Übersicht und Einführung
1993, vor 20 Jahren, wurde die Idee geboren, die Geschichte der Zerstörung Jülichs gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und des nach 1945 erfolgten Wiederaufbaus vor dem Hintergrund von Fotos aus dem Vorkriegs-Jülich in einprägsamen Bildern und Texten nachzuzeichnen. Wegen der beständigen Nachfrage und des wachsenden Interesses an der Geschichte unserer Stadt liegt nun die dritte Auflage vor. Sie wurde erheblich erweitert – um neue Fotodokumente der Innenstadt, besonders aber der Zitadelle mit dem Schloss. Dazu interessante Beiträge, die darauf angelegt sind, den historischen Kontext städtebaulicher Entwicklungen der denkmalgeschützten „Pasqualinischen Altstadt“ wahren zu helfen und zu fördern.
Die Buchidee erwies sich als sehr erfolgreich. Denn die Erinnerung an die kaum mehr als zwanzig Minuten Bombardierung Jülichs – wie gleichzeitig Dürens und Heinsbergs – am Nachmittag des 16. November 1944 mit wohl 500 Flugzeugen, als sich der Himmel verdunkelte und die Uhren stillstanden, ist bei vielen Menschen sehr lebendig geblieben, wie auch die Erinnerung an die schweren Wiederaufbaujahre nach 1945.
Weitgehend in Vergessenheit geraten war hingegen, warum das historisch geprägte Erscheinungsbild Jülichs, das der „Innenstadt“ im Fünfeck der ehemaligen Wallstraßen um den Marktplatz herum, in so steinerner, fremdartig anmutender Stringenz erscheint, so „unromantisch“, mit breiten, geraden Straßen – und eben mit keiner als „schön“ empfundenen Stadt vergleichbar, dem heimeligen Monschau beispielsweise, dem mittelalterlichen Kempen oder dem romantischen Zons am Rhein. Als Erklärung diente oft, Jülich sei eben als die am stärksten zerstörte Stadt Deutschlands schnell und mit einfachen Materialien wieder aufgebaut worden, ohne großen Plan, da sich die evakuierte, nun schnell zurückkehrende Bevölkerung neuen Wohnraum schaffen musste. Ausdruck dieses Vergessens ist in gewisser Weise sogar die gelb¬lich-rote, streng geometrische Farb- und Formgebung der 1985/86 entstandenen „Fußgängerzone“, die ihren Ursprung in der den Architekten suggerierten Vorstellung von den römisch-mittelalterlichen Wurzeln Jülichs hat – von der Stadt, die bei dem großen Stadtbrand von 1547 aber endgültig untergegangen war.
Zum Erfolg des Bildbandes, dem nun die dritte Auflage zu verdanken ist, trug daher bei, dass die Wiederaufbaugeschichte nach 1945 einen ganz anderen, ungleich spannenderen Hintergrund hatte, der in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreicht: Herzog Wilhelm V., „Der Reiche“, und sein italienischer Baumeister Alessandro Pasqualini begannen nämlich schon ab 1545, Jülich als damals zeitgemäße Residenzstadt mit Wehranlagen und Schloß nach italienischen Vorbildern völlig neu und ingenieurmäßig am Reißbrett zu planen. Dabei kam der verheerende Brand von 1547, dessen Ursache nie richtig geklärt wurde – selbst herzogliche Brandstiftung war im Gespräch – offenbar gerade recht. Denn nachdem das mittelalterliche Städtchen in Schutt und Asche gelegt war, folgte unmittelbar die „zweite Stadtgründung“ Jülichs – zwischen 1548 und etwa 1585 ließ sich der Herzog seine Residenzstadt als italienische „Ideal-anlage der Renaissance“ entwerfen und erbauen. Sein Baumeister verzichtete dabei ganz auf mittelalterliche Fachwerkbauten mit Giebel und Traufen¬gassen. Innerhalb der neuen, jetzt bastionierten Stadtbefestigung wählte er die revolutionär-neue Randbebauung der Straßen durch Baublöcke, die innerhalb eines Straßengevierts geschützte, vielseitig nutzbare Innenhöfe bildeten. Wie „modern“ diese Bauweise noch dreihundert Jahre später erscheint, ist in einem Bericht von Johanna Schopen¬hauer über ihre Reise 1828 an den Niederrhein zu entdecken: „In Jülich hielten wir zu Mittag; einem, unerachtet der es umgebenden Festungswerke, recht heiteren Städtchen, mit hübschen neuen Häusern und breiten, geraden Straßen“; in Aachen bemerkt sie – wie in ähnlichen Städten – den Gegensatz „altmodischer Giebelhäuser“ zu mehreren „neuen Gebäuden in modernem Stil“, die sich „schon in ihre ehrwürdigen Reihen gedrängt“ haben.
Diese „Herzogstadt“, die bis zur erneut vollständigen Zerstörung 1944 schon 360 Jahre bestand und trotz vieler baulicher Veränderungen deutlich Pasqualinis Handschrift trug, war es, die dann 1945 sehr bewusst zum Vorbild für die „Idealwiederauferstehung“ im Sinne Theodor Wildemans wurde, wie es Rüdiger Urban nachfolgend beschreibt. Und dass sich Jülich – anders als z.B. eine mittelalterliche Stadt mit Fachwerkhäusern und schmalen Gassen – selten jemandem auf Anhieb emotional erschließt, liegt an diesem technisch-funktionalen Stadtentwurf von 1548 mit den von Wilhelm V. gewünschten rationalen Anforderungen, die Jülich als moderne Residenzstadt zu erfüllen hatte – optimale Verteidigungsfähigkeit, beste urbane Erschließung und anspruchsvolle, zeitgemäß-moderne Architektur.
Die Merkmale des alten Stadtbildes sind bis heute erkennbar. Sie bedürfen allerdings eines kenntnisreichen Blickes, um sie zu finden und zu verstehen. Welche es im Einzelnen sind und wie sie Jülichs städtebaulich einzigartiges Erscheinungsbild prägen, erschloss sich mit den vergriffenen Auflagen bereits durch die Anmerkungen „Nach 50 Jahren“ und das Vorwort Jürgen Eberhards von 1994, weshalb beide, quasi als zusammenfassendes Nachwort, also am Ende dieser dritten Auflage übernommen wurden; beeindruckend sind und bleiben zudem die erneut wiedergegebenen Zitate auf der vierten Umschlagseite, die zusammen mit den Luftbildern vom 16. Dezember 1944 auf den ersten drei Um-schlagseiten ihre ganze Bedeutung entfalten. Wer das Wiederaufbaukonzept und die „südländischen Wurzeln“ der „dritten Stadtgründung“ Jülichs aber umfassender kennenlernen, verstehen und leicht zu-gänglich haben will, für den wurden auch die beiden wissenschaftlichen Beiträge der Pasqualini-Sympo-sien von 1993 und 1998 wieder übernommen.
Die dritte Auflage wurde zudem durch ein neues Dokument wesentlich erweitert. Besonders geeignet unter dem Buchtitel „Bilder einer Renaissancestadt – Jülich vor und nach dem 16. November 1944“ veröffentlicht zu werden, erschien mir der im Stadtarchiv schlummernde „Reisebericht über die Besichtigung von Jülich“: Der Vertreter des Rheini¬schen Provinzialkonservators, der obersten Denk-malbehörde, Provinzialbaurat Theodor Wildeman, unternahm die Reise schon am 28. November 1945 mit Landrat und Bürgermeister sowie in Begleitung des Kreis- und Stadtbaumeisters. In einem beidseitig auf transparentem „Durchschreibpapier“ im Jülicher Stadtarchiv überlieferten Exemplar kaum lesbar, gelang es Susanne Richter, es für den Faksimile¬druck reproduzierbar zu scannen; Rüdiger Urban kommentiert das eindrucksvolle Dokument einfühl¬sam, kenntnisreich und umfassend nachfolgend in seinem Beitrag „Zertrümmert – aber nicht zerstört.“
Die „Pasqualinische Altstadt“ Jülichs steht – nach einer Initiative des Fördervereins – seit Ende März 1993 unter dem fordernden Schutz einer Denkmalbereichssatzung: „Zur Erhaltung und Nutzung der Reste der historischen Renaissance-Idealstadtanlage Jülichs aus dem 16. Jahrhundert und zur Wahrung des Erscheinungsbildes der auch im Wiederaufbau nach 1945 fassbaren historischen Stadtgestalt mit ihren Raumbezügen und Blickachsen werden an bauliche Anlagen, Straßen und Freiflächen besondere Anforderungen ( … ) gestellt“. Die dritte Auflage dieses Buches soll mit der Wiedergabe der Satzung verstärkt dazu beitragen, deren Bekanntheitsgrad zu erhöhen und die allgemein hohe Akzeptanz noch – wo nötig – gezielt verbessern. Bei öffentlich diskutierten Gestaltungsfragen ist dies eine schnell verfügbare Entscheidungshilfe – genau so wie die an der FH Köln von Jost Michael Broser und Jürgen Eberhardt entwickelten und von Jaime Fernandez Rubio zu Papier gebrachten „Gestaltungsvorschläge nach der Denkmalbereichssatzung“ für die – technisch in allen Fällen mögliche – Schließung von „Baulücken im renaissance-zeitlichen Stadtkern von Jülich“; für den Förderverein ersetzen sie die ursprünglich geplante, gegenwärtig aber nicht realisierbare „Gestaltungsfibel“ auf der Basis der Ortssatzungs-Entwürfe v. Schöfers und der Bauverwaltung von 1947, die als „Ortssatzung“ bereits am 10.3.1948 Rechtskraft erlangte und noch heute gültige Anfor¬derungen an eine moderne Gestaltungssatzung erfüllt.
Mit den ergänzten Texten und Bildern der dritten Auflage zeigt sich dem Leser, dass Theodor Wildeman und René v. Schöfer mit der sich ihnen stellenden Aufgabe des von den Merkmalen der Renaissancestadt des 16. Jahrhunderts geprägten Wiederaufbaus vor einer doppelten Herausforde¬rung standen, die sie genial bewältigten und die seit langem den Denkmalwert der „Pasqualinischen Altstadt“ ausmachen: Zum einen sind es die historisch-gestalterischen Bezüge, wie sie sich aus den überkommenen – nach der Zerstörung der Innen¬stadt notwendigerweise zu überarbeitenden – Plänen der Altstadtsanierung stellten. Betrachtet man diesen Bezug allein, dann ist hier wohl der Grund dafür zu suchen, dass schon ein Jahrzehnt nach dem faktischen Ende der Bauberatung 1954 Baustil und Fassadenformen auch in der „Pasqualinischen Altstadt“ beliebig wurden; mehr und mehr auch verbunden mit einer Abwertung als „50er-Jahre-Architektur“ – eine Haltung, die bis heute anhält.
Zum anderen sind es historisch-ideelle Zusammen¬hänge, die über einen traditionalistischen Ansatz der Bewertung des Wiederaufbaus hinausgehen: Sie greifen auf die Entscheidung des Herzogs und die (Lebens-)Aufgabe seines italienischen Baumeisters zurück, eine völlig neue Stadt zu erbauen mit Anforderungen, wie sie einst nach Umfang und Komplexität städtebaulich so herausragend waren. Nach der vollständigen Zerstörung der Jülicher Altstadt bedeutete dies für deren Wiederaufbau, dass außer der historischen Prägung von Bauform und Baugestaltung aller Gebäude auch – und zumindest in den Grenzen des Pentagons der ehemaligen Wallstraßen – der historische Stadt¬grundriss in fast allen Details zu übernehmen war.
Erst die bauliche Synthese dieser Anforderungen bedeutet für Wildeman „Idealauferstehung“ Jülichs, und für v. Schöfer ist damit „( … ) die Gestaltung des Wiederaufbaus in etwa vorweggenommen. Denn ein Stadtgrundriss ist ( … ) ein wesentlicher Bestandteil eines Lebensraums als Kunstform, die verpflichtet“. Jürgen Eberhardt sah daher schon 1994 in dem „an der historischen Stadtgestalt orientierten Wiederaufbau Jülichs“ einen „bedeuten¬den Beitrag zur Stadtbaugeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“. Für Stadtrat und Verwaltung in Jülich bleibt damit die eingehende Forderung bestehen, nicht nur nicht die Anforderungen der Denkmalbereichssatzung zu reduzieren, sondern für das Stadtdenkmal „Pasqualinische Altstadt“ endlich eine moderne Gestaltungs- und Werbeanlagen-Satzung zu erlassen – ein Ziel, dem sich der Förderverein auch mit dieser dritten Auflage des Buches besonders widmet.
Die Anzahl der Fotos wurde nicht nur für den Altstadtbereich, sondern gerade auch für die Zitadelle und hier für die Schloßanlage und die Schloßkapelle erhöht, um deren Wandel möglichst seit den Anfängen der Fotographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu dokumentieren. Dabei blieben die Grundsätze der Bildauswahl für die beiden älteren Buchauflagen für die dritte Auflage unverändert: Wenn irgend möglich, sollten die Fotomotive – jeweils auf denselben Standort bezogen – vor dem Krieg, in der Zerstörung und nach dem Wiederaufbau gezeigt werden. Wo das mangels überlieferter Fotographien nicht möglich war, werden ganze Straßenzüge gezeigt, oft auch größere Stadtbereiche, um die Wiedererkennbar¬keit zu verbessern und Vergleiche zu erleichtern, weshalb auf vielfachen Wunsch viele Bildunter¬schriften zu ergänzen waren. Der Dank der Autoren gilt allen, die beratend mitgeholfen haben, vor allem Guido v. Büren, Horst Dinstühler, Jürgen Eberhardt, Wolfgang Hommel und Wolfgang Schneiders. Als besonders schmerzlich empfanden wir den Verlust von Helmut Scheuer, der ein besonderer Kenner des alten Jülich war, aber leider nicht mehr unter uns weilt.