Weltgeschichte und Alltag im Banat
Fälle aus einem Anwaltsarchiv von der Monarchie bis zum Kommunismus
Tibor Varady
Dieses Buch entstand aus einer einzigartigen Quelle: dem vollständig erhaltenen Archiv der Anwaltskanzlei Varady über drei Generationen seit 1893 in Groß-Betschkerek, heute Zrenjanin, Nagybecskerek auf Ungarisch, Becicherecul Mare auf Rumänisch, einer Stadt von heute 76.000 Einwohnern in der serbischen autonomen Provinz Vojvodina, in der Nähe von Novisad, früher Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, später des Königreichs Serbien, danach besetzt vom nationalsozialistischen Deutschland, dann Teil des kommunistischen Jugoslawiens und heute wieder Serbien. Aus den Akten dieser Anwaltskanzlei wird das Zusammenleben der Menschen anhand der rechtlichen Konflikte lebendig, die in einer multiethnischen Kleinstadtkultur in den verschiedenen Staatsformen des 20. Jahrhunderts vorkamen. Im kleinen alltäglichen Leben der Menschen werden die Schicksale sichtbar, das Alltagsleben im alten Österreich und danach, die Brüche zwischen der k.u.k. Monarchie, dem Königreich Serbien, der deutschen Besetzung, dem kommunistischen Jugoslawien und dem heutigen Serbien werden aus den Kanzleiunterlagen lebendig. Die wichtige Stellung des Anwalts in einer freien Anwaltschaft und ihre Bedeutung für die kleinen Leute und ihre Nöte werden deutlich. Es bestand Anwaltspflicht und der Anwalt war für den Bürger oft die wichtigste Hilfe gegen die aktuellen Regime und ihre Willkür. Es geht um Ehen und Scheidungen, um Zwangsverkauf, Konfiskation, Restitution, Verstaatlichung, um Geburten und Erbschaften, Zwangsaussiedlung und Auswanderung, um Einsperrung und Befreiung der ländlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerung – wir erfahren von ihren Sorgen und Bedrohungen. Da gab es Zeiten, in denen dieselbe Person unbedingt Deutscher sein musste, kurz darauf aber keinesfalls: beide Situationen musste der Anwalt argumentieren und beweisen. In der aktuellen Situation war der Ausgang des Prozesses das Entscheidende. Heute, drei Generationen später, wird durch sie vor allem die Welt lebendig, in der die Prozesse stattgefunden haben. Aus neuem Blickwinkel und mit frischer Neugier zeigt uns Professor Varady, dass die Papiere auch die damalige Welt festhielten – und das macht sie für heute so interessant.