Aus dem Nachwort von Renate Gorre
Was bleibt
Ein umfangreiches, ein verdienstvolles Werk, das der seit 2002 emeritierte Professor der Soziologie, Erhard Roy Wiehn, vor nahezu 30 Jahren begonnen hat. Zu diesem Werk gehört die Schriftenreihe „Shoáh und Judaica“, die Erinnerungen von Juden, die die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung überlebt haben, sammelt, der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringt und für die Zukunft bewahrt. Diese individuellen Erinnerungen, aufgeschrieben unter seelischen Qualen, sind Zeugnisse gemeinsam erfahrener Judenfeindschaft. Sie erzählen von persönlicher Herabsetzung, öffentlicher Ausgrenzung, schließlich, des Lebensrechts beraubt, vom Überlebenskampf in Ghettos und Lagern, den sicheren Tod vor Augen. Von der Flucht aus Deutschland, aus den von den nationalsozialistischen Machthabern besetzten Gebieten, oft in letzter Minute, kaum mehr als das nackte Leben rettend. Mit ungewissem Ausgang.
So werden in eine Landkarte, deren Koordinaten von der militärischen und administrativen Reichweite des Nationalsozialismus, ihrer Verbündeten und Zuarbeiter vorgegeben sind, Orte des Grauens, Orte authentischer Erfahrung von Erniedrigung, Hunger, Elend und Tod eingetragen. Fragmente eines schwarzen Mosaiks. Orte des familiären Alltags, seines Glücks und seiner Kümmernisse, des beruflichen Auskommens, der gesellschaftlichen und kulturellen Verbindungen gerieten zu Orten von Ausgrenzung, Verleumdung, Misshandlung, Verschleppung und, selten genug, gelungener Flucht. Ohne Zeit für Abschied. Zuhause war keine Heimat mehr.
Flucht und Überleben, alles hing vom Zufall ab.Von zufällig glücklich endenden Begegnungen, der eigenen Kaltblütigkeit, der Bestechlichkeit eines Ghettopolizisten, der Standhaftigkeit eines Gefolterten, auch von einer überraschend nachsichtigen Reaktion eines Häschers, dem der Sinn für einmal nicht auf Mord und Totschlag gerichtet war, der Hilfsbereitschaft eines Arztes, einem zugesteckten Stück Brot, der Laune eines Vorübergehenden. Aber auch von der unbeirrbaren Menschlichkeit einiger weniger, die ihr eigenes Leben riskierten und das ihrer Familien, um andere Leben zu retten. Lichter auf dunklem Grund.
Nur wenigen, denen die Orte der Vernichtung, der Vernichtung von Name, Würde und Leben, zugleich Orte ihres Überlebens waren, eines Lebens an der äußersten Grenze von Verzweiflung und Ohnmacht, war es möglich über ihre Erfahrungen zu sprechen, zu schreiben. Viele, die diese Hölle überlebt hatten, schwiegen. Sie hielten die Schreckensbilder in sich verschlossen. Oft vergingen Jahrzehnte, bevor sie die Schrecken der Vergangenheit, die wie Schatten an ihren Leben haften, in Worte, in Sätze fassen konnten. Um sich – endlich – der ihnen aufgetragenen Pflicht zur Erinnerung zu fügen, nie zu vergessen und zu erzählen, damit die ganze Welt erfährt, was hier geschieht. Dabei erkennen zu müssen, dass der Sprache die Worte fehlen, um die Wirklichkeit der Lager angemessen zu beschreiben. So umkreisen diese Texte in hellsichtiger Verzweiflung die Zufälligkeit des eigenen Überlebens, begleitet von Schuldgefühlen, als hätten die toten Opfer des planmäßigen Mordens mit ihrem Tod für das Leben der Geretteten bezahlt.
Die herausgeberische Tätigkeit von Erhard Roy Wiehn, der die Erinnerungs- und Schreibarbeit der Autoren anteilnehmend und ermutigend, sicher oft bis an den Rand der eigenen Belastbarkeit, begleitet und gefördert hat, kann kaum genug gewürdigt werden. Für viele der Überlebenden, die ihre Schicksale aufzeichneten, bot die Veröffentlichung in der Reihe „Shoáh und Judaica“ eine Zuflucht für ihre Trauer über das, was unwiederbringlich und willkürlich zerstört worden ist, und eine Art Grabstein für die, denen nicht einmal ein Grab zugedacht gewesen war.
Die vielen Freundschaften, die dem Herausgeber und seiner Frau Mirjam Wiehn, deren vielfältige Unterstützung nicht unerwähnt bleiben soll, aus der Editionsarbeit erwuchsen, sprechen für sich. Sie sind auch ein Zeichen tief empfundener Dankbarkeit und gegenseitiger Wertschätzung. Die Aufzeichnungen der Überlebenden, ein mikrohistorisches Archiv des Holocaust, weisen über die Dokumentation und das Sammeln von Einzelschicksalen hinaus. Nachzudenken wäre nicht allein über die Unzulänglichkeit der Sprache, das Geschehene zu beschreiben, nachzudenken wäre auch über die Begriffe, mit denen sich eine Gesellschaft über ihre Vergangenheit verständigt. Nach Maßgabe der Bedeutung dieser Begriffe für die Perspektive der Opfer. Ihre Stimmen gehören zum Diskurs der Geschichte. Ein Stachel für die Identität stiftende Funktion des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft.
Was bleibt, ist die nicht zu beantwortende Frage, wie das hat geschehen können. Was bleibt, ist die wiederkehrende Trauer über das ungeheure Leid, von dem die Erzählungen berichten. Was bleibt, ist der Auftrag, nie zu vergessen und zu erzählen und damit das Nachdenken darüber, was es auch methodisch bedeutet, die Stimmen der Opfer in den Diskursen von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zu hören und hören zu wollen.
Anmerkung: Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass die meisten der von mir gebrauchten Formulierungen nicht von mir sínd. Ich habe sie den Titeln und Erzählungen der Reihe „Shoáh und Judaica“ entnommen, ohne sie im Einzelnen zu kennzeichnen.