Anke Graneß
Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive
Einleitung
Das Schwerpunktthema dieser Polylog-Ausgabe widmet sich ersten Forschungsergebnissen des seit April 2019 an der Universität Hildesheim laufenden Reinhart-Koselleck-Projekts der DFG »Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive«. Aufbauend auf Vorläuferarbeiten sowohl zur kritischen Untersuchung der Geschichte der (europäischen) Philosophiegeschichte [Fn 1: Wimmer: Interkulturelle Philosophie; Schneider: Die Vergangenheit des Geistes; Park: Africa, Asia, and the history of philosophy.] (siehe dazu der Beitrag von Elberfeld in diesem Band) als auch bereits bestehenden ersten Versuchen einer globalen Philosophiegeschichtsschreibung (siehe dazu u. a. der Literaturbericht von Herzl) sowie einer bisher vor allem in den Regionalwissenschaften und Philologien entstandenen Tradition regionaler Philosophiegeschichtsschreibung (z. B. Indiens, Chinas oder der islamischen Welt), wurde dieses Projekt von Rolf Elberfeld ins Leben gerufen, um auf einen bis heute bestehenden blinden Fleck in der Disziplin der Philosophiegeschichte aufmerksam zu machen und diesen einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen: die Marginalisierung außereuropäischer Philosophietraditionen in der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung sowie die beinahe völlige Ignoranz gegenüber Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung in außereuropäischen Sprachen.
Eine Philosophiegeschichtsschreibung, die sowohl den globalen und interkulturellen Verflechtungen philosophischer Traditionen als auch den inzwischen deutlich an alle Wissenschaften herangetragenen Forderungen nach einer Dekolonisierung von Forschung und Lehre gerecht werden will, kann nicht unreflektiert die philosophiegeschichtlichen Erzählungen der letzten zweihundert Jahre fortführen und diesen lediglich einige Beispiele aus anderen Regionen der Welt hinzufügen, so die Grundthese unseres Projekts. Vielmehr müssen jene Mechanismen kritisch untersucht werden, die allererst zum Ausschluss von außereuropäischen Philosophietraditionen ebenso wie von Philosophinnen aus den vorherrschenden Narrativen geführt haben, und methodische Probleme, die sich im Zusammenhang mit einer globalen Perspektive auf die Philosophie und ihre Geschichte neu stellen, gründlich bedacht werden. Dazu gehört eine ganz grundlegende Reflexion auf die Auswirkungen historischer Ereignisse mit globaler Wirkung wie der europäischen Expansion, dem Kolonialismus und der Sklaverei auf philosophische Theoriebildungen innerhalb und außerhalb Europas, die Frage nach dem Status mündlich überlieferter philosophischer Traditionen und Konzepte in der Philosophiegeschichtsschreibung, sowie auf Möglichkeiten der Rekonstruktion des philosophischen Wissens von Frauen in den verschiedenen Regionen der Welt [Fn. 2: Um die Beiträge von Philosophinnen sichtbarer zu machen, wird in allen Beiträgen zum Schwerpunkt dieser Polylog-Ausgabe eine gendergerechte Schreibweise praktiziert.] (dazu in dieser Ausgabe ausführlicher Graneß).
Ebenso dringend ist die Auseinandersetzung mit Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung außerhalb Europas. Als Voraussetzung dafür führt das Team des Koselleck-Projekts seit zwei Jahren eine umfassende Literaturrecherche zur Philosophiegeschichtsschreibung in möglichst vielen Sprachen der Welt durch, im Moment in über zwanzig europäischen und außereuropäischen Sprachen. Als primäres Auswahl- und Ordnungskriterium zur Erschließung philosophiehistorischer Literatur weltweit wurde die Vielfalt der Sprachen gewählt – und nicht (wie gemeinhin üblich) regionale oder nationale Einteilungen –, da einzelne Sprachen jeweils einen eigenen Diskursraum der Philosophiegeschichtsschreibung bilden, der wiederum mit anderen Sprachen verflochten ist und sich nicht mit regionalen oder nationalen Grenzen deckt.
Aufbauend auf Projekten zur Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung, wie Lucien Brauns Geschichte der Philosophiegeschichte (1973) und Giovanni Santinellos Storia delle storie generali della filosofia (1979–2004; dazu Greco in diesem Band), wurde eine umfangreiche Datenbank angelegt, die aufgrund der heutigen digitalen Möglichkeiten nicht nur bibliografische Angaben philosophiehistorischer Werke versammelt, sondern zugleich deren Inhaltsverzeichnisse und (wenn vorhanden) digitalisierte Volltexte in öffentlichen Online-Archiven zugänglich macht. Ein großer Teil der bisherigen Ergebnisse der Literaturrecherche wurde über die Homepage unseres Projekts der Öffentlichkeit bereits zur Verfügung gestellt. [Fn. 3: Zusätzlich erscheinen in Zukunft kommentierte Printversionen der gesammelten Bibliographien in einzelnen Sprachen. Den Anfang macht die folgende bibliographische Sammlung: Leon Krings/Yoko Arisaka/Tetsuri Kato (eds.): Histories of Philosophy and Thought in Japanese Language. From 1835 to 2021. Hildesheim: Olms Verlag 2022. (Forthcoming) Kommentierte Printversionen der Bibliographien in koreanischer und italienischer Sprache sind in Vorbereitung.] Gemeinsam mit dem Center for Humanities and Digital Research (CHDR) der University of Central Florida (USA) wird inzwischen am Aufbau einer durchsuchbaren Datenbank gearbeitet, die die wissenschaftliche Nutzung der gewonnenen Daten weiter vereinfachen und vertiefen wird.
Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass unsere Recherche über den Horizont europäischer Sprachen hinausgeht und nun erstmals umfangreiche bibliografische Sammlungen aller bisher veröffentlichen philosophiegeschichtlichen Werke, von den Anfängen der Philosophiegeschichtsschreibung bis ins 21. Jahrhundert, in ausgewählten außereuropäischen Sprachen dokumentiert werden. Möglich wurden diese detaillierten Forschungen mithilfe einer internationalen Forschungsgruppe bestehend aus acht Forscher*innen aus sechs Nationen, sowie einer Reihe freier Mitarbeiter*innen, die – von China bis Brasilien – vor Ort entsprechende Recherchen übernahmen. Zu den beforschten außereuropäischen Traditionen der Philosophiegeschichtsschreibung gehören die Traditionen auf Arabisch, Chinesisch, Indonesisch, Japanisch, Koreanisch, Persisch, Sanskrit, Tibetisch und Türkisch. Der Umfang des in diesen Sprachen bisher zusammengetragenen Materials hat uns zum Teil ebenso überrascht wie der frühe Beginn der Tradition der Philosophiegeschichtsschreibung in einigen Sprachen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass zukünftige Forschungen zum Beginn der Philosophiegeschichtsschreibung nicht mehr allein in der griechischen Tradition ansetzen können. Das gleiche gilt für alle folgenden Jahrhunderte. Einen Einblick in Beispiele früher philosophiegeschichtlicher Werke aus China gibt in diesem Band Zhuofei Wang; Sool Park führt in einige wesentliche Aspekte der Philosophiegeschichtsschreibung in Korea ein.
Zusammengetragen wurden ebenfalls erste Ansätze einer globalen Philosophiegeschichtsschreibung in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Sprachen. Einige ausgewählte jüngere Beispiele aus europäischen Sprachen werden im Literaturbericht von Namita Herzl vorgestellt. Überraschend war für uns, dass globale und verflechtungsgeschichtliche Ansätze der Philosophiegeschichtsschreibung auf Japanisch bereits eine hundertjährige Tradition haben, wie der Beitrag von Leon Krings in dieser Ausgabe deutlich macht. Gerade Krings’ Aufsatz verweist damit zugleich darauf, wie eurozentrisch geprägt selbst eine globale Perspektive auf die Philosophiegeschichte bis heute noch immer ist, wird nach Ansätzen einer globalen Philosophiegeschichte oder Weltgeschichte der Philosophie in anderen Regionen der Welt oder außereuropäischen Sprachen gemeinhin doch nicht einmal gefragt.
Ein weiterer, auf unserer Webseite noch im Aufbau befindlicher, Schwerpunkt unserer Forschung ist das Zusammentragen von internationalen Beispielen von Lehrplänen und Forschungsschwerpunkten, die deutlich eine interkulturelle bzw. globale Perspektive auf die Philosophie und ihre Geschichte zeigen. Dass die USA in dieser Hinsicht zu einem Vorreiter geworden sind, zeigt der Beitrag von Yoko Arisaka in diesem Band zu den bereits vor zwanzig Jahren initiierten Maßnahmen der Diversifizierung an Philosophieinstituten in den USA.
Diese Ausgabe des Polylog bietet somit Einblicke in die Breite der Forschungsschwerpunkte sowie erste Ergebnisse des Reinhart-Koselleck-Projekts »Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive«. Vertiefende Publikationen sind derzeit bereits im Entstehen. Neue Entwicklungen und Publikationen können Sie auf der folgenden Seite weiterverfolgen: https://www.uni-hildesheim.de/histories-of-philosophy/publikationen/
Literatur
Braun, Lucien: Geschichte der Philosophiegeschichte. Übers. v. Franz Wimmer, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990. [Orig.: Histoire de l’histoire de la philosophie. Paris: Ophrys, 1973]
Elberfeld, Rolf: Dekoloniales Philosophieren. Versuch über philosophische Verantwortung und Kritik im Horizont der europäischen Expansion. Hildesheim: Olms Verlag, 2021.
Park, Peter K. J.: Africa, Asia, and the history of philosophy: racism in the formation of the philosophical canon, 1780–1830. Albany, NY: State University of New York Press, 2013.
Santinello, Giovanni (Hrsg.): Storia delle storie generali della filosofia. 5 Vol. Brescia: La scuola / Padova: Antenore, 1979–2004.
Schneider, Ulrich Johannes: Die Vergangenheit des Geistes: eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990.
Wimmer, Franz M.: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie. Wien: Passagen Verlag, 1990.
Aktualisiert: 2022-01-20
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Der Band versammelt junge Forscherinnen und Forscher, die sich in ihren Arbeiten in affirmativer bis kritischer Weise mit dem Denken Martin Heideggers auseinandersetzen. Der Band leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Frage, ob und in welcher Form sich weiter mit Heidegger denken lässt. Das internationale Spektrum der Beitragenden erlaubt es, den gegenwärtigen Stand der Heideggerforschung über Landes- und Traditionsgrenzen hinweg zu überblicken und zukünftige Forschungstrends zu antizipieren.
Aktualisiert: 2023-02-13
Autor:
Jason W. Alvis,
Andreas Beinsteiner,
Giovanna Caruso,
Diego d'Angelo,
Umut Eldem,
Gregory Floyd,
Francesca Greco,
Lucilla Guidi,
Choong-Su Han,
Lucian Ionel,
Anna Jani,
Karl Kraatz,
Morganna Lambeth,
Giulia Lanzirotti,
Joseph Emmanuel D. Sta. Maria,
Manuela Massa,
Edward McDougall,
Ian Alexander Moore,
Johannes Achill Niederhauser,
Paul-Gabriel Sandu,
Maria Agustina Sforza,
Gerhard Thonhauser,
Hongjian Wang
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Der Band versammelt junge Forscherinnen und Forscher, die sich in ihren Arbeiten in affirmativer bis kritischer Weise mit dem Denken Martin Heideggers auseinandersetzen. Der Band leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Frage, ob und in welcher Form sich weiter mit Heidegger denken lässt. Das internationale Spektrum der Beitragenden erlaubt es, den gegenwärtigen Stand der Heideggerforschung über Landes- und Traditionsgrenzen hinweg zu überblicken und zukünftige Forschungstrends zu antizipieren.
Aktualisiert: 2021-12-28
Autor:
Jason W. Alvis,
Andreas Beinsteiner,
Giovanna Caruso,
Diego d'Angelo,
Umut Eldem,
Gregory Floyd,
Francesca Greco,
Lucilla Guidi,
Choong-Su Han,
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