Im Spiegelkabinett der Historie. Der Mythos der Schlacht von Kortrijk und die Erfindung Flanderns im 19. Jahrhundert
Gevert H. Nörtemann
In der Schlacht von Kortrijk hatten am 11. Juli 1302 die Milizen der flandrischen Bauern und Handwerker für die Zeitgenossen vollkommen überraschend ein französisches Ritterheer vernichtend geschlagen.
1838 hat Hendrik Conscience aus diesem „beinahe unmöglichen Ereignis “ mit seinem historischen Roman „Der Löwe von Flandern “ ein Nationalepos geschaffen, das flämisches Geschichts- und Selbstverständnis bis heute maßgeblich geprägt hat. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Schlacht von Kortrijk zum Gegenstand unzähliger Lieder, Gedichte, bildlicher Darstellungen, historischer Kontroversen und parteipolitischer Instrumentalisierungen. Frappierend ist, welche direkte Beziehung flämische Intellektuelle zwischen ihrer Gegenwart und dem fünf bis sechs Jahrhunderte zurückliegenden Ereignis herstellten; die Gegenwart wurde von ihnen im Spiegel der Vergangenheit interpretiert – oder umgekehrt.
Analysiert wird hier eingangs der auch in Deutschland vielgelesene Roman „Der Löwe von Flandern „, sein Entstehungskontext wird rekonstruiert und seine einzigartige Karriere als Bestseller am flämischen Buchmarkt dargestellt. Zweitens wird die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Schlacht untersucht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie von belgischen und flämischen Historikern zu dem zentralen Ereignis flämischer, belgischer, ja sogar europäischer Geschichte aufgewertet. Schließlich wird die massenwirksame Inszenierung des Mythos in Form von Denkmälern, Festen und Demonstrationen beschrieben, durch die der 11. Juli 1302 gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum bedeutsamsten Erinnerungsort der flämischen Bevölkerung avancierte, über den sie sich als Volk mit besonderem nationalem Status innerhalb Belgiens definierte und politisch artikulierte.