SELBSTBEGEGNUNG
oder Ein Nichts zu sein ...
Ilona Neudel
1946 … 1996
Der aufgefundene Kalender 1946 mit den täglichen Notizen des dreizehn-, vierzehnjährigen Mädchens wird 1996 der Erzählerin zum Ereignis. Vom Erinnern überwältigt zum Schreiben gezwungen, folgt sie den Spuren ihres Überlebens und Strebens aus dörflicher Armut und Enge im ersten Nachkriegsjahr und erlebt sich als befreit und selbstbestimmend in einer sich ankündigenden neuen Zeit. Zugleich taucht sie tiefer und intensiver in ihr ganzes gelebtes Leben ein. Das durchgestandene Konflikterlebnis der Diskrepanz zwischen sozialistischem Ideal und dessen Umsetzung weitet das Erzählte der ersten Geschehnisebene zu einem Romanwerk mit einer zu bewältigenden zweiten aus. Das in zwölf Kapiteln (entsprechend den Monaten des Jahres) dargestellte Ringen um selbst- und zeitkritische Wahrhaftigkeit der Erzählerin führt notwendigerweise auch zu einer zweiten Sprachebene. Reflektierend, wertend, wird sich der Eigen- und Zeitproblematik sprachmächtig angenommen. Im erstveröffentlichten Roman der Autorin lautet das Lebensfazit der Erzählerin: … ein durch die neue Zeit gewordener und durch die entartete Macht ruinierter, im Leben gescheiterter Mensch. Wird dieses rigorose Selbstverständnis einer lebenslangen Selbstbegegnung standhalten?
Ilona Neudel, 1932 als Arme-Leute-Kind im Vogtland geboren, als Halbwaise und Pflegekind ausgebeutet, Schülerin einer zweiklassigen Dorfschule, erlebte sie die Nachkriegsneuordnung im Osten als Befreiung.
Sie engagierte sich politisch und studierte nach abgelegtem Abitur wunschgemäß Germanistik in Leipzig. Nach drei Jahrzehnten pädagogischer Arbeit (zwei davon in der Lehrerbildung), durch gesellschaftliche und familiäre Rückschläge gesundheitlich geschädigt, erlebte sie die politische Wende 1989 als eine persönliche. Mit neuen Aufgaben befaßt, aufs Land gezogen, widmete sie sich von nun an dem Schreiben von Prosatexten unter autobiographischem Aspekt. Mit deren Veröffentlichung begann sie erst 2013 (Selbstverständnis oder O Sorge, Roman, 2014 Beim Lesen eines Buches – Hommage an Christa Wolf, Erzählung) ein Vorhaben, das sie fortsetzen wird.