Mama Cilly
Erinnerungen an meine Mutter in Czernowitz und Sibirien
Othmar Bartfeld, Margit Bartfeld-Feller, Ilana Shmueli, Erhard R Wiehn
Ein gesegnetes Vermächtnis (Auszüge aus dem Vorwort zum Buch)
Auf Vaters Schreibtisch im Büro stand ein eingerahmtes Foto, das ein anziehendes Profil einer jungen, attraktiven Frau wiedergab und mit drei Worten: „Eine schöne Unbekannte“ lakonisch beschriftet war (Seite 19). Mit diesem Scherz irritierte Vater manchmal Leute, die nicht wußten, daß es seine Cillyka, unsere Mutter war.
Einmal betrat ein Geschäftsfreund aus Bukarest zum ersten Mal Vaters Büro. Fasziniert konnte er seinen Blick nicht mehr vom Foto der „schönen Unbekannten“ abwenden. Begeistert bat er Vater, ihn darüber aufzuklären. Freundlich schmunzelnd lud mein Papa seinen nichtsahnenden Geschäftsfreund als Gast nach Hause ein. Doch als es an der Wohnungstür klingelte, die „schöne Unbekannte“ selbst dem Besucher die Tür öffnete, dieser dann verblüfft und wie angewurzelt vor Mutter stehen blieb, verstand Vater sofort, daß ihm sein Scherz gelungen war.
Die Liebe meines Vaters zu seiner schönen Frau war unendlich groß.
Als der Gymnasiast Moritz Bartfeld in das Haus der Familie Reitmann einquartiert wurde, war Cillyka erst drei Jahre alt. Schon damals erklärte er in vollstem Ernst, daß er nur Cilly heiraten und solange auf sie warten werde.
Die Postkarte mit Vaters Foto in der Uniform seines K.u.K. Infanterie-Regiments und einer langen Widmung auf der Rückseite (S. 8) erreichte seine Cillyka im Jahre 1918, knapp vor Ende des Ersten Weltkrieges.
Viele Jahrzehnte konnte ich die gotische Schrift der Widmung nicht entziffern. Erst im Jahre 2001, als ich mich in Freiburg an der Tagung „Frauen im Exil“ beteiligte, traf ich dort eine sehr liebe ältere Lehrerin: Gisela Strasburger konnte Vaters Handschrift lesen! Ich erfuhr nun endlich, daß die Widmung eigentlich ein rührendes Liebesgedicht meines Vaters an seine Cilly war: (S. 7).
Mama Cilly (Cecilia Reitmann, 14.11.1901 – 21.04.1998) wuchs in einer einfachen, bürgerlichen, jüdischen Familie als Älteste von fünf Geschwistern auf und zog mit ihrem Liebreiz, ihrer Güte und Hilfsbereitschaft alle Herzen an, die sie umgaben. Sie wurde eine Frau, die sich im Laufe ihres schweren Lebens tapfer und unbetrübt durchkämpfte. Sie besaß eine bewundernswerte seelische Kraft und einen nie erlahmenden Mut.
Mama Cillys Jugend war von der Vielfalt der musikalischen und literarischen Ereignisse ihrer Familie geprägt. Es war eine Einfühlsamkeit, die sie immerfort begleitete und bei ihr ein fast stetes Glücksgefühl erweckte. Ich bin mir bis heute nicht im klaren, woher dieser außergewöhnliche Hang zum Geistigen kam, die Neigung zum Schönen in verschiedensten Formen, die Tendenz zum künstlerischen Ausdruck, besonders durch Lieder, Arien aus Opern oder Operetten, aber auch durch verschiedene Volksweisen, Balladen und Gedichte.
Als hochbetagte Frau deklamierte sie noch 1992 in der Prüfung der „Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis“ Gedichte von Heine und Goethe, Balladen von Schiller und sang mit leiser Stimme die „Lorelei“. In ihrem freien Aufsatz schrieb sie damals: „Ich dachte nie, daß ich in meinem Alter noch eine Prüfung ablegen werde. Es bereitete mir aber große Freude, weil ich die Gelegenheit hatte, mich an die Jugend zu erinnern.“
Schon in frühster Jugend, zeigte sich auch Cillykas beachtenswertes Talent zur Schneiderei, was sie mit der Anfertigung von allerlei Kleidungsstücken für ihre Mutter und Geschwister bewies. Als Otti und ich heranwuchsen, besuchte Mutter einen Schneidersalon, um sich in diesem Fach zu vervollständigen und um ihren Kindern die Kleidung selbst nähen zu können. Damals konnte sie gar nicht ahnen, daß ihre Nähkunst in der sibirischen Verbannung unsere Rettung sein würde.
Als unsere Familie im Juni 1940 ganz plötzlich und völlig unvorhergesehen nach Sibirien zwangsdeportiert wurde, sah sich Mama Cilly gezwungen, nach Vaters frühem Tod statt am Unglück zu zerbrechen, das Leben von uns Kindern in die eigene Hand zu nehmen, unsere Stütze und unser Rückgrat zu werden (dazu S. 56). Durch die leidvollen Erfahrungen in Sibirien aktivierten und verstärkten sich die verborgenen Kräfte ihrer Seele. Ein wichtiger Hinweis auf Mutters Stärke war auch ihre aufrichtige Anteilnahme am Schicksal anderer in Not geratener Menschen.
Im Jahre 1996 erschien mein erstes Buch Dennoch Mensch geblieben (Hartung-Gorre Verlag, Konstanz). Mutter saß fast täglich früh morgens mit diesem kleinen Bändchen in der Hand in Tel Aviv auf der Veranda am Fenster und las mit Andacht meine Kurzgeschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung. Lächelnd meinte sie: „Das ist mein ‚Siderl‘!“ (Sidur -Gebetbuch). Mama Cilly war auch bei der Präsentation dieses Buches hier in Tel Aviv stolz und zufrieden dabei (Foto S. 57); anschließend schrieb sie mir mit fester Hand in schöner Schrift folgende Worte zum Andenken:
Nach so viel Leid in meinem Leben, ist es plötzlich so hell und schön geworden. Es war der schönste und der erfolgreichste Nachmittag meiner Margit. Hilf Gott auf ihren weiteren Wegen. Mama.
Und:
Richte nie den Wert der Menschen in kurzer Stund.
Oben sind bewegte Wellen, doch die Perle liegt am Grund.
Mama Cillys Worte machen mich glücklich und bleiben für immer ein liebenswürdiges, nobles, gesegnetes Vermächtnis.
Margit Bartfeld-Feller Tel Aviv, 18. August 2009