Die Typischen Erzählsituationen 1955-2015
Erfolgeschichte einer Triade
Franz Karl Stanzel
Wenige Begriffe der neueren Erzählforschung haben sowohl im akademischen wie auch im schulischen Gebrauch so viel Anklang gefunden wie F.K.Stanzels drei Typische Erzählsituationen. Seine „Drillinge“, wie er sie nennt, feiern in diesem Jahr ihren sechzigsten Geburtstag. Das ist Anlass, eine Rezeptionsgeschichte gleichsam in Schlagworten zu skizzieren. Begonnen wird mit dem Zustand der Universitäten in der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem entsprechenden Stand der Literaturwissenschaft damals. Ein ganz entscheidender Faktor für die Entstehung von Stanzels Konzept waren die großzügig vergebenen Fulbright Stipendien an amerikanische Universitäten. Wie aus diesem Konglomerat von Fakten und Umständen langsam Neues herauszuwachsen begann, wird hier an der formativen Wirkung von prominenten Vertretern wie Roman Ingarden, Rene Wellek, Käte Hamburger u.a. anhand der allmählichen Ausfaltung der drei Erzählsituationen vorgeführt. Narratologisch dominierte lange ein schroffes Lagerdenken: Von jeder Gattung gäbe es – wohl ein Folge des Aufkommens strukturalistischer Präferenzen – immer nur zwei ausgeprägte Exemplare: objektiv-subjektiv, berichtende Erzählung und szenische Darstellung und dann natürlich die narrativen Erzpfeiler Ich- und Er-Erzählung. Dagegen nun fährt Stanzel schweres Geschütz auf. Er behauptet, es gibt jeweils nicht nur zwei, sondern drei Typische Erzählsituationen, und die stehen sich nicht feindselig in Paargruppen einander gegenüber, sondern gleiten sachte von der einen zur anderen Typenform. Daraus entsteht dann der „berühmt-berüchtigte“ Typenkreis, der jüngst sogar eine ludoliterarische Modifikation erfahren hat.
In diesem Buch wird aber auch einmal einer Reihe von Rezensenten die Ehre erwiesen, indem aus ihren schönsten wie auch ihren weniger erbaulichen Sagern vier Found Poems geformt werden. Diese sind gut ausbalanciert: Jeweils zwei (positive versus negative) deutsche und englische Poems schauen sich auf gegenüberliegenden Seite mit erstaunten Augen an. Damit nicht genug der Tollerei: Der Stammvater der Drillinge bildet aus morschem Totholz Skulpturen (Morschplastiken), die Inuit-Plastiken aus Speckstein nachgebildet sind. Er fügt sie dann als Anschauungsobjekte, an denen sich Sensibilität für Standpunkt- und Perspektive-Wahl, wie sie auch für die Erzählinterpretation gefordert wird, schulen kann, in den Text ein.
Noch ist aber auf dem Feld der Narratologie nicht alles eitel Wonne. So wäre schon vor einiger Zeit auf Unstimmigkeiten in dem recht regen Austausch zwischen deutschsprachiger und englisch-amerikanischer Literaturkritik aufmerksam zu machen gewesen.
Dies gilt vor allem für das literarische Sprachjuwel Erlebte Rede, das besonders von deutscher Seite sehr präzis bearbeitet wurde, in Amerika jedoch lange Zeit entweder so gut wie unbekannt blieb oder aber als Trivialität, an die mancher Europäer sein Herz hängte, belächelt wurde. Das hindert jedoch neuerdings stimmführende Feuilletonisten in Deutschland nicht, jenen amerikanischen Professor, der als Letzter dieses Phänomen „entdeckt“ hat, auf Kosten der deutschsprachigen Literaturwissenschaft in den Kritikerhimmel zu erheben.
Hinzu gesellen sich Bedenken des Verfassers, ob sich aus der gegenwärtig aktiven Neigung zur Totalanglisierung des anglistischen literarischen Diskurses längerfristig nicht Nachteile für die deutsche Literatursprache ergeben könnten. Anzeichen deuten bereits darauf hin!
Abschließend wird noch festgehalten, dass auch so etwas wie die Lewinsky-Affäre auf die Evolution des Romans durchaus Einfluss haben kann – nämlich auf seine Lizenz, Sex darzustellen.