Kassler im Ried
Ein Mannheimer Wirt und eine Wirtin, die eigentlich Krankenschwester war, suchten Ende September, rechtzeitig zum Weihnachtsfest nach einem Koch. Meine Sommersaisonstelle war beendet. Durch meine 6-monatige Saisonarbeit in der Burgküche war die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erfüllt und der Antrag auf Arbeitslo-sengeld wurde anstandslos bewilligt. Damals war es noch so, heute ist es anders. Scha-de eigentlich. Ursprünglich wollte ich jedes Wochenende an einem anderen Ort Probearbeiten, aber die Wirtin und der Wirt aus dem Ried wollten mich gleich ganz für sich haben. Langsam kamen wir uns beruflich näher, meinte der Wirt jedenfalls. Der Wirt im Sängerheim lebte hauptsächlich davon, dass er kalte Platten und Büffets außer Haus lieferte. Darauf war er spezialisiert. Er verstand es, in ein bis zwei Stunden aus einem rohen Lachs ein Schaustück zu zaubern, das sich sehen lassen konnte. Die große Büffet- und Bankettküche ist leider, in meinen Augen, seit vielen Jahren out. Je schöner eine Platte dekoriert ist und je auffälliger und komplizierter das Schaustück bearbeitet wird, umso öfter wird die Kühlkette unterbrochen und gegen das Lebensmittel-gesetz verstoßen. Ein Nahrungsmittel wird oft zum Spielzeug! Essbares wird zum Zeitver-treib für Bastler, Träumer und Auszubildende. Um auffällig zu sein, müssen Materialien verwendet werden, die nicht unbedingt lebensmitteltauglich sind. Hierfür gibt es zahlrei-che Beispiele, das habe ich bereits ausführlich in meinem Buch „Tatort Kochtopf“ geschil-dert. Der Wirt aus dem Hessischen Ried kochte jedenfalls einen großen Lachs und ließ ihn erkalten, nicht etwa im Kühlhaus, nein, sondern im Nebenzimmer des Sängerheims. Dann sagte er stets: „Das beste Wetter für einen Koch, der ein Büffet bereiten muss, ist, wenn es draußen so ist wie jetzt“, aber er sagte es bei jedem Wetter. Auch bei Sonnen-schein Ende September. Damit wollte er die erhöhten Temperaturen verwischen und den Koch davon überzeugen, dass durchgegarter und garnierter Fisch für ein kaltes Büffet bei + 15 Grad gelagert werden darf, bevor er ausgeliefert und verzehrt wird. Zugegeben, er machte schöne Fischplatten, hielt sich aber leider nicht an die Vorschriften. Die ahnungs-losen Gäste wussten davon natürlich nichts. Was mir aber besonders in Erinnerung blieb, war die berühmte Scheibe Kassler. Schön durchgerötet, ca. 200 Gramm schwer und anfangs in Silberfolie gepackt, lagerte sie im Kühlschrank des Restaurants. Öfter wurde sie ausgepackt, um den Inhalt zu überprüfen. Schließlich wurde die Kasslerscheibe dann gar nicht mehr verpackt. Tage- und wochen-lang wanderte sie von der Käseabteilung zu den Fischen und wieder zurück. Die Adventszeit kam und eine große Baufirma feierte in einem Bürogebäude mit Ne-ckarblick in Mannheim eine Weihnachtsfeier, ausnahmsweise hatten sie dazu warme Ge-richte bestellt. Der Chef kochte zu Hause, die Wirtin machte das á la carte Geschäft und ich sollte die Speisen an den Neckar transportieren und dort ausgeben. Hauptsächlich das Fleisch, sagte der Chef, damit zu Anfang nicht jeder gleich so viel davon nimmt! Der Patron brutzelte zu Hause und ich musste es präsentieren. Wer einwandfrei kocht, macht es eigentlich umgekehrt, das sagt mir meine Erfahrung. Außerdem kann man als Chef Vorort unter den Gästen wiederum neue Gäste und vor allem neue Auftraggeber gewinnen. Der Mannheimer Wirt zog es jedoch vor zu Hause zu kochen, denn so wurde er seine Ladenhüter aus der warmen und kalten Küche los. Jedes Mal, so auch diesmal, reichte das Fleisch nicht. Es waren Schweinesteaks „Ha-waii“, mit Ananas vergrößert und mit Käse überbacken. Ein Bote brachte Nachschub. Ich verteilte die Fleischspeisen nichts ahnend auf dem Serviertisch. Die Gäste kamen zum Tisch und waren froh, dass wieder Nachschub vorhanden war. Ich gab die Schweine-steaks guten Gewissens aus, war ich mir doch sicher, hier eine wohlschmeckende Speise zu servieren. In der Zwischenzeit blickte ich auf den Neckar und träumte ein wenig. Dann nahm das Unheil seinen Lauf. Ich sah es zu spät. An einer Ecke rot, die andere grünlich schimmernd, nicht ganz von Käse und Ananasfrüchten überdeckt - das Wochenalte Kassler hatte seinen endgültigen Absatzplatz gefunden. Vorsich-tig erhitzt und reich haltig garniert mit Ananas und Käse wurde das Pökelfleischstück nun im Russisch Roulette-Stil dargeboten. Es war delikat angerichtet und sah appetitanre-gend aus. In jeder Gourmetfernsehsendung hätte es staunende Blicke gegeben. Hier im Mannheimer Hafenviertel hatte das Pökelfleischstück nun seinen Abnehmer gefunden und wurde verzehrt. Sie freute sich, ein edles Stück vom Nachschub erhascht zu haben. Ich glaube sie war von einer Leiharbeiterfirma. Ich konnte nichts mehr tun. Sie hatte es bereits auf dem Teller und grinste. Hätte ich nachlaufen sollen? Oder „Stopp“ rufen? Wie hätten sich andere „Frontköche“ verhalten? „Bitte Madame, geben sie ihren Teller zurück, es handelt sich um Gammelfleisch“! „Gnä-dige Frau nehmen sie lieber ein anderes Stück Fleisch“. Welche Begründung hätte ich geben sollen? Ich tat, was wahrscheinlich jeder getan hätte: Nichts. Vielleicht kön-nen mir ja Kolleginnen und Kollegen eine E-Mail oder einen Brief schreiben, wie sie sich in dieser Situation verhalten hätten?
Meiner verehrten Leserschaft empfehle ich wieder einmal, öfter genau hinzusehen: Manchmal hat es seinen Grund, wenn Speisen mit Käse, Früchten oder edlen Zutaten bedeckt sind. Die Aushilfsstelle im Ried scheiterte hauptsächlich daran, dass der Patron neben seiner Unerschrockenheit beim Servieren von Gammelfleisch auch eine sehr schlechte Zah-lungsmoral hatte. Nachdem ich ihn über meine Arbeitslosigkeit informiert hatte, versuchte er auch noch, mich zu erpressen. Eines Abends stand dann Günter in der Küche, eben-falls ein arbeitsloser Saisonkoch aus dem Raum Heidelberg. Die ersten zwei, drei Mal wurde Günter sofort bezahlt, dann folgten Unterbrechungen. Günter blieb aber auch nicht lange. Er wechselte öfter, meist wöchentlich zu den Arbeitsstellen, die er kennenlernen wollte. So hatte er sich um Arbeit bemüht, ein Zubrot verdient und dem Arbeitsmarkt wei-terhin zur Verfügung gestanden. Das ihm zustehende Arbeitslosengeld wurde natürlich auch bezahlt. Der Wirt aus dem Ried machte eines Tages die Schotten dicht. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Auch rief er nie mehr bei mir an, wenn ich inserierte. Wahr-scheinlich hatte seine Frau meine Telefonnummer im Computer gespeichert - bis ich Günter wieder traf. Günter sagte mir, dass der Kassler-Wirt wieder am Rhein tätig ist und sehr viele Aufträge hat. Er suchte immer wieder Köche, meistens zur Aushilfe. Immer noch sind seine Fischplatten heiß begehrt. Und das Putenfleisch mit den Mandarinen wird sehr gerne genommen. Soll ich ihn lieben, weil er einen Stundenlohn von damals D-Mark 22,00 runter handeln wollte? Oder darf ich ihn hassen, weil er mich erpressen wollte? Urteilen Sie selbst.