Hans Schelkshorn und Wolfgang Tomaschitz
Autoritarismus und Identitätspolitik
Einleitung
»World is facing pandemic of authoritarianism« – Mit diesen Worten warnte Armatya Sen in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2020 vor einem neuen autoritären Zeitalter. Tatsächlich wird das Modell einer menschenrechtsbasierten rechtstaatlichen Demokratie heute in allen Weltregionen in ihren Fundamenten in Frage gestellt. In China, Russland, Indien, in der islamischen Welt, in Lateinamerika und nicht zuletzt in der westlichen Welt, ja selbst in den sogenannten Kernstaaten »liberaler Demokratie« wie Frankreich, England und den USA, sind autoritäre Bewegungen und Regime mächtig geworden, die Menschenrechte und Demokratie im Namen der Verteidigung der je eigenen »Identität« aushöhlen oder überhaupt ablehnen.
Mahnende Stimmen gab es bereits kurz nach 1989, als Francis Fukuyama noch die liberale Demokratie als Ende der ideologischen Evolution der Menschheit feierte. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die unkritische Affirmation »liberaler Demokratie« ignoriere, wie Leopoldo Zea, der maestro der mexikanischen Philosophie, in Fin del siglo XX: ¿Centuria perdida? (1996) monierte, eine zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts. So wie der entfesselte Liberalismus der Zwischenkriegszeit
den Aufstieg des Faschismus beförderte, so könne eine neoliberale Weltordnung erneut autoritären Regimen den Weg bereiten. Auch in Ostmitteleuropa sind die Keime eines neuen Autoritarismus bereits früh diagnostiziert worden. So verweist etwa Jerzy Szacki im Rahmen einer Befragung von Intellektuellen über ihre Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung der ostmitteleuropäischen Staaten auf die »Ikonographie der Befreiungsbewegungen«, in der »häufig die Gestalt des vitalen
Riesen, der seine Ketten sprengt und in ein neues Leben aufbricht« begegne. Der Mythos eines volkhaften »Riesen« als Ausdruck von Identität und Gemeinwille, könne nach Szacky für alle möglichen politischen Zwecke, also auch für autoritäre Politik instrumentalisiert werden.
Mit dem Aufstieg autoritärer Bewegungen ergeben sich auch für eine interkulturelle Philosophie neue Herausforderungen. Da in
den weitverzweigten Diskursen interkultureller Philosophie die Kritik an eurozentrischen, rassistischen und kolonialen Konzepten der »liberalen Demokratie« seit jeher – und zu Recht – ein Fixpunkt war und ist, ist in den intellektuellen Debatten über autoritäre Politik gleichsam eine bedenkliche Grauzone entstanden, die in der Zukunft noch sorgfältig analysiert werden muss. So knüpfen etwa in Europa neorechte Parteien nicht nur an antiliberale Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts an. Alain de Benoit, der Vordenker der Nouvelle Droite in Frankreich, verbindet in seiner Vision einer Koexistenz zwischen homogenen »Kulturen« mit einer Kritik am Menschenrechtsimperialismus des Westens, die sich unter anderem auch auf die Kritik von
Raimon Panikkar bezieht. In anderen Weltregionen setzen autoritäre Bewegungen bestimmte Traditionen einer antikolonialen bzw. antiimperialistischen Selbstbehauptung der je eigenen Kultur gegenüber dem »Westen« auf ihre Weise fort. So wird die Idee einer polyzentrischen Weltgesellschaft, die vor Jahrzehnten Enrique Dussel in seiner Theorie der »Transmoderne« philosophisch expliziert hat, heute in China und Russland von Intellektuellen und Politiker:innen propagiert. So plump
manche Instrumentalisierungen sein mögen, so sind sie doch ein Indiz für nötige Klärungen, auch in der interkulturellen Philosophie. Zumal in zahlreichen Weltregionen, derzeit mit besonderer Intensität in der islamischen Welt von Marokko bis zum Iran, zahlreiche Menschen für eine menschenrechtsbasierte Demokratie und eine völkerrechtliche Ordnung unter Einsatz ihres Lebens kämpfen und, wie in Myanmar oder in Belarus, letztlich an den hegemonialen Mächten der »polyzentrischen Weltgesellschaft«, im konkreten an China und Russland, scheitern.
Die nachstehenden Beiträge beleuchten das Phänomen des Autoritarismus primär im Prisma bestimmter Konstruktionen von »Identität«, die ausgehend von unterschiedlichsten historischen, kolonialen, politischen, ökonomischen, religiösen aber auch ideengeschichtlichen Voraussetzungen entworfen, propagiert und politisch durchgesetzt werden. Einen äußerst anschaulichen Einblick in den Mechanismus autoritärer Identitäts-Konstruktionen gibt Arjun Appadurai in seinem Beitrag zur Politik der Bharatiya Janata Party, seit 2014 erneut Regierungspartei in Indien, welche auf mehreren Ebenen versucht, eine konservative, hindu-nationalistische Ideologie gegen die regionale, ethnische und religiöse Vielfalt der indischen Gesellschaft durchzusetzen.
Indien als ein einziger großer Hindutempel – und der daraus folgende Ausschluss großer Bevölkerungsschichten, sind die Schlüsselbegriffe seiner Analyse.
Shalini Randeria, Jens Adam und Hagen Steinhauer gewähren in ihrem Beitrag »Von Differenzlinien und moralischen Mehrheiten« Einblick in den Stand ihrer Forschungen zum sanften Autoritarismus am Beispiel Polens und Frankreichs. Sie weisen anhand zahlreicher Beispiele darauf hin, wie erfolgreich es gelungen ist, das Narrativ der bedrohten weißen Mehrheitsbevölkerung durch eine Art »Mimikry der Marginalität« zu verbreiten und sie zeigen wie diese Strategien sowohl in populistischen oppositionellen Bewegungen als auch als Herrschaftstechniken »von sanft-autoritären Politikern in Regierungsfunktion« genutzt werden.
Heiner Roetz zeichnet in seinem Beitrag einige Grundlinien der Identitätspolitik Chinas in der jüngeren Geschichte nach. In der staatlichen Propaganda ist nach Roetz die Berufung auf die »chinesische Charakteristik« (zhongguo tese), inzwischen zur Leitvokabel der politischen Sprache der herrschenden Kommunistischen Partei geworden, die fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und nicht zuletzt die politische Ordnung umfasst. So werden unter dem Stichwort »Meritokratie versus westliche Demokratie« individuelle Menschenrechte abgelehnt und zugleich die »Wiederauferstehung der Nation« durch einen Rekurs auf die glorreiche »fünftausend jährige chinesische Geschichte« legitimiert. Die aktuelle Identitätspolitik Chinas ist allerdings kein Novum, sondern hat, wie Roetz zeigt, eine lange Vorgeschichte, die vor allem ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Alexander Höllwerth wendet sich in seinem Beitrag unmittelbar dem aktuell äußerst bedrängenden Krieg Russlands gegen die Ukraine zu. Die »Entgrenzung des Imperiums« war keine spontane Aktion der gegenwärtigen Machtelite, sondern, wie Höllwerth ideengeschichtlich expliziert, von geopolitischen Visionen des Eurasismus, Neoeurasismus und Nationalbolschewismus in Russland geleitet. Die eurasische Ideologie, in der die orthodoxe Spiritualität und Gemeinschaftlichkeit gegen den rationalistischen Individualismus des romano-germanischen Europa in Stellung gebracht wird, ist in den 1920–1930er Jahren von namhaften russischen Intellektuellen, insbesondere von Nikolaj Trubeckoj, Roman Jakobson und Lev Karsavin entwickelt und in jüngerer Zeit von Alexander Dugin auf gegriffen worden. Allerdings nimmt Dugin, wie Höllwerth zeigt, durch seine Position zur russisch-orthodoxen Kirche zugleich tiefgreifende Veränderungen der eurasischen Ideologie vor. Mehr noch: Seit den 1990er Jahren propagiert Dugin einen »Nationalbolschewismus«, in dem unter anderem auch mit Bezug auf Carl Schmitt das westliche Modell der repräsentativen menschenrechtsbasierten Demokratie entschieden abgelehnt wird.
Cinzia Sciuto – als Italienerin in Frankfurt lebend und auf Deutsch und Italienisch publizierend – stellt in »Sackgasse Identität« die simple Frage, ob sich Identität als Basis für emanzipatorisches politisches Handeln eigne und verneint diese Frage mit dem Hinweis, dass Herkunft, gemeinsame Sprache und andere identitäre Merkmale uns noch nicht zu politischen Subjekten machen würden. Dazu brauche es Werte, politische Absichten und Ziele. Anders als Randeria, Hagen und Steinhauer, die in der Diffamierung der woken Szene eine systematische Attacke rechtsgerichteter Kreise sehen, hält Sciuto die Kritik an dieser Szene nicht nur für legitim, sondern politisch für notwendig.
Andrzej Gniazdowskis Text »Die Diktatur des Heimischen« gibt reichlich Aufschluss über »Polens Sonderweg« in die Moderne. Ausgehend von aktuellen innenpolitischen Positionen gelingt es Gniazdowski anschaulich zu machen, dass das ambivalente Verhältnis Polens zur europäischen Moderne von polnischen Intellektuellen seit langem intensiv bedacht und diskutiert wird. Er zeichnet die Argumentationsstränge der beiden »Stämme«, des liberalen und des national-konservativen, nach und versucht dadurch die »Anfälligkeit der polnischen Wählerschaft für die Diktatur des Heimischen« verständlich zu machen. Die Suche nach alternativen Ansätzen führt ihn geistesgeschichtlich weit zurück zu Phänomenen wie dem altpolnischen Adelsrepublikanimus, der für ihn belegt, dass das Konstrukt »Pole = Katholik« sich nicht zwangsläufig hätte durchsetzen müssen. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe von Polylog versteht sich als bescheidener Beitrag zu einer Debatte, die ohne Zweifel noch intensiv weitergeführt werden muss. Seit den ersten Planungen dieses Heftes haben sich bekanntlich die weltpolitischen Ereignisse, vor allem durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die vornehmlich von Frauen initiierten Massenproteste im Iran, überschlagen. Wir bedanken uns daher in besonderer Weise bei allen Autor:innen, die wie selten zuvor gezwungen waren, ihre Beiträge gleichsam auf »offener See« inmitten noch unabge schlossener, extrem konfliktiver Entwicklungen zu erarbeiten.