Die Verbalsysteme des Amharischen und Tigrinischen
Eine vergleichende Analyse
Hatem Elliesie, Marlene Guss-Kosicka, Rainer Voigt
Die vorliegende, für die Publikation überarbeitete Dissertation befasst sich mit dem Vergleich der Verbalsysteme der äthiosemitischen Sprachen Amharisch und Tigrinisch.
Die Arbeit beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der die Methodik und der Forschungsstand dargelegt werden. Dem schließt sich die eigentliche Studie der Verbalsysteme, die in zwei Teile gegliedert ist, an. Der erste Teil umfasst die Bildungsweise und den Gebrauch des Perfekts, Gerundiums, Imperfekts und Jussiv-Imperativs, sowie ihrer Zusammensetzungen mit der Kopula und den Hilfsverben (HLW, KWN, NBR), ihrer konjunktionalen Bildungen und verschiedener periphrastischer Konstruktionen. Trotz der Fülle sich strukturell entsprechender Bildungen in beiden Sprachen gibt es auch wesentliche Unterschiede. Der wichtigste betrifft den syntaktischen Status der einfachen Verbalformen. So kann im Tigrinischen neben dem Perfekt auch das einfache Imperfekt und das einfache Gerundium als Hauptverbalform im positiven Aussagesatz gebraucht werden. Im Gegensatz dazu ist das amharische Perfekt die einzige einfache Form, die im positiven Aussagesatz verwendet wird, da der Gebrauch des einfachen Imperfekts und des einfachen Gerundiums als Hauptverbalform auf einige Sonderfälle beschränkt ist. Das Gerundium bzw. allä-Gerundium können nicht negiert werden. Die Funktion des negativen Gerundiums bzw. allä-Gerundiums wird durch das negative Perfekt übernommen. Der Jussiv-Imperativ kann nur selbständig gebraucht werden und drückt modale Bedeutungsaspekte aus. Mit einem kurzen Kapitel über die nur im Amharischen vorkommenden verbalen Bildungen, die ein Partizip oder einen Infinitiv enthalten, wird der erste Teil beschlossen.
Im zweiten Teil werden die relativierte Verbalform, ihre Eigenschaften und Bildungsweisen, ihr syntaktischer Gebrauch und verschiedene Konstruktionen, die diese enthalten, behandelt. Die relativierte Verbalform ist eine nominalisierte Form. Die jeweiligen Relativpartikeln bilden mit den Verbalformen eine untrennbare Einheit, zwischen die keine weiteren Satzglieder treten können (amh. yä-säbbärä, tgn. zǝ-säbärä). Zu den wichtigsten Bildungen mit der relativierten Verbalform gehören die persönlichen qualifizierenden Konstruktionen und die Spaltsätze. Die persönliche qualifizierende Konstruktion enthält eine konjugierte Form der Kopula und eine direkt vor der Kopula stehende relativierte Verbalform, die immer in Konkordanz mit dieser steht. Diese qualifizierenden Konstruktionen beschreiben, im Gegensatz zu den unterschiedlichen finiten Verbalformen, die eine Handlung oder einen Vorgang ausdrücken, die Qualität des Subjekts. Damit kann in beiden Sprachen eine Satzaussage auf zweifache Art realisiert werden. Ferner werden verschiedene Formen einer zusammengesetzten Kopula (z.B. ʾǝyyu zǝ-näbärä), die nur im Tigrinischen vorkommt und die zur Bildung zusammengesetzter Tempora verwendet werden, behandelt. Spaltsätze entstehen aus einem einfachen Satz, indem die ursprüngliche Verbalform relativiert und zum Subjekt des Kopulasatzes wird, mit dem Ziel, das direkt vor der Kopula liegende Satzglied als Prädikativ hervorzuheben. Sie werden in konkrete und abstrakte aufgeteilt.
In einem konkreten Spaltsatz ist das Prädikativ entweder das Subjekt des zugrundeliegenden einfachen Satzes oder ein Objekt, das im Spaltsatz in den Nominativ umgewandelt wird, während das Prädikativ eines abstrakten Spaltsatzes alle anderen Satzglieder bilden können. Die größten Unterschiede betreffen hier die Bildung der zusammengesetzten Tempora und der Kopula. Im Tigrinischen wird in der Regel das Hauptverb mit dem Hilfsverb relativiert und die Kopula ist stets ʾǝyyu bzw. ihre negierte Form ʾay-konä-n. Im Amharischen dagegen wird oft nur das Hauptverb relativiert, während die Form des Hilfsverbs als Kopula erscheint. Was die Formenvielfalt des Verbalsystems betrifft, so gehört das Tigrinische und Amharische zu den formenreichsten semitischen Sprachen. Das tigrinische Verbalsystem zeichnet sich gegenüber dem Amharischen durch eine größere historische Weiterentwicklung aus. Das liegt an der Verwendung der tigrinischen Kopula ʾǝyyu bei der Bildung verschiedener zusammengesetzter Verbalformen, der Herausbildung zusammengesetzter Kopulaformen und schließlich dem Gebrauch des Gerundiums als Hauptverbalform. Demgegenüber sind die verschiedenen amharischen periphrastischen Bildungen mit einem Infinitiv im Tigrinischen nicht üblich.