ethanol-Komplex eine herausragende und strategische Bedeutung zu. Allerdings fehlt der brasilianischen Bioökonomie ein belastbares Konzept von Nachhaltigkeit und eine Transformationsperspektive. Wie die Einordnung in das größere Bild der Entwicklung der Energieversorgung in Brasilien zeigt: zusammen mit dem Bioökonomiesektor soll auch die Förderung von Erdöl und Gas wachsen.
Der Beitrag von Thomas Vogelpohl vertieft einen zentralen Aspekt des brasilianischen Modells der Bioökonomie (Kapitel 4). Deren dynamischster Sektor ist die Produktion von Ethanol auf der Basis von Zuckerrohr. Mit dem Programm Renavabio soll nun auch das Potential eines CO2-Marktes erschlossen werden, eine Schlüsselstrategie in der neoliberalen Vision der Dekarbonisierung.
Fabricio Rodríguez beleuchtet in seinem Beitrag die unterschiedlichen Facetten des Handels mit Agrarprodukten, die im Kontext der Bioökonomie nun auch zur Biomasse deklariert werden (Kapitel 5). Dieser Handel reproduziert globale Ungleichheiten und es fehlt ihm jeglicher Bezug zu Gerechtigkeitsfragen und der Überwindung der sozialen Spaltung der Welt.
Ein kurzer Ausblick auf weitere Länder des Subkontinents (Kapitel 6) mit den Beiträgen von Anne Tittor, Philip Koch und Thomas Fatheuer zeigt in Argentinien ähnliche Tendenzen wie in Brasilien, während in Ecuador und Kolumbien Bioökonomie mit einer anderen Bedeutung verbunden wird. In diesen Ländern ist Bio nicht das neue Wort für Agro, sondern es stellt den Bezug zur Biodiversität her. Beide Länder sehen Biodiversität als strategische Ressource und in deren kommerzieller Nutzung einen wichtigen Baustein für eine Green Economy.
Dem Resümee (Kapitel 8) zu dieser Publikation nachgestellt findet sich als Anhang ein ergänzender Beitrag von Camila Moreno (Kapitel 9). Sie versucht sich in einen Überblick über das komplexe globale Koordinatenfeld, in dem die Bioökonomie heute eingelassen ist und zeichnet nach, wie sich die Agenda für eine Bioökonomie im Kontext eines globalen Klima- und Umwelt-Governance-Rahmens entwickelt. Der Text kann in seiner Kürze nicht alle diese Felder analysieren, er bietet jedoch Anstöße für weitere Debatten und zeigt die vielfältigen sowie teilweise widersprüchlichen globalen Tendenzen im Übergang zu einer „Green Economy“ auf.
Aktualisiert: 2023-02-09
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“Hunger tut weh, und zwar in der Seele”, so Eliete Paragassu, eine Fischerin Quilombola-Anführerin1, die auf der Insel Ilha da Maré im Bundesstaat Bahia lebt. Am 16. Oktober 2021, dem Welternährungstag, stand sie früh auf, nahm ihr Boot und verteilte Körbe mit Lebensmittel an die Bevölkerung. Der Hunger ist Teil des Alltags vieler Bewohner*innen des Bundesstaates und auch bittere Realität in anderen urbanen und ländlichen Räumen des riesigen lateinamerikanisches Landes. Die Aktion war Teil der Kampagne “Tem gente com fome” (auf Deutsch etwa „Die Menschen haben Hunger“), die von dem Bündnis “Schwarze Koalition für Rechte” [Coalizão Negra por Direitos] während der Covid-Pandemie vorangetrieben wurde.
In den letzten zehn Jahren hat die Ernährungsunsicherheit in Brasilien massiv zugenommen und mit dem Auftreten der Pandemie verschärften sich viele Ungleichheiten im Brasilianischen Ernährungssystem weiter. Ende 2020 waren 59,4% der befragten Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen – besonders augenfällig ist hier der allgemeine Rückgang von 85% beim Verzehr gesunder Lebensmittel. Außerdem ist die Bevölkerung von der Ernährungsunsicherheit ungleich betroffen: Die höchsten Prozentsätze werden in Familien registriert, in denen nur eine Person für die Einkommenserzielung verantwortlich ist (66,3%), insbesondere wenn diese Person schwarz ist (66,8%). Auch in Haushalten mit Kindern bis zu 4 Jahren (70,6%), in den Regionen Nordost (73,1%) und Nord (67,7%) sowie in ländlichen Gebieten (75,2%) ist sie höher. Somit war die Hungerlage in Brasilien ähnlich wie im Jahr 2004, am Anfang der Regierung Lula und deren Hungerbekämpfungsagenda.
2022 leben 58,7% der Bevölkerung in Ernährungsunsicherheit und die Zahl der an Hunger leidenden Brasilianer*innen beläuft sich auf mehr als 33,1 Millionen (s. Graphik 1) – ein Anstieg von 14 Millionen Personen im Vergleich zu 2020, sodass nur 4 von 10 Haushalten in Ernährungssicherheit leben. Welche weiteren Faktoren neben den Auswirkungen der Pandemie haben zu diesem enormen Anstieg beigetragen und Brasilien zurück in den Hunger getrieben?
Aktualisiert: 2023-02-09
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Mehr als zwei Dutzend ehemalige Amtsträger:innen des guatemaltekischen Justizsystems befinden sich aktuell im Exil, andere unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen in Haft oder unter Hausarrest. Auf eine Phase des Aufbruchs und der Hoffnung, in der weitreichende Netzwerke krimineller Strukturen innerhalb des Staates aufgedeckt wurden, folgt nun die radikale Demontage der Rechtsstaatlichkeit.
Dieses Paper erläutert die historischen Wurzeln eines Rechtssystems, das dafür geschaffen wurde, die Privilegien einiger weniger zu verteidigen und durchzusetzen. Die gesellschaftliche Ordnung und die Machtbeziehungen, die durch den Kolonialismus geschaffen wurden, wirken bis heute sowohl innerhalb des Landes als auch in transnationalen wirtschaftlichen Beziehungen fort.
Während der kurzen Phase des demokratischen Frühlings von 1944 bis 1954 wurden Maßnahmen zu gesellschaftlichen Veränderungen eingeleitet, sein gewalttätiges Ende mündete in einen 36-jährigen Bürgerkrieg. Die kriminellen Strukturen, die zu dieser Zeit in staatlichen Institutionen entstanden und Straffreiheit für Kriegsverbrechen garantierten, blieben auch nach den Friedensverträgen bestehen und entwickelten sich weiter. Erst der UN gestützten Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) in Kooperation mit der Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit (FECI) sollte es gelingen, kriminelle Netzwerke innerhalb von staatlichen Institutionen aufzudecken.
Das jähe Ende der CICIG und die Demontage der FECI sowie die Manipulation des Höchstgerichts und des Verfassungsgerichts zählen zu den Strategien des Abbaus von Rechtsstaatlichkeit. Anhand von zwei emblematischen Fällen werden die Funktionsweise und die Folgen dieses Abbaus erläutert. Aufbauend auf diese folgt ein wenig positiver Ausblick und Überlegungen für zentrale Aspekte der Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit in Guatemala.
Aktualisiert: 2023-03-23
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Rainer Huhle zeichnet in dieser Studie die Entwicklung des Phänomens Straflosigkeit im lateinamerikanischen Kontext nach. Er beschreibt und analysiert die Entwicklung von völkerrechtlichen Konventionen und internationalen Rechtsnormen und erläutert, wie eine Umsetzung von Staatenpflichten zur Strafverfolgung in Lateinamerika ohne die von der Zivilgesellschaft und insbesondere den Verbänden von Opferangehörigen entwickelten und vorgebrachten Forderungen kaum denkbar gewesen wäre.
Nach Reflektionen über den Sinn des Strafens, der auch für prominente Kämpfer gegen Straflosigkeit wie Louis Joinet oder Fritz Bauer vor allem in dem symbolischen Akt der Strafe und der Benennung von Menschenrechtsverletzungen lag und weniger im Vollzug der Strafe, erläutert Huhle anhand der Fallbeispiele Chile, Argentinien und Kolumbien die Debatten und Entwicklungen in den Auseinandersetzungen um Straflosigkeit und der Durchsetzung des Rechts auf Gerechtigkeit in lateinamerikanischen Transitionen.
Abschließend widmet sich der Text dem Verbrechen des Verschwindenlassens. Eine Verankerung des Tatbestands des (gewaltsamen) Verschwindenlassens im Völkerrecht als Ergebnis des langjährigen Bestrebens von Angehörigen von Verschwundenen und Menschenrechtsexpert*innen gelang mit Inkrafttreten der UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen im Jahr 2010. Diese Konvention verlangt auch ausdrücklich, dass das Verschwindenlassen als eigener Straftatbestand in die nationalen Gesetzbücher aufgenommen wird. Sowohl der UN-Verschwundenenausschuss als auch deutsche Menschenrechtsorganisationen beklagen das Fehlen eines solchen Tatbestands im deutschen Strafrecht bis heute.
Aktualisiert: 2023-03-23
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„Warum hielt das Land nicht inne und forderte die Guerilla und den Staat auf, den politischen Krieg frühzeitig zu beenden und einen umfassenden Frieden auszuhandeln? Welche Institutionen verhinderten den bewaffneten Konflikt nicht, sondern förderten ihn? Wo war der Kongress, wo waren die politischen Parteien? Inwieweit kalkulierten diejenigen, die zu den Waffen gegen den Staat griffen, die brutalen und makabren Folgen ihrer Entscheidung? […] Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist? Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen?“
Diese und andere Fragen stellte Pater Francisco de Roux, der Vorsitzende der kolumbianischen Wahrheitskommission, am 28. Juni 2022, bei der Vorstellung des Abschlussberichts dieser Institution. Seine bewegende Rede kennzeichnete das Ende der über dreieinhalb Jahre langen Arbeit der Wahrheitskommission (Comisión para el Esclarecimiento de la Verdad, la Convivencia y la No Repetición – CEV). Ihr Ziel war die Aufklärung von Ursachen und Mustern des Konflikts, der Gründe für dessen langjähriges Andauern, und die Formulierung von Empfehlungen an Zivilgesellschaft und Staat, um eine solche Gewalt in Zukunft zu verhindern. Die zehn Bände des Berichts, insgesamt über 6.000 Seiten, sollen den Weg für ein kollektives Narrativ der kolumbianischen Gesellschaft ebnen, um so eine gemeinsame Wahrheit zu schaffen.
Doch was ist Wahrheit und wie ist es möglich diese Wahrheit in einem Land zu finden, welches sich weiterhin im Konflikt befindet? An welche (Teile der) Vergangenheit soll erinnert werden? Wem nützt diese Wahrheit, wen bedroht sie? Und warum versuchen breite Teile der Gesellschaft so dezidiert zu vermeiden, dass die Wahrheit über den Konflikt ans Licht kommt?
Im vorliegenden Text werden der Entstehungskontext der Wahrheitskommission, ihr Aufbau und ihr Mandat beschrieben, sowie die Auseinandersetzungen um Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerungspolitik, die in Folge des Friedensabkommens und der Arbeit der Kommission deutlich geworden sind. Auch die Hauptergebnisse und die Empfehlungen des Berichts werden skizziert.
Aktualisiert: 2023-03-23
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Schon seit der Kolonialzeit ist Land in Lateinamerika höchst ungleich verteilt. Heute entfallen auf ein Prozent der ländlichen Grundstücke durchschnittlich mehr als die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Hinter den Zahlen verbirgt sich eine Ungleichheit, die enorme Folgen hat. Auf der einen Seite steht ein hochmodernes industrialisiertes Agrobusiness, das kaum Arbeitskräfte benötigt, jedoch die Gesundheit der Menschen sowie die Umwelt gefährdet. Auf der anderen ein kleinbäuerlicher Sektor, der in internationalen Entwicklungsdiskursen teilweise als anachronistisch, teilweise als Hoffnungsträger gilt, ohne jedoch auf ausreichende öffentliche Unterstützung setzen zu können. Ein Großteil der weltweit hungernden Menschen
lebt auf dem Land. Laut dem aktuellen UN-Welternährungsbericht stieg der Hunger während der Corona-Pandemie weiter an. Im Jahr 2020 waren demnach schätzungsweise bis zu 811 Millionen Menschen unterernährt, davon knapp 60 Millionen in Lateinamerika – fast 15 Millionen mehr als vor der Pandemie. Für insgesamt 2,27 Milliarden Menschen ist die Ernährungslage unsicher1. Wenn sich die industrialisierte Landwirtschaft immer mehr ausbreitet, bleibt weniger Land für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern übrig. Für Indigene geht Land als Ausdruck kultureller und spiritueller Identität zudem über ökonomische Sicherheit hinaus. Die Verfügbarkeit über eine Parzelle kann den Unterschied zwischen Subsistenz und extremer Armut machen.
Versuche, die Lage der ländlichen Bevölkerung zu verbessern, gab es viele. Durch das 20. Jahrhundert hindurch ziehen sich eine ganze Reihe von Landreformen in fast allen Ländern Lateinamerikas. Dennoch ist die Landkonzentration bis heute noch größer geworden. Bei der Frage, wie die Situation der ländlichen Bevölkerung nachhaltig verbessert werden kann, gehen die Meinungen auseinander. Internationale Organisationen wie die Weltbank, aber auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) setzen bei Armutsbekämpfung vor allem auf technokratische Lösungen sowie private Investor:innen und Unternehmen. Die in dem kleinbäuerlichen Netzwerk La Via Campesina organisierten Bäuerinnen und Bauern, Bewegungen und zivilgesellschaftliche
Organisationen fordern hingegen, das Agrobusiness zurückzudrängen, den Boden umzuverteilen und nachhaltige Konzepte wie Agrarökologie zu fördern. Ihnen geht es darum, die Rechte der Armen auf dem Land zu stärken und deren Spielraum zu erweitern. Dazu gehört auch, Menschen mit Land auszustatten und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich von dem, was sie anbauen und verkaufen auch ernähren sowie ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Warum ist es nicht gelungen, nachhaltige Antworten auf die Landfrage in Lateinamerika zu geben? Welche Rolle spielen Landreformen heute? Was fordern kleinbäuerliche Organisationen und wie verhält sich die deutsche EZ?
Nach einem kurzen Abriss der Geschichte der Landreformen in Lateinamerika folgt ein Überblick über die derzeitige Landverteilung und die Folgen industrialisierter Landwirtschaft. Danach werden die Herausforderungen für Landreformen im 21. Jahrhundert und wie ihnen das kleinbäuerliche Netzwerk La Via Campesina begegnet, erläutert. Anschließend folgt eine Bewertung der derzeitigen deutschen EZ im Hinblick auf Landverteilung und Landreformen.
Aktualisiert: 2023-03-16
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Manche einfachen Fragen sind schwer zu beantworten. So die Frage: Wem gehört eigentlich Amazonien? Sie führt direkt in das schwierige Gelände der Landfrage in Amazonien oder, wie es auf Portugiesisch heißt, der questão fundiária. Alle, die sich mit Brasilien beschäftigen, lernen schnell, dass dies eine ganz wichtige Frage ist, die aber kaum zu überschauen, geschweige denn zu lösen ist. Wie in alten Palimpsesten legen sich Schichten von Dokumenten über viele Landstriche in Amazonien, so dass man oft von mehreren Etagen von Ansprüchen an Land spricht.
Neue Aktualität hat die questão fundiária durch die internationale Diskussion um die richtige Strategie zur Reduzierung von Entwaldung erhalten. Längst ist die Zerstörung des Amazonasregenwaldes zu einem globalen Desaster geworden, beobachtet von einer aufmerksamen und kritischen Öffentlichkeit. Entwaldung ist nicht mehr eine lokale Entwicklung, sondern ist ein wichtiger Faktor der beiden globalen Krisen, die die Lebensgrundlage der Menschheit zu zerstören drohen: der sich zuspitzenden Klimakrise und des dramatischen weltweiten Verlustes von Biodiversität. Ist man sich – zumindest international – weitgehend einig, dass die Entwaldung so schnell wie möglich gestoppt werden muss, so bleibt doch die Frage umstritten, wie das denn gelingen kann. Lange Zeit richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Viehwirtschaft als dem wichtigsten Treiber von Entwaldung. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass auf mindesten zwei Dritteln der entwaldeten Flächen Rinderweiden angelegt sind. Einige Forscher:innen weisen aber schon seit längerem darauf hin, dass am Anfang der Entwaldung die Aneignung von Land – zu welchem Zweck auch immer – steht.
In einer sehr lesenswerten Reportage über Amazonien zitiert der Filmemacher João Moreira Salles einen Forscher aus Princeton (Michael Oppenheimer), der nach einer langen Debatte ausruft: „Endlich habe ich die Logik der Eroberung Amazoniens verstanden. Es geht nicht um das Rind, es geht um Land.“ − „Es ging immer um Land“, fügt Moreira Salles hinzu. Andere hatten schon seit längerem die Logik der Aneignung von Land in den Mittelpunkt der Analysen gestellt, allen voran Maurício Torres und seine Mitautor:innen mit der wichtigen Publikation „Dono é quem desmata“ – Wer entwaldet, ist der Herr des Landes. Eine andere bedeutende Publikation von Maurício Torres liegt nun in gekürzter Fassung auf Deutsch vor: „Landraub in Amazonien für Anfänger. Die private Aneignung von Land für den Waldschutz“.
Die hier vorliegende Publikation soll nun diese Debatte fortführen, aktualisieren und erweitern. Dabei geht es zentral um ein Instrument, das als Umweltinstrument im neuen Waldgesetz (código florestal) 2012 eingeführt wurde, aber umstritten ist: das sogenannte Umweltkataster für den ländlichen Raum, CAR – Cadastro Ambiental Rural. Dieses sieht vor, den Waldschutz bei Waldflächen im Privatbesitz sicherzustellen, indem satellitengestützt überwacht wird, dass 80% der Fläche jedes Privatbesitzes mit Wald bedeckt ist oder entsprechend wieder aufgeforstet wird. Während Befürworter:innen mit dem Instrument große Hoffnungen auf eine effektive Bekämpfung der Entwaldung verbinden, befürchten Kritiker:innen, dass es missbraucht wird, um Landraub zu legalisieren. In der vorliegenden Publikation bilden wir diese Diskussion ab: Nach einer kurzen Einführung in die komplexe Gemengelage der questão fundiária von Thomas Fatheuer (Kapitel 2), diskutieren drei Beiträge das Thema Landraub und Entwaldung im brasilianischen Amazonasgebiet mit einem besonderen Fokus auf verschiedene Aspekte des Umweltkatasters CAR (Kapitel 3). Maurício Torres ordnet CAR in die Geschichte der grilagem ein und zeigt an dem Beispiel eines indigenen Territoriums, wie CAR für Versuche der Aneignung von Land genutzt wird. Jan Börner argumentiert, dass trotz aller Probleme CAR ein wichtiges Instrument zum Waldschutz werden kann. Eliane Moreira legt dar, wie die brasilianische Staatsanwaltschaft (ministério público) versucht, dem Missbrauch von CAR zu begegnen.
Doch in der aktuellen Debatte um Amazonien geht es nicht nur um die alten Praktiken des Landraubs mit modernen Methoden, sondern auch um neue Ansätze zur „Inwertsetzung“ der Region. Dabei hat das Versprechen einer „Bioökonomie“ neue Zentralität erlangt, obgleich diese nur unscharf definiert bleibt. Entsprechend ausführlich diskutieren deshalb Maria Backhouse und Thomas Fatheuer die Möglichkeiten und Fallstricke der Konzepte einer Bioökonomie in Amazonien (Kapitel 4).
Alternativen zu diesen Ansätzen der Inwertsetzung von außen existieren, sie werden insbesondere von indigenen Völkern in die nationalen und internationalen Debatten eingebracht. Einen kurzen Blick auf diese Alternativen wirft das Schlusskapitel.
Aktualisiert: 2023-04-06
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Im europäischen Sommer 2019 schockierten die Bilder des brennenden Regenwaldes Amazoniens die Welt. Und auch wenn im seit Anfang 2020 die Corona Pandemie alles in den Hintergrund drängte, geht die Zerstörung weiter. Der brennende Regenwald wird längst als globales Problem wahrgenommen, denn ohne die Eindämmung der Entwaldung sind die Klimaziele des Pariser Abkommens genauso wenig zu erreichen wie die Erhaltung der globalen Biodiversität.
Der größte Teil des Amazonaswaldes befindet sich in Brasilien – und wird damit von einer der problematischsten Regierungen der Welt verwaltet: der Regierung des rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro. Aber – auch das ist inzwischen allgemein bekannt – der Amazonas brennt, um Viehweiden und Sojafelder anzulegen. Dies dient nicht der Ernährung der lokalen Bevölkerung, sondern dem Exporte in die urbanen Zentren Brasiliens und in das Ausland. Die Entwaldung ist mit den internationalen Handelsströmen genauso verknüpft wie mit der der Aneignung von Land in Brasilien.
Ende 2017 und Anfang 2019 hat der Autor dieser Publikation in zwei Veröffentlichungen versucht, einen Überblick zu den Ursachen und der Dynamik der Entwaldung zu geben und die Strategien, selbige einzudämmen, zu beleuchten: das Dossier Amazonien: Entwaldung „Entwicklung“ und Widerstand wurde vom FDCL veröffentlicht und Amazonien heute von der Heinrich-Böll-Stiftung. Die hier vorliegende Publikation baut auf diese auf und aktualisiert sie. Der Schwerpunkt liegt auf den Entwicklungen in Brasilien und einer Bilanz der Folgen der ersten zwei Jahre der Regierung Bolsonaro für Amazonien. Spezifische Aspekte werden dabei in den Blick genommen, andere wichtige Themen aber nicht oder nur am Rande behandelt. Dies gilt bspw. für das EU-Mercosur Abkommen, zu dessen absehbaren Auswirkungen mittlerweile einige gute Publikationen vorliegen. Hervorgehoben sei hier die von Misereor herausgegebene Studie: Das EU-Mercosur
– Abkommen auf dem Prüfstand. Soziale Ökologische und menschenrechtliche Konsequenzen. Einen allgemeinen Überblick zur Regierung Bolsonaro mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Rolle der deutschen Wirtschaft gibt die vom FDCL und der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichte Studie: Extraktivismus und Territorialkonflikte in Brasilien. Deutsch – Brasilianische Beziehungen auf dem Prüfstand. 2020 hat Amazon Watch zusammen mit der Articulação dos Povos Indígenas do Brasil – APIB ein wichtiges Dossier (auf Englisch und Portugiesisch) zur Rolle internationaler Investitionen bei der Zerstörung Amazoniens veröffentlicht.
Aktualisiert: 2021-09-09
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Der Runde Tisch Zentralamerika ist ein 2012 gegründetes Netzwerk, dessen Mitglieder sich mit Partnerorganisationen und in ihrer Informationsarbeit mit der Menschenrechtslage in der zentralamerikanischen Region befassen. Seit Jahren beobachten wir dort eine zunehmende Einschränkung von zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen, begleitet von gezielten Attacken auf Menschenrechtsverteidiger*innen. Sie werden bedroht und verfolgt, stigmatisiert und diffamiert, zu Unrecht angezeigt, verhaftet, verletzt oder gar ermordet. Einige verschwinden spurlos.
Aktualisiert: 2021-07-01
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„The target has not been achieved“ – Das Ziel wurde nicht erreicht. Dies ist wohl der häufigste Satz des im September 2020 veröffentlichten Global Biodiversity Outlook des Sekretariats der UN-Konvention zum Schutz der Biodiversität (CBD). Gemeint sind die strategischen Ziele, die sich die Vertragsstaaten der CBD 2010 in Japan gesetzt hatten, auch als Aichi Ziele bekannt. Trotz einiger Fortschritte ist die Bilanz katastrophal. Viele der Ziele wurden nicht nur verfehlt, der Verlust der biologischen Vielfalt ist weltweit sogar noch fortgeschritten.
Eigentlich sollte 2020 ein Schlüsseljahr für die Zukunft der Biodiversität werden, aber dann kam die Corona-Pandemie. Die ursprünglich für Oktober 2020 angesetzte CBDKonferenz, die in China neue Ziele für die internationale Biodiversitätspolitik beschließen sollte, wurde auf 2021 verschoben.
Bereits im Jahre 2019 wurden zwei Berichte veröffentlicht, die für die Debatte um die Zukunft von Klima- und Biodiversitätspolitik grundlegend sind. Gemeint sind die Berichte des Weltklimarates (IPCC) und des Biodiversitätsrates (IPBES), die sich mit den Fragen der Landnutzung beschäftigen. Denn eines wird immer deutlicher: Bei den Verhandlungen über Strategien gegen Klimawandel und Biodiversitätsverlust rückt die Frage der Landnutzung immer mehr in den Mittelpunkt. Beide Berichte bilden eine gute Zusammenfassung des „state of the art“ und zeigen wichtige Handlungsperspektiven auf. Dabei hat die Corona-Pandemie die Aktualität dieser Berichte noch verstärkt: Denn sie haben bereits vor ihr darauf hingewiesen, dass die Ausweitung intensiver Landnutzung und die Vernichtung von Naturräumen die Gefahr erhöht, dass Seuchen und Krankheiten ausbrechen und sich weiterverbreiten. Die vorliegende Publikation fasst einige zentrale Aussagen dieser Fachberichte im Kontext der aktuellen Debatten um Landnutzung klar und übersichtlich zusammen. Corona hat ihre Veröffentlichung verzögert, sie kommt aber zu einem guten Zeitpunkt, um die Debatten im Vorfeld der Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitätskonvention 2021 zu bereichern und zu schärfen.
Aktualisiert: 2021-07-01
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Brasilien ist die Zuckerweltmacht Nr. 1. Dennoch war es um das Zuckerrohr in Brasilien ruhig geworden – anders als Soja stand es nicht im Mittelpunkt internationaler Debatten. Doch mit dem EU-Mercosur-Handelsabkommen und den darin enthaltenen Regelungen zur Liberalisierung der Agrarimporte Europas aus dem Mercosur-Raum und der Festlegung von Importquoten für u.a. das aus Zuckerrohr gewonnene Ethanol, hat sich dies geändert: Die EU soll 450.000 Tonnen Ethanol zollfrei – für chemische Zwecke – sowie 200.000 Tonnen mit einem sehr geringen Zoll – insbesondere zur Nutzung als Benzinersatz – aus den Mercosur-Staaten importieren können. Dies entspricht fast der Hälfte der derzeitigen Gesamt-Ethanolexporte aus der Region. Der mit Abstand größte Ethanol-Produzent und -exporteur ist Brasilien und so ist ein Anstieg der Produktion von Zuckerrohr zur Ethanolherstellung vor allem dort absehbar. Es passt zu diesem Bild, dass die Regierung Bolsonaro das Ende eines seit 2009 bestehenden Moratoriums verkündete, das den Zuckerrohranbau in der Amazonasregion untersagte – Proteste von Umweltgruppen und Prominenten blieben ergebnislos. Es steht zu befürchten, dass nun die Zuckerrohrmonokulturen auch in das Amazonasgebiet vordringen. Der ehemalige Umweltmister Carlos Minc bezeichnete die Aufhebung des Moratoriums als eine Umwelttragödie.
Aktualisiert: 2021-01-27
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Im Vorfeld der 15. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über biologische Vielfalt (CBD) im Oktober 2020 in Kunming (China) und der 24. Tagung des wissenschaftlichen Beirates der CBD (SBSTTA) in Montreal (Kanada) vom 18. bis 23. Mai 2020 versteht sich der vorliegende Text als ein Beitrag, um die internationale Diskussion um „Digitale Sequenz-Information zu genetischen Ressourcen“ (DSI) dem deutschsprachigen Publikum außerhalb der damit befassten scientific community zugänglich zu machen.
Insbesondere sollen die Gruppen und Personen informiert und angesprochen werden, die sich privat oder in ihren Institutionen gegen Biopiraterie engagieren, also gegen die Ausbeutung der biologischen Vielfalt der Länder des globalen Südens und damit verbunden gegen die Ausbeutung des traditionellen Wissens indigener Völker und lokaler Gemeinschaften.
Eingangs wird ein eindrücklicher Fall von „Biopiraterie 2.0“ geschildert und im ersten Kapitel die Bedeutung von DSI im Rahmen der neuen Möglichkeiten synthetischer Biologie dargestellt. Des Weiteren werden hier der Bedeutungszuwachs von DSI im Kontext von Bioökonomiestrategien und biotechnologischen Innovationen behandelt sowie die internationalen Verhandlungsforen zu DSI skizziert, zu denen außer der CBD u. a. die Diskussion im Internationalen Saatgutvertrag und in der Kommission für pflanzengenetische Ressourcen (CGRFA) der Welternährungsorganisation FAO gehören. Ergänzt wird dieses Kapitel mit Hintergrundinformationen zur chemischen Basis der Entstehung von Zellen, zur Biologischen Vielfalt und zum Patentrecht.
Im zweiten Kapitel wird die Diskussion um DSI in der CBD dargelegt. Diese Diskussion ist dringend notwendig, denn Initiativen wie das „Earth Biogenome Project“ zielen darauf ab, innerhalb von zehn Jahre das gesamte Genom aller Arten von Lebewesen auf der Erde zu sequenzieren, d.h. Digitale Sequenz-Information zu erzeugen und zu speichern; dazu kommen eine Reihe spezialisierter Sequenzierungs-Projekte.
Das dritte Kapitel zeigt die konträren Positionen auf: auf der einen Seite die Staaten mit fortgeschrittener biochemischer Forschung und Industrie, auf der anderen Seite Staaten mir hoher biologischer Vielfalt.
Die aktuellen Konflikte um die Behandlung von DSI werden im vierten Kapitel anhand von Entwürfen zu Studien im DSI-Prozess für die sitzungsübergreifende Periode 2019/2020 3 und ihrer Kommentierung deutlich. Leichter als in CBD-Konferenzen oder gar in Treffen spezieller CBD-Gremien wird hier öffentlich, mit welchen diskursiven Mitteln versucht wird, politische Prozesse zu beeinflussen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel durch Hintergrundinformationen zur strategischen Bioprospektions-Initiative Diversity Seek.
Zehn Schlussfolgerungen fassen die Kritik zu den Verhandlungsstrategien und den darin angeführten Argumenten sowie zur Rolle der Fachwissenschaft zusammen.
Aktualisiert: 2021-01-27
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Fünf Jahre nach dem vorläufigen Inkrafttreten des Freihandelsabkommen zwischen der EU, Kolumbien und Peru ist es Zeit, in verschiedenen Bereichen Bilanz zu ziehen. Einer dieser Bereiche betrifft den Schutz geistiger Eigentumsrechte, die mit dem EU-Freihandelsabkommen – wie bei anderen Freihandelsabkommen ähnlichen Zuschnitts auch – über die Bestimmungen des TRIPS-Abkommens (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) der Welthandelsorganisation WTO ausgedehnt werden.
Eine solche, deshalb auch als „TRIPS-plus“ bezeichnete Anforderung des Freihandelsabkommens EU- Kolumbien/Peru bezieht sich auf den Rechtsschutz für Neuzüchtungen von Pflanzensorten, denn mit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens verpflichteten sich die beiden Staaten dazu, die diesbezüglichen Anforderungen des UPOV-Übereinkommens (Union Internationale pour la Protection des Obtentions Vegetales) von 1991 in nationales Recht umzusetzen. Seit seiner Unterzeichnung im Jahre 1961 wurde das UPOV-Übereinkommen dreimal überarbeitet (1972, 1978 und 1991). Die Fassung von 1991 weitete die Züchterrechte zulasten der Rechte der Bäuerinnen und Bauern und deren Zugang zu Saatgut aus. Das Freihandelsabkommen EU-Kolumbien/Peru forciert – ebenso wie die bereits vorher in Kraft getretenen jeweiligen Freihandelsabkommen mit den USA – die Verankerung UPOV-konformer Züchterrechtsregelungen und ihre Durchsetzung in den beiden südamerikanischen Staaten, womit deren Möglichkeiten massiv beschränkt werden, den bäuerlichen Saatgutsystemen angepasste Regelungen zu entwickeln.
In dieser Studie wird den Fragen nachgegangen, wie die Regelungen der UPOV bezüglich Züchterrechte in Peru und Kolumbien implementiert wurden, wie diese zugunsten der internationalen Agrarchemie- und Saatgutkonzerne wirken, auf vielfältige Weise die traditionelle Landwirtschaft behindern und sowohl deren Funktionsweise als auch deren Zukunftsfähigkeit untergraben: angefangen durch die Definition dessen, was als „Sorte“ gilt, über die Bestimmungen, was die UPOV-Mitgliedsstaaten an Zulassungskriterien für Sorten aufstellen müssen, bis hin dazu, welche möglichen Voraussetzungen sie gerade nicht machen dürfen.
Aktualisiert: 2020-01-01
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Im Jahr 2018 wird das Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru fünf Jahre vorläufig angewendet. Nachdem der Europäische Rat, das Europäische Parlament sowie die Parlamente Perus und Kolumbiens ihre Zustimmung erteilten, ist das Abkommen mit Peru bereits seit März 2013, mit Kolumbien seit August 2013 vorläufig in Kraft. Es ist eines der umstrittensten Handelsabkommen der Europäischen Union.
Die Verhandlungen wurden durch eine intensive Kampagne von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Peru, Kolumbien und der EU begleitet. Sie warnten wiederholt vor den erheblichen menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Risiken dieses Handelsvertrags und erinnerten die EU an ihre diesbezüglichen Verpflichtungen.
Auch die internationalen Gewerkschaftsdachverbände in Europa und Amerika erklärten sich mit kolumbianischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen solidarisch und lehnten das Abkommen geschlossen ab. Sie forderten das Europäische Parlament (EP) auf, wegen der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und der grassierenden Straflosigkeit in Kolumbien, gegen den Vertrag zu stimmen. Doch vergebens. Nachdem der Rat bereits grünes Licht gegeben hatte, erteilte das EP im Dezember 2012 seine Zustimmung.
Die BefürworterInnen des Abkommens in der EU-Kommission und im Europaparlament wurden nicht müde, den angeblichen Nutzen des Abkommens nicht nur für europäische Exporteure, sondern auch für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung der beiden Andenstaaten zu loben. Laut EU-Kommission biete der Handelsvertrag eine Gelegenheit, „den Wohlstand dieser Länder zu mehren, ihr Wachstum zu konsolidieren und so die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.“5 Die Zollsenkungen der EU gegenüber Kolumbien und Peru könnten „zur nachhaltigen Steigerung der Wertschöpfung ihrer Volkswirtschaften beitragen“.
Hohe Erwartungen weckte auch das Europaparlament. In einer Entschließung schrieben die Abgeordneten, Ziel des Abkommens sei „die Förderung einer umfassenden Wirtschaftsentwicklung, um die Armut abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Lebensstandard zu verbessern“. Der Vertrag enthalte daneben „umfassende und verbindliche Bestimmungen (…), die den Schutz der Menschenrechte garantieren“. Die Abgeordneten behaupteten ferner, „dass das Handelsübereinkommen Garantien dafür bietet, dass die neue Architektur der Handels- und Investitionsbeziehungen der EU einem weitreichenden Sozial- und Umweltschutz sowie der nachhaltigen Entwicklung zugute kommt“.
Nachdem das Abkommen nun fünf Jahre vorläufig angewendet wird, ist es an der Zeit, die durchaus optimistischen Erwartungen seiner BefürworterInnen auf den Prüfstand zu stellen. Hat sich dank des Handelsvertrags mit der EU tatsächlich die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung in den beiden Andenstaaten verbessert? Konnten die Wertschöpfung gesteigert, die Armut abgebaut und die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert werden? Haben sich die „Garantien“ für den Menschenrechts-, Sozial- und Umweltschutz bewährt? Auf den folgenden Seiten sollen erste Antworten gegeben werden, soweit dies die bisherigen empirischen Erkenntnisse erlauben. Zunächst aber ist es erforderlich, kurz die Geschichte des EU-Abkommens mit den Andenstaaten zu resümieren.
Aktualisiert: 2019-01-23
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Die Welt wird in steigendem Tempo immer weiter globalisiert. Ganz allgemein wird die Globalisierung als eine immer engere Verflechtung von Ländern und Menschen der Welt verstanden. Viele Aspekte der Globalisierung, beispielsweise die Verbreitung medizinischer Kenntnisse oder technischer Kommunikationsmöglichkeiten haben viele positive Errungenschaften mit sich gebracht. Die ökonomischen Aspekte der Globalisierung werden hingegen kontrovers diskutiert. Die Ausgestaltung der ökonomischen Globalisierung z.B. durch internationale Institutionen wie der Europäischen Union (EU), dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) und die Auswirkungen in unterschiedlichen Regionen der Welt, wirft die Frage auf: Wer profitiert von dem aktuellen Wirtschaftssystem und wer nicht?
Die Welt ist zu einem globalen Marktplatz geworden, auf dem immer neue Einkommensquellen und Absatzmärkte erschlossen werden. Zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen der letzten Jahrzehnte unterstützen die transnationalen Unternehmen in ihren Interessen und fördern die Globalisierung der Wirtschaft. Einzelne Produktionsschritte und ganze Produktionsketten werden in kostengünstigere Weltregionen ausgelagert, Freihandelszonen errichtet und Freihandelsabkommen abgeschlossen. Dabei liefern vor allem Länder des globalen Südens Rohstoffe, die dann in anderen Teilen der Welt zu Industrie- und Konsumgütern weiterverarbeitet und verbraucht werden. Gleichzeitig sind die Länder des globalen Südens wichtige Absatzmärkte für die im globalem Norden produzierte Güter.
Die Art der ökonomischen Globalisierung, wie sie derzeit zu beobachten ist, folgt bestimmten Logiken und Prämissen, die sich im Kern auf eine schlichte Formel bringen lassen: Der Glaube daran, dass der freie Markt die bestmögliche Lösung für alle wirtschaftlichen Herausforderungen ist und – praktisch als positiven Nebeneffekt – Arbeitsplätze schafft, Wohlstand fördert und damit Armut reduziert. Propagiert wird dies nicht nur von den meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen und Wirtschaftsexpert*innen, sondern auch von allen relevanten Institutionen der Handels- und Wirtschaftspolitik.
Folgende Fragen ziehen sich als roter Faden durch diese Materialien: Hält die fortschreitende Globalisierung, die immer weitere Bereiche in einen globalen Markt einbindet, was sie verspricht? Wenn man auf die makroökonomischen Zahlen blickt, scheint sich die Hoffnung zu bestätigen: Weltweit ist das Handelsvolumen gestiegen, auch die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist in vielen Teilen der Welt positiv. Aber bringt sie tatsächlich Wohlstand für alle?
Viele stellen die versprochenen Segnungen in Frage. Weltweit, aber besonders gravierend in den Ländern des Südens, treten die negativen Auswirkungen zutage, die sich zeigen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung Vorrang vor allem anderen hat: Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, der rücksichtslose Ausverkauf natürlicher Ressourcen, die Bedrohung der Lebensgrundlage indigener oder ländlicher Gemeinden.
Lernziele
Die Idee des freien Marktes ist ein wesentliches Element der ökonomischen Globalisierung. Das Ziel dieser Bildungsmaterialien ist, zu diskutieren, was hinter der Idee der freien Märkte steckt und inwiefern es als bestmögliche und womöglich alternativlose Variante der Wirtschaftsorganisation propagiert wird. Wird das gegebene Versprechen, Wohlstand für alle zu schaffen, gehalten? Wenn nicht, warum nicht?
Es soll dabei nicht darum gehen, die Globalisierung an sich infrage zu stellen. Sie ist eine Tatsache, die mit vielen positiven Errungenschaften einhergeht. In diesen Materialien wird die ökonomische Globalisierung betrachtet. Die Prämisse, auf der die ökonomische Globalisierung beruht, soll danach befragt werden, ob sie tatsächlich für alle Beteiligten die bestmögliche Lösung bereithält, oder ob sie doch eher bestehende Machtverhältnisse und Ungleichheiten zementiert und reproduziert. Profitieren wirklich alle – wie versprochen wird – oder doch nur wenige?
Zur Entstehung der Materialien
Die Materialien sind in Kooperation mit dem FDCL und der HondurasDelegation entstanden. Im Winter 2016 fand eine Delegationsreise nach Honduras statt, an der internationale Aktivist*innen teilnahmen. Während ihres Aufenthalts besuchten sie verschiedene indigene Gemeinden, die sich im Kampf um ihr Land befinden. Unter anderem sind das Gemeinden der Garifuna, deren Lebensgrundlage durch Landraub von ausländischen Investoren gefährdet ist. Hinzukommt, dass ihr Territorium seit Jahren als eine der ersten möglichen Modellstädte (ZEDE) im Gespräch ist (Baustein sechs). Die Delegation besuchte auch Gemeinden der indigenen Lenca-Bevölkerung, die gegen das Agua Zarca-Wasserkraftwerk Widerstand leisten (Baustein sieben). In Folge der Reise entstand die Idee, Bildungsmaterialien zu entwickeln, die die Perspektiven und widerständigen Positionen der besuchten Gemeinden thematisieren.
Aktualisiert: 2021-02-04
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Bioökonomie gehört zu den Begriffen, die immer häufiger auftauchen, ohne dass klar ist, was eigentlich damit gemeint ist. Bioökonomie-Strategien werden in einigen Ländern entwickelt, reichlich Geld fließt in die Forschung, aber wirklich populär ist der Begriff nicht geworden – trotz der sympathischen Assoziation, die mit der Verwendung des Präfix „Bio“ offensichtlich erweckt werden soll. Denn der Begriff bleibt unklar und schwammig.
Der deutsche Bioökonomierat definiert Bioökonomie als „die wissensbasierte Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen, um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen“.
Bei Bioökonomie geht es also „irgendwie“ und im weiteren Sinn um die Nutzung biologischer Ressourcen. Plastischer wird die Idee der Bioökonomie, wenn man auf den politischen Kontext schaut, der die Karriere des Konzepts begünstigt. Das fossile Zeitalter geht zu Ende – diese Botschaft ist in den letzten Jahre zu einem weitgehenden Konsens der Politik geworden. Und es muss zu Ende gehen: nicht wegen des Mangels an Öl oder Kohle, sondern wegen des Klimawandels, der vorwiegend durch das Verbrennen fossiler Energieträger verursacht wird. Um dem Klimawandel wirksam zu begegnen, muss die Wirtschaft der Welt „dekarbonisiert“ werden. Das Konzept der Dekarbonisierung hat es sogar in die Abschlusserklärung des G7-Gipfels in Elmau (2015) gebracht. Kern der Dekarbonisierung ist der Ausstieg aus der Nutzung von Kohle, Öl und Gas. Und derweil deren stoffliche Nutzung (etwa in der Chemieindustrie) nur einen geringen Anteil hat, geht es bei der Dekarbonisierung im wesentlichen um eine Transformation des dominanten Energiesystems.
Der zentrale Stellenwert, den die Energieversorgung im Dekarbonisierungsgebot hat, lässt immer wieder den Verdacht aufkommen, dass es sich bei der Bioökonomie nur um eine Fortsetzung der Politik der Agrartreibstoffe handelt. Diese waren ja in Verruf geraten, eine Konkurrenz mit dem Anbau von Nahrungsmitteln darzustellen (“Tank versus Teller” Debatte). Bioökonomie ist sicherlich auch ein Versuch, Agrartreibstoffe – oder wie es im offiziellen Diskurs heiß: Biokraftstoffe – wieder neu ins Spiel zu bringen, indem die Nutzung einer zweiten Generation derselben in Aussicht gestellt wird, die Reststoffe (wie Stroh) oder nicht essbare Biomasse (Holz) verwendet.
Aber natürlich erschöpfen sich Kontext und Anliegen der Bioökonomie nicht in der Entwicklung neuer Agartreibstoffe. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) sieht drei zentrale Säulen für die Entwicklung der Bioökonomie: „fortgeschrittene Kenntnis von Genen und komplexen Zellprozessen, erneuerbare Biomasse und die sektorübergreifende Integration von Biotechnologie“.
Und damit ist ein weiterer Kontext und ein weiteres Problem der Bioökonomie benannt: von Anfang an stand sie unter Verdacht, ein Neuauflage der Gentechnologie unter neuer “Bio-Flagge” zu intendieren. Tatsächlich sind die jüngsten Neuentwicklungen der Gentechnologie ein zentrales Feld der Biotechnologie – und damit der Bioökonomie. Unter dem Begriff „synthetische Biologie“ werden in großer Schnelligkeit neue Gentechnologien entwickelt, die nicht mehr auf der Neukombination von Genen abzielen, sondern auf deren Manipulation oder gar der Schaffung von neuen Formen von Leben.
Lateinamerika ist ein zentraler Schauplatz des Implementation bioökonomischer Ansätze: Hier befinden sich die größten Anbauflächen von genetisch veränderten Pflanzen (insbesondere Soja in Argentinien und Brasilien), Brasilien ist neben den USA der größte Produzent von Agrartreibstoffen und der Kontinent verfügt über einen gewaltigen “Vorrat” an Biomasse (etwa in den Regenwäldern Amazoniens) und angeblich über immenses Potential an Flächen, die landwirtschaftlich genutzt werden können.
Die Studie von Camila Moreno inspiziert diesen Schauplatz, stellt Entwicklungen, Tendenzen und Visionen dar, die sich in neuen Modernisierungsstrategien niederschlagen. Die Verknüpfung von Landnutzung, Energieerzeugung und Klimapolitik steht dabei im Mittelpunkt. Zwar umfasst Bioökonomie viele andere Bereiche (wie etwa eine intelligente Kreislaufwirtschaft), aber gerade in Lateinamerika wird deutlich, dass Bioökonomie Entwicklungsstrategien rund um die Landnutzung neu definiert – und dabei die Macht der Konzerne ausbaut, die Biotechnologie beherrschen.
Aktualisiert: 2018-12-07
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Bei ihrem Gipfeltreffen im Juni 2015 vereinbarten die Europäische Union und Mexiko eine Neuverhandlung des sogenannten Globalabkommens, das zwischen beiden Seiten bereits seit 1997 in Kraft ist. Zentrale Säule dieses Vertrags ist ein Freihandelsabkommen, das im Zuge der Neuverhandlung „modernisiert“ werden soll. Die vorliegende Publikation widmet sich der Frage, welche sozialen, menschenrechtlichen und ökologischen Folgen die „Modernisierung“ des EU-Mexiko- Handelsabkommens nach sich ziehen kann.
Diese Frage ist besonders relevant angesichts des anhaltend hohen Armutsniveaus, der enormen sozialen Ungleichheit und der überaus prekären Menschenrechtssituation in Mexiko. Der militärische Kampf der mexikanischen Regierung gegen die Drogenkartelle trug zu einer erheblichen Verschlechterung der Sicherheitslage im Lande bei, die auch die unbeteiligte Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zog. Gerade vor diesem Hintergrund ist es erforderlich zu fragen, inwieweit die EU mit dem „modernisierten“ Handelsabkommen ihren eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird und zu einer Verbesserung der sozialen und ökologischen Situation in Mexiko beiträgt.
Die möglichen Folgen des modernisierten Handelsabkommens werden anhand von fünf Schwerpunkten untersucht. Der erste widmet sich einer Analyse der im existierenden Globalabkommen bereits vorhandenen menschenrechtlichen Instrumente. Die überaus ernüchternden Erfahrungen mit diesen Ansätzen geben Anlass zu Skepsis, ob sich deren Defizite im künftigen Abkommen beseitigen lassen.
Anschließend kommen die möglichen Auswirkungen des Abkommens im Bereich der bäuerlichen Landwirtschaft auf den Prüfstand, dies am Beispiel des in Mexiko überaus wichtigen Anbaus von Mais. Als kritisch erscheinen hier u. a. geplante Regelungen zum Schutz geistigen Eigentums, die Praktiken der bäuerlichen Landwirtschaft zum Erhalt der Sortenvielfalt unterminieren können.
Die von der EU angestrebte Aufnahme von Investitionsschutzregeln und Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren stellt einen der problematischsten Aspekte des neuen EU-Mexiko-Vertrags dar. Das diesbezügliche Kapitel analysiert den Umfang dieser Regelungen, den Unterschied zu bilateralen Investitionsschutzabkommen sowie die bisherigen Erfahrungen Mexikos in Investitionsstreitfällen. Deutlich wird dabei, dass das Investitionsschutzregime mit zahlreichen Anforderungen des mexikanischen Rechtssystems im Konflikt steht und eine am Gemeinwohl orientierte Regulierung gefährdet. Daneben untersucht die Publikation die möglichen Folgen der europäischen Verhandlungsziele zur Liberalisierung des Energiesektors. Dieser Aspekt ist von eminenter Bedeutung angesichts der kürzlich von der mexikanischen Regierung beschlossenen Energiereform. Das diesbezügliche Kapitel beschreibt, wie die EU-Forderungen gewaltsame Konflikte um den Zugang zu Land und Wasser auslösen und eine armutsorientierte Regulierung der Energiepreise unterminieren können.
Schließlich kommen die Investitionen europäischer Konzerne in die mexikanischen Exportfabriken, die sogenannten Maquiladoras, auf den Prüfstand. Es wird dabei gezeigt, wie das Handelsabkommen Mexikos Rolle als Billiglohnstandort mit sehr niedrigen Anteilen eigener Wertschöpfung verfestigt. Das Kapitel schildert ebenfalls die zahlreichen Arbeitsrechtsverletzungen, denen sich unabhängige Gewerkschaften in den Niederlassungen europäischer Konzerne, unter anderem in der Automobilindustrie, ausgesetzt sehen. Das Handelsabkommen sieht dabei keine geeigneten Instrumente vor, um diese Missstände zu beseitigen.
Aktualisiert: 2018-12-07
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