Nachwort
Micho Mossulischwili wurde am 10. Dezember 1962 im Dorf Araschenda in der ostgeorgischen Provinz Kachetien geboren. Über seine Kindheit, die seine Persönlichkeit und damit auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, teilt er mit:
„Ist es eine kapitalistische Kindheit oder eine so-
wjetische Kindheit? Es ist eine Kindheit und damit Schluss! Ein Kind interessiert sich nicht für das staatliche System oder die Ideologie.
Meine Kindheit ist mit zwei Geschehnissen verbunden, aus denen man ersehen kann, warum ich Schriftsteller geworden bin (wenn ich wirklich einer bin).
1. Wenn in meiner Kindheit irgendeine Frau mit Kopftuch zu uns gekommen ist, forderte ich sofort, dass sie es abnehme. Tat sie es nicht, fing ich an zu weinen. Das setzte ich so lange fort, bis die erstaunten und völlig durcheinander gekommenen Frauen ihr Kopftuch abnahmen. Meine Mutter beruhigte sie immer wieder und erklärte ihnen, dass ich sogar sie von Anfang an mit Kopftuch nicht ertragen konnte und immer forderte, dass sie es abnehme. Später, als ich älter wurde, versteckte ich die Kopftücher meiner Mutter, damit sie sie nicht tragen könne.
Wenn ich auch jetzt eine Frau mit Kopftuch sehe, wird mein Herz in negative Schwingungen versetzt und ich bin nahe daran, sie zu bitten, ihr Kopftuch abzunehmen und Haare und Gesicht zu zeigen, weil das der schönere Teil der Menschheit ist.
Dieses kleine Detail, dass ich bei den Frauen das Kopftuch nicht ertragen konnte, weil es ihre Schönheit bedeckt, war – wie ich erst später begriffen habe, als ich groß geworden war – ein Anstoß dazu, mich so zu benehmen, dass ich den Frauen gefalle. Nach meiner damaligen Beobachtung schmeicheln die Männer den Frauen so, wie sie es nur können, um bei ihnen anzukommen, durch ihr Benehmen oder durch irgendwelche Aktionen. Dadurch habe ich angefangen, darüber nachzudenken, was ich machen könnte, um den Frauen zu gefallen. Blumen bringen? Natürlich! Aber ich habe auch entdeckt, dass ich Lebensereignisse gut beschreiben konnte. Ich konnte sogar solche Ereignisse erfinden und die Stimmen der Menschen in ihnen hören.
Dass ich schreibe, soll man so verstehen, dass ich damit den Frauen als dem schöneren Teil der Menschheit gefallen möchte. Ich denke ständig, dass mir dies bis jetzt nicht völlig gelungen ist. Und deshalb versuche ich immer wieder, neue Sachen zu schreiben …
2. Seit meiner Kindheit begleitet mich noch eine andere außergewöhnliche Schönheit, die meine Seele immer nach oben brachte. Das war die Musik. Aber die Sache mit der Musik war komplizierter. Es gab eine Art von Musik, die ich nicht leiden konnte und vor der ich wegrannte. Ich schaltete entweder das Radio aus oder verließ das Zimmer, um sie nicht hören zu müssen. So sehr missfiel sie mir. Aber es gab auch die andere Art der Musik. Wenn meine Seele sie hörte, flog sie hoch und begann sich frei zu bewegen in irgendwelchen wunderschönen Gefilden, oder sie flog um seltsam stehende und seltsam sprechende Menschen herum. Das gefiel ihr sehr.
Bevor ich anfing zu studieren und dabei Erzählungen zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich einen so seltsamen Bezug zur Musik hatte. Als ich versuchte, meinen eigenen Prosastil zu finden, las ich viele Schriftsteller. Ich erlernte meinen Schreibstil von ihnen und schrieb sogar ganze Seiten bei ihnen ab, um zu verstehen, wie sie schrieben.
Einige Schriftsteller standen mir nahe und von einigen wollte ich wegrennen. Hier passierte mir dasselbe wie mit der Musik, als ich klein war.
Aber während ich damals nicht verstehen konnte, was mit mir los war, habe ich beim Studium der Schriftsteller folgendes verstanden:
Mir steht Hermann Hesse nahe, und weit weg steht Thomas Mann.
Mir steht Akutagawa nahe, und weit weg steht Kawabata.
Mir steht Dostojewskij nahe, und weit weg steht Tolstoj.
Mir steht Wascha Pschawela nahe, und weit weg steht Ilia Tschawtschawadze.
Dabei bedeutet das überhaupt nicht, dass Thomas Mann, Kawabata, Tolstoj und Ilia Tschawtschawadze schlechte Schriftsteller seien. Sie stehen einfach weit weg von meiner inneren Natur.
Später, als ich begriffen hatte, dass der Rhythmus eines jeden Werks von Musik beeinflusst ist, entdeckte ich, dass Hermann Hesses Schreibrhythmus durch Mozarts und Bachs Musik bedingt ist, und nicht beispielsweise durch Beethoven, Haydn oder Schumann.
Der Rektor des Staatlichen Tifliser Konservatoriums, Professor Nodar Gabunia, hat einmal in einem Interview gesagt: ‚Von den Romantikern stehen mir Schubert und Schumann am nächsten. Meine Natur als Musiker ist fest geradeaus, nicht biegsam oder geschmeidig. Wenn wir das mit den Tieren vergleichen, habe ich wenig von der Natur der Katze in mir, mehr von der des Hundes. Die Beweglichkeit der Katze findet sich bei Mozart und Chopin, eine einschmeichelnde Beweglichkeit. Du beobachtest die Konturen und siehst keine Ecke. Bei Haydn, Beethoven und Schumann sind diese Ecken sichtbar. Ich spiele zwar selbstverständlich auch Chopin. Ich habe es aber immer vermieden, ihn auf der Bühne zu spielen, weil ich immer argwöhnte, dass es nicht das war, was es sein sollte. Ich habe auch Mozart nicht so oft gespielt. Viel lieber spielte ich Haydn, Beethoven, Schubert …‘
Das heißt, dass die (ja auch in der Psychologie bekannte) Einteilung in Katzen und Hunde ebenso wie bei den großen Komponisten auch bei den gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen besteht.
Hermann Hesse zum Beispiel ist eine Katze (sein autobiographischer Held Harry Haller aus dem Roman „Steppenwolf“ klammert sich in einem seiner Zauberträume an die langen Haare Mozarts und so schaukelt er auch in der Welt herum …) und Thomas Mann ist ein Hund.
Katzen sind Bach, Mozart und Chopin. Hunde sind Beethoven, Haydn, Schubert und Schumann.
Eine Katze ist Don Quijote und ein Hund Sancho Panza.
Als ich diese psychologische Einteilung fand und mich daran erinnerte, dass ich nach dem orientalischen Kalender ein Tiger bin (da ich 1962 geboren wurde), d.h. dass ich eine Katze bin, entdeckte ich auch, dass ich seit meiner Kindheit den Katzen-Komponisten viel näher stehe. Es machte mich glücklich sie zu hören, während ich vor den Hunde-Komponisten wegrannte.
Später passierte mir genau dasselbe mit der Literatur. Seitdem weiß ich, wie ich meine Werke schreiben soll. Der Stil eines jeden meiner Werke ist durch einen Komponisten oder eine Musik des Katzentyps bedingt: elastisch, knapp und ungezwungen.
An diesem Zyklus von Miniaturen habe ich zum Beispiel mein ganzes Leben lang geschrieben. Ihnen liegen einzelne musikalische Phrasen von Komponisten zu Grunde. Wenn man einzelne Ausschnitte spielt, ohne sie zu beenden, und dann zu den nächsten übergeht, entsteht am Ende ein Mosaik …
Was ich schreibe, kommt nicht aus anderer Literatur oder ist von anderen Schriftstellern beeinflusst, sondern ist im Grunde der Musik entnommen.
Genauso suche ich immer wieder „meine Katzen-Maler“ für visuelle Vorstellungen und versuche dann, etwas zu schreiben.
Diesen Zugang zur Literatur verursachten die in der Kindheit angehörten Musikarten: vor der einen bin ich weggerannt, die andere habe ich immer wieder gesucht.“
Nach der Schulzeit entschied sich Micho Mossulischwili für das Studium der Geologie und Geographie, das er 1981-1986 an der Universität von Tiflis absolvierte. Im Nebenfach studierte er Kinodramaturgie. Schon zu dieser Zeit war er schriftstellerisch tätig.
Für das Studium der Geologie hatte er sich entschieden, um finanziell unabhängig zu sein und damit seinen literarischen Neigungen besser nachgehen zu können. In der Sowjetunion war es nicht leicht, als Literat zu leben, wenn man nicht vollständig mit dem System übereinstimmte. Im letzteren Falle musste man längere Zeit auf die Veröffentlichung seiner Werke (und damit auf die davon abhängenden Honorare) warten. Micho Mossulischwili bemerkt dazu: „So wie meine anderen Freunde dachte auch ich, dass Literatur und auch die anderen Kunstrichtungen nicht eingeschränkt werden sollten. Sie dürfen auf keinen Fall einer Ideologie hörig sein. Sonst verschwindet beim Verschwinden der Ideologie auch das Interesse am Werk.“
Aber es kam noch ein anderer Aspekt hinzu: „Ich frage mich: Was willst du eigentlich bei der Geologie? Warum wolltest du das lernen und später darin arbeiten? Auch heute denke ich genau dasselbe wie damals: Das Leben der Geologen ist das Leben von Wandernden und Reisenden. Wer danach strebt, viel zu sehen, blickt dabei nicht nur in die geographische Landschaft und zu den dort lebenden Menschen, sondern auch in die Tiefe der Erde und der Vergangenheit.“
Seine erste Novelle „Der Waldmann“ schrieb er bereits 1982. Sie wurde 1984 in der angesehenen traditionsreichen, 1852 gegründeten literarischen Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht.
Während des Studiums absolvierte er im Sommer 1985 ein geologisches Praktikum in der Berg-Region Ratscha im mittleren georgischen Kaukasus-Gebiet, das er sehr genoss. Ein Jahr später schloss er das Studium ab und wurde danach als Geologe bei der Georgischen Geologisch-Geophysikalischen Gesellschaft angestellt. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurde er in der nordöstlich gelegenen Bergregion Pschawi eingesetzt, der Heimat des von ihm verehrten georgischen Schriftstellers Wascha Pschawela. Die Arbeit begann im Frühling. Sie zogen mit Zelten und Ausrüstung über Wiesen und Felder, nahmen Gesteinsproben und erstellten Pläne über mögliche Rohstoffvorkommen. „Diese Beschreibungen wurden auf Russisch verfasst und an das Ministerium für Bergbau der Sowjetunion geschickt.“
Die Tätigkeit war interessant und voller unerwarteter Begebenheiten. „Ich hatte alltägliche Beziehungen zu den Einheimischen in Pschawi. Ich schrieb alles in meinem Notizbuch auf, was sie mir erzählten. Die Pschawier sprachen in ihrem eigenen Dialekt, der vielleicht nicht nur ein Dialekt ist, weil diese Sprache eigentlich das Altgeorgische bewahrt hat. In diesem Dialekt schrieb der große Wascha Pschawela, dessen Werke sehr viel Gemeinsames mit
Goethe, vor allem dessen Faust, haben, was ein eigenes Thema für die Literaturwissenschaft sein könnte.
Für mich als Schriftsteller war die Erfahrung als Geologe in Pschawi, wo man heute noch Wascha Pschawelas Sprache spricht, äußerst fruchtbar. Dem Leben „in dieser Ecke“ fühlte ich mich sehr verbunden. Mein Notizbuch ist voller Anmerkungen zu dem, was ich dort gehört habe. Ich schrieb ganze Tagebücher und bewahrte sie auf, was ich später gut in Erzählungen verarbeiten konnte.“
1987 heiratete er. Der Ehe entstammt eine Tochter.
1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das geologische Institut in Tiflis aufgelöst und die dort beschäftigten Geologen wurden arbeitslos. Die Schwierigkeiten dieser Zeit und der Zerfall der alten Gesellschaft sind in vielen seiner Miniaturen zu spüren. Micho Mossulischwili selbst verdiente seinen Lebensunterhalt nun als Journalist bei verschiedenen Zeitungen, als freier Schriftsteller sowie als Übersetzer von Drehbüchern für die Fernsehproduktion. Daneben übersetzte er auch schöne Literatur, vor allem einige Kriminalromane des bekannten russischen Autors Boris Akunin.
Zum Untergang des sowjetischen Imperiums und der Rolle Georgiens bemerkt er: „Was fühlte ich, als die Sowjetunion zusammenbrach? Ich wusste, dass es ein Land mit einer wackligen Ideologie war, die den Menschen vergessen hatte und aus den Menschen kommunistische Drachen gemacht hatte. Sie wäre auf jeden Fall auseinandergebrochen. Es gab keinen anderen Weg. Aber ich war sehr traurig, dass mein kleines Land und meine kleine Familie in den Trümmern dieses großen Imperiums verschüttet waren.
Ich denke auch jetzt, dass wir uns immer noch zwischen den Trümmern des russischen Imperiums befinden und dass Russland mit seinen schleichenden Okkupationen gegen uns kämpft, dass es mit den von ihm finanzierten Gruppen und Fernsehsendern – soweit es die internationale Gemeinschaft zulässt – daran arbeitet, uns zu zähmen und wieder in sein erneuertes und modernisiertes Imperium hineinzubringen.“
Micho Mossulischwili ist heute ein äußerst fruchtbarer Autor, der vor allem auf den Gebieten der Prosa und des Dramas tätig ist. Seine Novellen und Romane sind oft auf den georgischen Bestsellerlisten zu finden, seine Theaterstücke werden an allen namhaften Theatern Georgiens gespielt, darunter auch am Akademischen Schota-Rustaweli-Theater in Tbilissi, dem ersten Theater Georgiens. Er wird häufig mit Preisen ausgezeichnet, national wie international.
In Deutschland ist vor allem seine Kriminalsatire in einem Akt „Weihnachtsgans mit Quitten“ bekannt geworden, die humorvoll Kritik an der modernen Konsumgesellschaft übt. Einen Bezug zu Deutschland hat auch sein Roman „Flug ohne Fass“, in dem es – unter Anspielung auf den Fassritt Mephistos und Fausts in Auerbachs Keller – um das halblegale Dasein dreier georgischer Emigranten in deutschen Flüchtlingslagern und allgemein ihr Schicksal in Deutschland zusammen mit ein paar nigerianischen Gaunern geht.
Micho Mossulischwili greift die unterschiedlichsten Themen in seinen Werken auf. Sein Interesse endet nicht an den Grenzen Georgiens. Wir werden noch viel von ihm erwarten können.
Joachim Britze